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Essay
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April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
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April 2016
Europa sucht seine Seele
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Axel Ziemkes wunderbare Reise durch die Geschichte der Evolutionsbiologie

Warum stehen so große Geister wie Linné und Darwin ratlos vor der Verwandlung eines simplen Leinkrautpflänzchens in eine »Monsterblume«? Warum lernt eine Ziege, die ohne Vorderbeine geboren wurde, aufrecht zu laufen oder eine Krähe, wie man mit Hilfe der Londoner Taxis harte Nüsse knackt? All diesen und anderen Fragen geht Axel Ziemke in seinem Buch »Alle Schöpfung ist Werk der Natur« in einer kenntnisreichen, klugen und zugleich vergnüglich zu lesenden Reise durch die Geschichte der Evolutionsbiologie nach.

Auf rund 200 Seiten verfolgt der Autor die praktische Feldforschung und Theoriebildung von Carl von Linné, Johann Wolfgang von Goethe, Charles Darwin und Gregor Mendel über den Neodarwinismus, Intelligent Design, das Human Genom Project bis hin zur aktuellen Evolutionären Entwicklungsbiologie.

Ziemke gelingt das Kunststück, durch seine einfache Darstellung komplexer Sachverhalte die moderne Evolutionsbiologie in eine dem Laien verständliche Sprache zu übersetzen, die besonders auch wegen ihres Reichtums an Bildern, Analogien und Vergleichen leicht verständlich und gut lesbar ist. Das Buch ist spannend geschrieben und entwickelt sorgsam Kapitel für Kapitel den Zugang zu seinen zentralen Fragen: Wie lässt sich natürliche Schöpfung denken und erklären? Was sind die Paradigmen und »Mindsets«, die hinter den praktischen Fragen und Forschungsaktivitäten der Akteure stehen? Wie werden ihre Entwürfe – zum Beispiel die Idee des Human Genom Project zur vollständigen Entschlüsselung der menschlichen DNA – dann doch immer wieder enttäuscht, was die Forschung dann dazu veranlasst, wiederum in eine grundlegend andere Richtung zu gehen?

So wird die zentrale Einsicht des Buches, dass nicht die Gene uns lenken, sondern umgekehrt, »auch die Erfahrungen eines Organismus bestimmen, welche Gene der DNA im eigenen Organismus und in dem der eigenen Nachkommen aktiv sind«, nicht einfach kon­statiert, sondern systematisch aus dem Gang der Forschung entwickelt und hergeleitet. Ziemke zitiert in diesem Zusammenhang die amerikanische Biologin Mary Jane West-Eberhard mit dem Satz »Gene führen nicht, sie folgen!« (S. 132).

Neben Ziemkes ebenso aufregenden wie lehrreichen Exkursen in die Welt der historischen und zeitgenössischen Evolutionsbiologie ist das Buch zugleich eine Hommage an Goethe und zeigt dessen erstaunliche Aktualität für die moderne Evolutionsbiologie.

¬ WISSENSCHAFT UND ÄSTHETIK SIND HIER NICHT FREMD, SONDERN BEDINGEN EINANDER. ¬

Ziemke beschreibt, wie sich zentrale Ergebnisse der aktuellen Forschung in wesentlichen Grundannahmen mit wichtigen Annahmen Goethes decken, beispielsweise dessen Hypothese der Gestaltbildung des Tieres aus dem Wirbel, die er durch seine rein phänomenologischen Studien gewann: »Goethe konnte seine Hypothese zur Gestaltbildung des tierischen Organismus aus dem Wirbel als Grundorgan nicht hinreichend belegen – und verwarf sie daher. Erst moderne empirische Befunde legten nahe, dass er mit seiner Hypothese einer grundlegenden Segmentierung, zumindest des Bauplans der Chordatiere, auf der richtigen Spur war.«

Mit Ziemke ist ein als Naturwissenschaftler ausgebildeter Forscher wieder in der Lage, die Natur wie Goethe ästhetisch zu erleben und zu sehen. Keine toten Fakten mehr, keine leblose Strukturanalyse, sondern die Einbettung der Ergebnisse der aktuellen Forschung in einen lebendigen Zusammenhang erwartet den Leser hier. Der Autor kennt sich zum einen bestens mit der Geschichte der Evolutionsbiologie und ihren naturwissenschaftlichen Grundlagen aus. Aber er versteht sie auch in ein anderes Licht zu tauchen und wie Goethe die Natur mit ästhetischen Augen zu sehen. So kann er den ästhetischen und den strukturellen Blick verbinden.

Auch gelingt es dem Autor, Goethes wissenschaftliches Streben aus dessen Naturliebe und Naturerleben zu entwickeln. Wissenschaft und Ästhetik sind hier nicht fremd, sondern bedingen ei­nander. Waren noch Linné und Mendel, Goethes große Vorläufer im Bereich der Naturforschung, durch die Annahme eines natürlichen Schöpfergottes angeregt, der die Welt nach den Regeln göttlicher Vernunft schuf, so ist für ihn die in der Natur wirkende Schönheit selbst als »Freiheit der Erscheinung« das wirkende Prinzip. Die Annahme eines transzendentalen Schöpfergottes ist jetzt nicht mehr nötig, die Phänomene zeigen und erklären sich durch sich selbst. Staunend und überwältigt, wie vor ihm Spinoza und Herder steht Goethe vor diesem so facettenreichen und produktiven Spiel. Es ist dieser ästhetische Impuls, der Goethes Blick auf die Metamorphosen der Organe und Baupläne von Mensch und Tier lenkt und dies ist zweifelsfrei auch Axel Ziemkes Motivation.

Dort, wo sich der Künstler, Wissenschaftler und Pantheist ­Goethe vereinen, ist auch Ziemkes Impuls angesiedelt und so seine Lesart der Evolutionären Entwicklungsbiologie, die die Natur weder als «Werkstück eines außerweltlichen Schöpfergottes» noch als Spielball des Zufalls begreift, sondern als »Selbstorganisation, Selbstschöpfung, Autopoesie«. »Alle Schöpfung ist Werk der Natur«, dieses Zitat Goethes wählt Axel Ziemke daher klug zum Motto seines Buches, das durch seinen ästhetischen Forschungsansatz auch einen interessanten Ansatz zur Vermittlung des Streites zwischen unterschiedlichen Theorieansätzen in der modernen Entwicklungsbiologie zu leisten scheint.

So gesehen können die neuen Sichtweisen, die der Autor in seinem Buch so anschaulich entwickelt und nachvollzieht, die Natur und ihre Phänomene wieder in Schönheit verzaubern, ohne dabei unwissenschaftlich zu sein. Und sie geben den Blick auf eine Wissenschaft frei, die sich wieder von dem Rätsel des Daseins inspirieren und bezaubern lässt.

Author:
Dr. Wolfgang Zumdick
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