Wenn Zeit die Wunden nicht heilt

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 17, 2023

Featuring:
Terry Patten
Pawan Gupta
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Issue:
Ausgabe 39/2023
|
July 2023
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Die Narben des Kolonialismus in der Würde der Moderne

Der indische Pädagoge Pawan Gupta und der 2021 verstorbene US-amerikanische integrale Denker Terry Patten trafen sich bei diesem Gespräch über die Auswirkungen von Kolonialisierung, Globalisierung und Moderne auf die Menschen im globalen Westen und Osten zum ersten Mal. Sie hörten einander zu und lernten die Sichtweise des anderen sehen und fühlen. Ein berührender Dialog, der zeigt, welches Potenzial für globale Verständigung im Wunder des Gesprächs liegt.

evolve: Pawan, du hast dich intensiv mit der Wirkung der westlichen Dominanz und insbesondere der englischen Dominanz in ­Indien beschäftigt. Wie siehst du den Einfluss der Globalisierung und der Verwestlichung der südlichen Hemisphäre speziell für Indien?

Pawan Gupta: In Indien spüre ich immer noch die Nachwirkungen aus der Zeit der Kolonialisierung und jetzt der Globalisierung, die die Kolonialisierung in einer anderen Form fortführt. Psychologisch gesehen liegt die Wirkung speziell auf Menschen, die sich selbst als gebildet betrachten, in einem geringen Selbstwertgefühl. Tief innen spüren sie, dass sie anders sein sollten (und nicht, wie sie wirklich sind), dass sie irgendwie westlicher und moderner sein sollten, um den Anforderungen zu entsprechen. Zudem hat der Ansturm der Globalisierung – in dem die Märkte, die Medien und das Internet dieses Selbstverständnis unterstützen – ein Gefühl hinterlassen, dass ihre eigene Kultur nicht gut genug ist, dass sie alles zurücklassen sollten, um »modern« zu werden.

Der Erfahrung des Anderen begegnen

Terry Patten: Pawan, was du sagst, berührt mich, weil es ein Bericht über Menschen ist, die von ihrer eigenen Autorität abgeschnitten wurden. In der integralen Philosophie werden Strukturen des Bewusstseins beschrieben – traditionelle, moderne und postmoderne Strukturen des Bewusstseins. In diesem Zusammenhang wird der Kolonialismus oft mit der Moderne verbunden, da der Kolonialismus in den Anfängen des modernen rationalen Denkens begann, wodurch die Aufklärung, die wissenschaftliche Revolution und die industrielle Revolution »importiert« wurden. Einige Ideen der Moderne sind sehr schön und wahr, wie zum Beispiel die Idee von Gleichheit und die universellen Menschenrechte. Ich fürchte aber, dass es eine Gegenreaktion auf die gesunden Teile der Moderne geben könnte, weil sie als eine Religion der Eroberer oder Unterdrücker erlebt wurde, die den Menschen aufgezwungen wurde.

»Wir können das Unrecht der Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können zusammen menschlich sein.«

Aber du beschreibst etwas anderes. Es hat mit einem kulturellen bzw. einem kollektiven Trauma zu tun, denn die kolonialisierten Menschen leiden an einem kollektiven Trauma. Und die kolonialisierenden Kulturen tragen einen kollektiven Schatten mit sich. Die Verletzungen, die denen angetan wurden, die von unseren Vorfahren ausgebeutet wurden, tragen wir in uns. Aber wir verstehen nicht wirklich, wie hoch der Preis ist, den die Menschen in der kolonialisierten Welt bezahlen mussten – und immer noch bezahlen. Für eine wirkliche Begegnung müssen wir uns für die Erfahrungen auf der anderen Seite dieser Geschichte öffnen. Wir können das Unrecht der Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können zusammen menschlich sein.

PG: Unbedingt. Ich denke, das erfordert sehr viel Empathie. Die gebildeten Schichten in Indien haben einen bestimmten Bezugsrahmen, durch den sie sogar ihre eigenen Mitbürger sehen, die Landbevölkerung oder die »Ungebildeten«. Die westlichen Denkkategorien dominieren die indische Intelligenzija. Sie sehen die Welt, ihr eigenes Volk und ihre eigenen Probleme in den Kategorien der westlichen Sozialwissenschaften.

40 Jahre lang habe ich in indischen Dörfern gearbeitet. Nur langsam begann ich zu verstehen, dass normale, ungebildete Inder die Welt ganz anders sehen. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Dharma. Es ist keine Religion. Dieses Konzept existiert nicht im westlichen Geist. Aber der normale ungebildete Inder tut im Laufe des Tages vieles, weil er glaubt, dass es sein Dharma ist. Dabei gibt es keinen Gedanken an finanziellen oder ökonomischen Nutzen, keinen Gedanken daran, was die anderen denken könnten (er ist nicht selbstbezogen); es geht allein darum, gemäß dem Dharma das Richtige zu tun.

Wenn jemand dieser Person dabei zusieht, wird er es in Beziehung zu modernen Konzepten von Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit verstehen, aber er ist unfähig, die wahren Motive zu erkennen. Grundsätzlich sind die Kategorien, aus denen heraus ein normaler Inder handelt, den Kategorien von gebildeten Indern völlig fremd geworden. Zwischen den beiden gibt es eine vollständige Trennung. Das ist ein riesiges Problem, weil diese sogenannten ungebildeten Inder unfähig sind, ihre Probleme anzusprechen. Sie sind auch sehr gehemmt, sie können kein Englisch und sie werden durch die anderen Klassen eingeschüchtert. Dadurch entsteht kaum eine ehrliche, authentische Kommunikation zwischen diesen Menschen und uns, den Gebildeten.

Unsere Gebildeten wollen nicht mehr ihre eigenen Sprachen sprechen. In ­Indien sterben die Dialekte sehr schnell aus. Ich schätze, dass in einem Jahr um die 20 Dialekte verschwinden, weil die jungen Menschen sie nicht mehr sprechen wollen. Und damit verschwindet viel lokales Wissen – über Wetterbedingungen, landwirtschaftliche Anbaumethoden, Nahrung, Gesundheit. Denn dieses Wissen ist in Redewendungen und Ausdrucksweisen dieser Dialekte, in volkstümliche Erzählungen und Märchen eingebettet. Das geschieht sehr, sehr schnell und es gibt kaum ein Bewusstsein für die Dringlichkeit dieses Problems.

Dialog des Mitgefühls

e: Pawan, wenn ich dich richtig verstehe, sagst du, dass Indien gewissermaßen seine Seele verliert, indem es seine Sprachen und eigenen Denkkategorien verliert. Ebenso geht eine bestimmte Weisheit verloren, die in Indien über die Jahrhunderte entstanden ist und im traditionellen Denken und in der traditionellen Sprache bewahrt wird. Und das wird von den Menschen nicht einmal gesehen, die hauptsächlich in einem Denksystem denken, das aus Europa oder den USA stammt. Ein möglicher Heilungsprozess zwischen den modernen Kategorien und der Weisheit der indischen Kultur kann also nur beginnen, wenn wir zuerst einmal wahrnehmen, dass hier etwas stirbt.

Was denkst du, Terry, zu dem, was Pawan hier ausführt? Aus einer integralen Perspektive gibt es die Würde der Moderne, die etwas mit den Werten wie Gleichheit und Meinungsfreiheit und dem demokratischen Prozess zu tun hat. Wie antwortest du vor diesem Hintergrund auf die Sorgen, die Pawan hier äußert?

TP: Ich denke, das vererbte Unrecht und die Traumata sind so tief, dass wir das Wirrwarr von Traumata und Karma niemals auflösen können. Aber wenn wir an einen Punkt gekommen sind, wo wir füreinander echte Fürsorge, ehrlichen Respekt und mitfühlende Wertschätzung empfinden, können wir die Grundlage für eine andere Form der Begegnung finden.

Ich bin überzeugt, dass wir einen rationalen Diskurs brauchen, bei dem uns einige der Werkzeuge, die in der Moderne entstanden sind, unterstützen können. Die Würde der Moderne besteht darin, dass wir eine Grundlage für einen Dialog in einer gemeinsamen Sprache haben. Moderne rationale Diskurse können uns helfen, unsere unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen zu überbrücken, uns gegenseitig zuzuhören und den Unterschieden in unseren Erfahrungen Rechnung zu tragen. Ich denke, wir brauchen ein sehr weites, umfassendes Bewusstsein, in dem es Raum für viele unterschiedliche Ebenen der Realität gibt und das von Mitgefühl erfüllt ist, damit wir uns inmitten all der Unterschiede begegnen können.

PG: Ich finde, dass die Denkweise der modernen Wissenschaft bei vielen gebildeten Menschen zu einer tiefen Arroganz geführt hat. Alles, was nicht als »wissenschaftlich« bezeichnet wird, nehmen sie nicht als real wahr, als nicht gut genug, als abergläubisch und schlecht. Wie demütig die Person auch sein mag, wenn er oder sie ein Gespräch mit einer normalen Person in Indien führt, kann er oder sie sich kaum verständigen, weil die Wörter, die Denkkategorien, die Weltsicht so unterschiedlich sind.

Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass der gewöhnliche Inder eine andere Art des Sprechens hat. Er spricht nicht in einem geschäftlichen, linearen Interview-Stil, wo man nach dem Namen fragt und antwortet, indem man seinen Namen sagt. Oder wenn man fragt, woher er kommt, erhält man als Antwort: »Ich komme aus dieser oder jener Stadt.« Diese Form des Gesprächs gibt es für ihn nicht. Die Welt des normalen Inders besteht vielmehr aus Geschichtenerzählen, die Dinge werden aufeinander bezogen und miteinander verbunden, man sucht nach den Mustern – es ist eine poetische Welt.

»Wenn wir wirklich tief in die Meditation gehen, können wir herausfinden, dass sich Werte aus uns heraus entfalten, weil sie Teil eines jeden Menschen sind.«

Diese zwei Welten sind so verschieden, dass sich auch die Gesprächsstile sehr wesentlich voneinander unterscheiden. Ich kann einige Beispiele für dieses traditionelle Glaubenssystem geben. Unsere Bauern glauben, wenn die Krähe im Februar/März ein Nest in der Mitte des Baumes baut, wird es im Juni/Juli während des Monsuns reichlich Niederschlag geben. Wenn die Krähe aber ihr Nest in der Spitze des Baumes baut, wo sehr wenig Blätter sind, gibt es in diesem Jahr wenig oder keinen Regen. Wir haben diesen Glauben in unseren Schulen untersucht. Wir machten Notizen und beobachteten, ob der Monsunregen in diesem speziellen Jahr gut oder schlecht ausfiel, und fanden eine hohe Korrelation. Ein moderner wissenschaftlicher Mensch würde sagen: »Wie ist das möglich?« Während der Bauer vermutlich den Zusammenhang zwischen den zwei Ereignissen beobachtet hat, gibt es für unsere moderne Vorstellung keinen Zusammenhang. Der traditionelle Mensch erkennt diese Zusammenhänge, erkennt Muster und lebt sein Leben entsprechend.

TP: Wir leben in einer Welt, in der die linearen westlichen Wissenschaftsmethoden unsere Politik und Wirtschaft bestimmen, und es besteht eine Marginalisierung dieses traditionellen Wissens, das du hier beschreibst. Ich denke, dass Menschen aus dem Westen einen Respekt vor dieser Art, die Welt zu verstehen, finden und auch in sich selbst diese Fähigkeiten entwickeln können. Aber sie werden es trotzdem auf der Basis der westlichen Logik verstehen. Ich glaube nicht, dass ich mich wirklich in dieses traditionelle Denken hineinversetzen und zu einem Wissen kommen kann, das nicht durch die rationale Wissenschaft beeinflusst ist. Es gibt einen unüberbrückbaren Graben zwischen mir und einem Dorfbewohner in Indien; trotzdem kann ich wertschätzen, dass es in der Perspektive dieses Menschen etwas Wertvolles gibt. Größere Möglichkeiten für den Dialog sehe ich mit dir, einem Englisch sprechenden gebildeten Menschen, der mit meiner Erkenntnisweise etwas anfangen kann. Hier gibt es eine Menge Brücken, die wir bauen können; ich habe Interesse an einem Dialog über die Aspekte deiner Erfahrung und die Nachwirkungen des Kolonialismus.

In den USA bemerke ich, dass das Bewusstsein für die Versklavung der afrikanischen Amerikaner und unseren Genozid an den indigenen Amerikanern als eine untilgbare Sünde wahrgenommen werden kann, als ein Graben, der unüberwindbar ist. Aber in diesem Moment sind wir drei hier zusammen, wollen uns treffen und ehrlich der Menschlichkeit des anderen begegnen. Ich denke, wir müssen das Karma jetzt durchschneiden und unseren Weg in die Brüderlichkeit finden, wo unser Respekt für die Menschlichkeit des anderen uns ermöglicht, uns gemeinsam über die Wirklichkeit zu verständigen. Damit wir uns soweit auf die Wirklichkeit verständigen können, dass wir einen gemeinsamen Weg finden und füreinander Verbündete sein können. Als eine Kraft der Heilung für die Fragmentierungen unserer Kulturen, unserer Gesellschaften und unserer Wirtschaftssysteme, indem wir wieder eine intuitive Wahrnehmung der Ganzheit in unsere Beziehungen bringen.

»Die Welt des normalen Inders besteht aus Geschichtenerzählen – es ist eine poetische Welt.«

Im lebendigen Wir

e: Danke, Terry. Das ist eine gute Überleitung zur letzten Frage, die ich stellen möchte: Wie können wir diese Kluft überbrücken und die Wunden heilen? Pawan, was würdest du aus deiner Perspektive auf das antworten, was Terry gerade in das Gespräch einbracht hat?

PG: Ich denke an etwas, das vielleicht aus einer tiefen spirituellen Praxis kommen kann: eine aufrichtige Demut, dass es verschiedene Wege gibt, auf dieselbe Realität zu schauen. Damit einher geht ein Respekt für den anderen. Vielleicht müssen wir uns auch darüber verständigen, was Werte eigentlich sind. Kommen Werte von außen oder sind sie dem Menschen angeboren? Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle Menschen im Grunde gleich geschaffen sind und letztendlich alle Werte ein Teil von uns sind. In gewisser Weise entstehen Werte durch die Kultur, aber wenn wir wirklich tief in die Meditation gehen, können wir herausfinden, dass sich Werte aus uns heraus entfalten können, weil sie in uns sind; sie sind ein Teil eines jeden Menschen. Wenn wir in der Erziehung Wege finden, diesen Aspekt des Menschseins zu entfalten, könnten wir vielleicht eine gemeinsame Basis zwischen modernen und traditionellen Menschen finden.

TP: Damit sagst du, dass uns das wirklich Wertvolle innewohnt. Sicher gibt es auch wertvolle Fähigkeiten, die wir durch Erziehung, Arbeit und Kreativität verwirklichen können. Das wollen wir nicht abwerten, aber der Fokus auf diese Fähigkeiten kann unseren inneren Wert, der unserem Menschsein innewohnt, verdecken.

Pawan, bei deinen Ausführungen berührt mich besonders, dass du Zeugnis – ein demütiges und mitfühlendes Zeugnis – ablegst für Werte, die sich selbst nicht gegen den Einfluss der Marktwirtschaft und der wissenschaftlichen Weltsicht schützen können. Weil du viel Zeit in den Dörfern verbringst, hast du gelernt, die Menschen dort zu respektieren und wertzuschätzen. Du kommunizierst deinen Respekt in einer komplexeren Sprache, als sie es tun könnten. Und du sprichst mit mir als Amerikaner und dein Mitgefühl bildet eine Brücke, damit mein Mitgefühl diese Menschen umfassen kann, deren Sprache ich nicht verstehe.

In solch einem Prozess liegt das Potenzial einer kontinuierlichen Öffnung. Es entsteht ein lebendiges zwischenmenschliches Feld – ein »Wir«. In diesem Wir komme ich in Resonanz mit deinem Mitgefühl und Respekt für die Dorfbewohner in Indien. Ich hoffe, dass du auch meine gefühlte Offenheit spüren kannst. Diese Begegnung selbst ist ein Ausdruck von Ganzheit und Heilung. Vielleicht ein Tropfen Güte, ein tiefes gegenseitiges Wertschätzen, aus dem ein Prozess der Begegnung und Heilung beginnen kann. ■

Das Gespräch führte Thomas Steininger für die Ausgabe 16/2017.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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