Werden und Zugehörigkeit

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Published On:

April 17, 2023

Featuring:
Nikola Jurisic’
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Issue:
Ausgabe 38/2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Nikola Jurisic’ Weg zur Vision von der Heilung des Balkans

Nikola Jurisic wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan geboren, am Ende einer vierzigjährigen Friedensperiode. Doch das Land, in dem er geboren wurde, gibt es heute nicht mehr, denn damals arbeiteten und lebten die Menschen zusammen in einem Gefühl der Einheit. Nikola beschreibt das Jugoslawien des Jahres 1981 als eine einzigartige fortschrittliche Version des Sozialismus, die »halb Kommunismus und halb Kapitalismus« war. Als Kind fühlte er sich aufgehoben in einem Gefühl der Gleichheit und des sozialen Zusammenhalts. »Jeder hatte genug, aber niemand hatte zu viel. Wir saßen alle im selben Boot.« Und obwohl es im Leben von Nikola bald eine Reihe einschneidender Wendungen geben würde, blieben diese Werte für ihn wichtig.

Der Beginn des Balkankrieges zeichnete sich ab, als Nikola 10 Jahre alt war. 1989 gelang der Familie die Flucht nach Singapur – der ersten von vielen Stationen einer aufregenden Zeit für ­Nikola. Er musste sein Zuhause und seine Großeltern zurücklassen, doch in vier Jahren Singapur, vier Jahren Kanada, fünf Jahren London und zwei Jahren in der Karibik konnte er Erfahrungen darin sammeln, was es bedeutet, auf verschiedenen Kontinenten anders als die anderen zu sein. Die große Bandbreite der menschlichen Gesellschaft und die Unterschiede zwischen fortschrittlichen Städten wie Singapur und ländlichen Gebieten nahe Ottawa beeindruckten Nikola tief und weckten in ihm den Wunsch, zu reisen und frei die Welt zu erkunden.

Mit 17 Jahren beendete er die Schule, wollte die akademischen Grenzen sprengen, ein aktives Leben führen und die Welt entdecken. »Aber meine innere Stimme war nicht laut genug, um die Loyalität zur Familie zu übertönen.« Und so besuchte Nikola, auch wenn ihm die Entscheidung schwerfiel, die London School of Economics. Es folgten Jahre emotionaler und körperlicher Schmerzen. »Mein ganzer Körper rebellierte«, sagt er heute. Die Schmerzen infolge eines Karpaltunnelsyndroms waren so quälend, dass Nikola lernte, mit der linken Hand zu schreiben. Er ging zu vielen Spezialisten und nahm zahlreiche Medikamente – ohne Erfolg. Zu der Zeit, als er seinen Abschluss in Management machte, teilte man ihm mit, dass er sich entweder einer Operation unterziehen oder für den Rest seines Lebens starke Schmerzmittel einnehmen müsse. Er machte sich stattdessen auf den Weg in die Karibik.

Endlich hatte Nikola das Gefühl, die Pflicht gegenüber seiner Familie erfüllt zu haben. Nun konnte er seinem Gespür folgen. In der Karibik lebte er ohne Telefon oder Computer, schwamm jeden Tag und begann zu meditieren. »Ich nannte es nicht so, ich saß einfach mit geschlossenen Augen am Strand und ging in die Kontemplation«, sagt er.

Ob es Meditation war oder nicht, was Nikola da machte, es führte ihn zu einer kraftvollen Erfahrung der Einheit. Als er eines Tages am Strand saß, hatte er das Gefühl, sich aufzulösen, sich mit jedem Tropfen im Ozean, mit dem gesamten Planeten zu vereinen – sein Körper ein Fluss ohne physische Grenzen. »Ich dachte: Oh, endlich! Ich wusste, dies ist die Wahrheit, denn irgendwie hatte ich es schon immer gewusst.«

»Die Lebensreise eines jeden Menschen besteht aus längeren Phasen von Expansion und Integration.«

Es war der Beginn seiner Selbstheilung, und innerhalb eines Jahres verschwanden seine Schmerzen fast vollständig. Doch Nikola spürte, dass er nicht auf diesem Planeten war, um ein beschauliches Leben auf einer Insel in der Karibik zu führen. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er auf den Balkan zurückkehren müsse, und er folgte ihr. Es sollte zunächst nur ein Besuch werden – doch er blieb. »Die Lebensreise eines jeden Menschen besteht aus längeren Phasen von Expansion und Integration«, sagt er. »Ein Tanz von Werden und Zugehörigkeit, Werden und Zugehörigkeit. Und das war meine erste Phase der Integration.« Es war 2003, drei Jahre nach dem offiziellen Ende des Balkankrieges, und Nikola fand seine Heimat völlig anders vor, als er sie vor 14 Jahren verlassen hatte. Er hatte den Eindruck, dass sich die Kultur zurückentwickelt hatte: Zehn Jahre Sanktionen, Hyperinflation (Geldscheine mit 21 Nullstellen waren die Norm) und Bombardements hatten eine Kultur der Angst, des Misstrauens und der Negativität verbreitet. »Das Gefüge der Gesellschaft war zerrissen«, sagt er.

Niemand verstand, warum Nikola in ein zerstörtes Land zurückkehrte, in dem er nicht einmal einen Job finden konnte. Nikola wusste selbst nicht warum, aber irgendetwas hielt ihn dort fest. Er hatte eine Reihe schlechter Jobs, keiner war erfüllend, und keiner passte so recht. Dann traf Nikola zufällig auf eine Gruppe Mitarbeiter von ­McKinsey, einer weltweit tätigen Firma für Unternehmensberatung. Nikola verstand sich gut mit den Leuten. Man erzählte ihm von einer freien Stelle im Bereich Systemischer Wandel und nach einem Vorstellungsgespräch wurde er in Budapest als Unternehmensanalytiker eingestellt.

In den kommenden Jahrzehnten arbeitete Nikola mit über 200 Unternehmen aus aller Welt zusammen. Jedem dieser Unternehmen ging es, wie er sagt, nur um Wachstum und Geld. Während dieser zweiten Expansionsphase konzentrierte sich Nikola wieder nur auf Leistung. »Es war wie ein Dampfkochtopf«, sagt er. »Eine Zeit lang war ich froh, von intelligenten, faszinierenden Menschen umgeben zu sein und die Möglichkeit zu haben, meine Intelligenz zu testen.« Aber ­Nikola konnte die Wahrheit, die ihm vor Augen stand, nicht länger leugnen: ­Die Unternehmenswelt ist gierig und unersättlich, Punkt. »Als ich auf einer relativ hohen Ebene im Zentrum des globalen Kapitalismus arbeitete, wurde mir klar, dass die kurzfristige finanzielle Leistung dort Vorrang vor allem anderen hatte. Ich passte nicht in dieses System, und als ich den Glauben daran verlor, dass daraus eine wirkliche Ganzheit entstehen könnte, wurde mir klar, dass ich etwas ändern musste.«

Nikola war bereit, sich wieder zu integrieren, und das bedeutete, dass er das, was er gelernt hatte, in seine Heimat auf dem Balkan zurückbringen musste. Nun war er in der Lage, sich den Fragen zu stellen, die er jahrzehntelang mit sich herumgetragen hatte, Fragen, die tief in seinen Erfahrungen mit dem traumatischen Wandel in seiner Heimat wurzelten: Wie kann man ein kollektives Trauma verarbeiten, um eine Gesellschaft aufzubauen, die auf zeitlosen menschlichen Werten wie Fairness und Liebe beruht?

»Ich möchte wissen«, sagt er, »wie Energie, die in Traumata gebunden ist, frei werden und sich wandeln kann, damit wir damit aufhören können, die Vergangenheit zu wiederholen, während wir sie Zukunft nennen. Ich wurde auf dem Balkan geboren, und ich trage die tiefe Erfahrung in mir, wie dieser Ort sein kann – und ich kann wahrnehmen, wie die Energie dort jetzt festgefahren ist.« Den größten Beitrag, den Nikola in seinem Leben leisten möchte, ist, herauszufinden, wie man diese festgefahrene Energie umwandeln, wie die allgegenwärtige Liebe und Einheit, die seine Heimat einst kannte, wieder lebendig werden kann. Seine Organisation Transfiguration Advisory hat Pläne für den Bau eines Retreat-Zentrums für kollektive Heilung auf dem Balkan. »Was mich antreibt, ist das Erfahren der Ganzheit«, sagt er und seine Augen funkeln. »Und ich weiß, dass das möglich ist.«

Author:
Miranda Perrone
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