Wenn wir Wirksamkeit erfahren

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 24, 2022

Featuring:
Jascha Rohr
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Issue:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wie leben zwischen den Zeiten
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Das Potenzial partizipativer Prozesse 

Jascha Rohr gestaltet seit vielen Jahren partizipative Prozesse in Organisationen, Kommunen und zuletzt auch im nationalen Bürgerrat. Welche Qualitäten unterstützen die Partizipation und wie kann der Schritt zur kokreativen Zusammenarbeit gelingen?

evolve: Wie bist du dazu gekommen, dich mit partizipativen Prozessen zu beschäftigen?

Jascha Rohr: Das kam durch mein Engagement für Nachhaltigkeit und ökologische Gestaltung. Ich habe als Student Ausbildungen in Permakultur gemacht und dann die Permakultur-Akademie in Deutschland gegründet. Dabei ging es mir darum, nachhaltige Lebensräume zu gestalten. Durch diese Arbeit mit intentionalen Gemeinschaften, Öko-Dörfern und Öko-Projekten wurde mir klar, dass Nachhaltigkeit nur dann erreicht werden kann, wenn die Menschen mitgestalten und ein Verständnis von dem ökologischen System bekommen, in dem sie sich bewegen. Das hat mir gezeigt, wie wichtig Partizipation als Mittel für Nachhaltigkeit ist.

e: Welche Voraussetzungen und Prozesse braucht es, um solche partizipativen Räume zu gestalten?

JR: Es kommt auf das Thema, die Fragestellung und den Kontext an. Wir haben über die Jahre ein Feld-Prozess-Modell entwickelt, das aus vier Prozess-Qualitäten besteht. Bildlich stellen wir es als Torus-Modell dar, als einen Baum mit Wurzeln und Stamm, der oben eine runde Schale formt. Jeder Prozess beginnt mit der Qualität der Resonanz: Wurzeln ausstrecken, in die Tiefe gehen, Dinge verstehen und zusammentragen. Wir fragen uns: Wie können wir Resonanz erzeugen? Wie können wir Verbindung, Beziehung schaffen? Und zwar nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen den Dingen, der Natur, den Geschichten, den Kontexten, den Räumen.

Die zweite Qualität ist das Verdichten im Kern des Prozesses. Das ist die Krise, wo Entscheidungen getroffen werden, wo wir durch die Leere gehen, wo eine Transformation stattfindet. Danach beginnt die dritte Phase der Kokreation, die Emergenz, das Feuerwerk, der Blumenstrauß, die neuen Formen, die sich ausbilden, die aus der verdichteten Auseinandersetzung der Krise entstehen. Diese neue Entfaltung öffnet sich nach oben, fällt auf den Boden und nährt wiederum die Wurzeln der Resonanz. Das ist die vierte Phase der Kultivierung, der Umsetzung, des Rituals. Ich erkläre den Prozess in vier Qualitäten, die aufeinander folgen, aber in Wirklichkeit ist es viel dynamischer.

Es gibt immer wieder Resonanz, aber am Anfang eines Prozesses ist sie besonders wichtig. Es gibt immer wieder Krise und Transformation, aber meistens ist das der Kern, der Knackpunkt, durch den man in der Mitte des Prozesses gemeinsam durchmuss. Und an allen Stellen des Prozesses gibt es Kokreation, wenn sich neue Perspektiven öffnen, weil man durch eine Transformation durchgegangen ist. Diese Phasen werden von uns methodisch übersetzt. Dann wird es ganz konkret: Wenn man gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern ein Stadtzentrum entwickelt, was ist hier die Resonanz? Dann gehen wir raus zu einem Beobachtungs-Spaziergang, wir zeichnen, machen Wahrnehmungs-Übungen, führen Kleingruppengespräche über das, was man wahrnimmt. Wenn es um die Kokreation geht, dann wenden wir Innovations-Methoden und Kreativitätstechniken an. Daraus ergibt sich ein begleiteter Prozess, in dem sich im Idealfall generativ etwas entwickelt, eine Lebendigkeit entsteht – gute Lösungen entstehen.

Kokreation ist die Form der Partizipation, wo wir miteinander gestalten und das Neue in die Welt bringen.

e: Wie würdest du Partizipation und Kokreation voneinander unterscheiden?

JR: Es gibt unterschiedliche Intensitäten von Partizipation. Die einfachste Form ist die Information. Der Bürgermeister stellt sich vor seine Bürger und erzählt, was er vorhat. Vielleicht können auch Fragen gestellt werden, aber im Grunde geht es um Information. Das ist ein sehr niedriges Level von Partizipation. Eine zweite Ebene ist die deliberative Partizipation, also die Debatte, der Diskurs, das Miteinander im Gespräch, Meinungen bilden, Empfehlung aussprechen. Ein kognitiver, sprachlich vermittelter Austausch, den Habermas als »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« bezeichnet: Wir reden so lange, bis unsere Vernunft uns vom besseren Argument überzeugt und dadurch finden wir zu gemeinsamen Lösungen. Deliberative Formate vom World Café bis zum Bürgerrat sind momentan »state of the art« in der Partizipation.

Kokreation geht noch einen Schritt weiter. Das ist die Form der Partizipation, wo wir miteinander gestalten, wo wir miteinander kreativ und innovativ werden und das Neue in die Welt bringen. Und zwar auch ganz praktisch, indem wir miteinander planen, entwickeln, entwerfen, Kunst machen. Auf allen Ebenen und in allen Qualitäten, die uns zur Verfügung stehen, gehen wir miteinander in die Auseinandersetzung und den Prozess, sodass eine gemeinsame kollektive Kreativität entsteht und letztendlich zu einem Entwurf führt. Es entsteht ein Modell, ein Prototyp, zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit Laien, mit den entsprechenden Stakeholdern.

e: Kokreation ist ja nicht nur eine Methodik, sondern erfordert auch ein bestimmtes Bewusstsein. Eine ganzheitlichere Teilhabe, um die Wahrnehmung zu schulen und so flexibel zu bleiben, dass man im Prozess auch noch auf das hört, was sich darin ergibt.

JR: Ja, ich spreche dabei auch von Transpersonalität, das ist ähnlich wie die Effekte, die man aus der Aufstellungsarbeit kennt. Dabei erfahre ich mich als Individuum als Aspekt von etwas Größerem, mit dem ich in Resonanz stehe. Es ist immer wieder so, dass Menschen durch eine Auseinandersetzung mit einem Ort, mit einem Thema, mit einem Ökosystem, mit einer Gemeinschaft plötzlich Dinge zum Ausdruck bringen, die über ihr eigenes Sein hinausgehen. Auf diese Weise bezieht man Aspekte in -eine Kokreation ein, die transpersonal oder ökosystemisch sein können. Dabei passiert etwas mit dir persönlich, weil du in so einem kokreativen Prozess eben mehr bist als nur du selbst.

e: Ihr habt vor Kurzem auch den nationalen Bürgerrat mit begleitet. Wie war diese Arbeit für euch?

JR: Es war auf jeden Fall ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung zur Erneuerung unserer Demokratie. Die Bürgerräte, an denen wir beteiligt waren, waren ein inhaltlicher Erfolg und die Prozesse waren spannend und wir konnten viel lernen. Es waren in erster Linie deliberative Formate, auch wenn wir schon versucht haben, kokreative Methodiken einzubringen. 

Der Knackpunkt bei deliberativen Formaten liegt darin, dass ein Papier mit Empfehlungen entsteht. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich die Parteien und die Ministerien daraus bedienen, wenn es in die eigene Agenda passt, aber natürlich unterschlagen sie andere Empfehlungen, die ihnen nicht gefallen. 

In einem nächsten Schritt im Sinne der Kokreation würde ich mir wünschen, dass Bürgerinnen und Bürger tatsächlich reale Maßnahmen gemeinsam entwickeln und in die Umsetzung bringen. Wenn man Empfehlungen abgegeben hat, dann hat man auch oft Verantwortung abgegeben. In einer Kokreation sind auch alle für die Umsetzung verantwortlich. Das ist eine ganz andere Form von Wirksamkeit, von Wirkmächtigkeit. Dann erfahren die Menschen, dass die Zeit, die sie in solche Prozesse investieren, direkte, spürbare Wirkungen entfaltet.  

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Jascha Rohr ist Philosoph, Sozialunternehmer, Entwickler und Moderator partizipativer und kokreativer Gestaltungsprozesse. Er ist Gründer und Geschäftsführer des Instituts für Partizipatives Gestalten und Vorstand der Cocreation Foundation. 

www.partizipativ-gestalten.de | www.cocreation-foundation.org |www.jascha-rohr.de

Author:
Mike Kauschke
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