Wetiko

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

November 6, 2020

Featuring:
Martin Winiecki
Murray Bookchin
Paul Levy
Dieter Duhm
Lynn Margulis
Aristoteles
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Was heilt die Krankheit unserer Zivilisation?

Im Heilungsbiotop Tamera werden neue Weg des Zusammenlebens erprobt, um herauszufinden, wie wir als Menschen friedlich, respektvoll miteinander und mit der Erde umgehen können. Martin Winiecki lebt seit vielen Jahren in Tamera und engagiert sich im Aufbau eines Netzwerkes für einen spirituellen Aktivismus. Wir sprachen mit ihm über die Geisteshaltungen, die unser Verstehen und Gestalten der Welt in die gegenwärtigen Krisen geführt haben und wie wir zur Heilung unseres Zusammenlebens finden können.

evolve: Die Art und Weise, wie wir als Einzelne, als Gemeinschaften, aber auch als Gesellschaft einen Sinn im Leben finden können, ist momentan sehr infrage gestellt. Wir leben in einer Akkumulation von Krisen, z. B. die Klimakrise, die sozialen Krisen oder die Corona-Krise. Wo siehst du Ansätze, um dieses Geschehen sinnvoll einzuordnen oder zu verstehen?

Martin Winiecki: Ich sehe heute zuallererst eine große Verdrängung der Krisen, der ökologischen Krise oder der sozialen Krisen, die real stattfinden und existenziell bedrohlich sind. Ein Grund für diese Verdrängung ist, dass diese Krisen in starkem Widerspruch zu unseren kulturellen Idealen und Mythen stehen. Die Klimakrise dürfte es in einem Mythos des zivilisatorischen Fortschritts, in dem wir in der westlichen Kultur aufgewachsen sind, gar nicht geben.

Wir müssen die Mythen, denen wir folgen, erkennen. Diese grundlegenden kulturellen Bilder sind wie Brillen, durch die wir die Welt verstehen und mit ihr in Kontakt treten. Die Sinnkrise unserer Zeit hat auf jeden Fall mit einer immer größeren Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und den Mythen zu tun, unter deren Einfluss wir das Leben anschauen.

Moderne Mythen

e: Welche Mythen sind das?

MW: Da ist einmal unser anthropozentrisches Weltbild, in dem der Mensch als dieses außerordentliche Wesen über der Natur, über der Schöpfung steht. Wir verstehen uns vor allem als ein Wesen, das Ansprüche und Rechte hat, anstatt dem Leben gegenüber Verpflichtungen zu haben, wie es in vielen indigenen Kulturen der Fall ist.

Damit im Zusammenhang steht der Mythos des Fortschritts: Je länger sich die Zivilisation entwickelt, umso besser wird das Leben, umso mehr Probleme können wir meistern. Je mehr wir die Natur erobern, uns ihre Geheimnisse aneignen, je mehr wir sie vermessen und verstehen, umso glorreicher wird die menschliche Zivilisation sein in der Verbreitung ihres Reichtums, in der Überwindung von Armut und der Lösung aller Probleme.

Heute sehen wir, dass daran etwas fundamental falsch ist. Trotzdem leben wir in einem System, das immer noch so tut, als könne es die Lösungen für die Probleme, die es selbst geschaffen hat, mit denselben Mitteln finden. Unsere Gedanken über die Wirklichkeit stimmen nicht mehr mit der Realität überein. Und deswegen laufen wir innerlich leer.

Es ist auch eine Krise unserer Kommunikationsfähigkeit, unserer Fähigkeit, mit der Welt und miteinander in wirklichem Austausch zu stehen, in authentischem Kontakt zu sein. Wir würden die Erde nicht auf diese Weise ausbeuten und missbrauchen können, wenn wir unter Menschen nicht Ausbeutung und Missbrauch erleben würden. Wenn es unter Menschen vollen Kontakt, wirkliche Akzeptanz und echtes Vertrauen gäbe, dann kämen wir nicht auf den Gedanken, die Natur zu objektivieren und ihr ihren lebendigen Charakter abzusprechen. Wir verlieren den Sinn, wenn wir den Kontakt zu der Welt, in der wir leben, einbüßen.

UNSERE GEDANKEN ÜBER DIE WIRKLICHKEIT STIMMEN NICHT MEHR MIT DER REALITÄT ÜBEREIN. 

Ein Grundelement für solch einen Kontakt ist Vertrauen, und das hat stark mit der ganzen Thematik von Liebe und Eros zu tun. Sind wir in der Lage, miteinander den sinnlichen und liebenden Kontakt herzustellen, nach dem wir uns sehnen, oder stoßen wir an Angst-Schranken, wo die Kommunikation und unsere Fähigkeit, uns auszudrücken, zusammenbrechen? Das ist nicht nur eine persönliche, sondern vor allem eine gesellschaftliche Frage. Um Sinn in einer Zeit existenzieller Bedrohungen zu finden, sind wir auch aufgerufen, die Angst-Schranken und unsere Unfähigkeiten zur Kommunikation im Umgang miteinander zu erkennen und mit Bewusstsein zu durchleuchten, indem wir neue gesellschaftliche Umfelder von Wahrheit und Vertrauen schaffen, in denen echter Kontakt unter Menschen wieder möglich wird.

Eine Krise des Vertrauens

e: Diese Krise der Kommunikation und des Vertrauens ist aber nicht neu, oder?

MW: Die Ursprünge reichen sehr weit zurück. Die Logik, mit der Gesellschaften unter einem Paradigma von Macht und kapitalistischer Ökonomisierung aufgebaut wurden, passt nicht mit den Grundprinzipien von Gemeinschaft und Kooperation zusammen, die Vertrauen, Verständigung und Liebe unter Menschen ermöglichen würden. Der Öko-­Anarchist Murray ­Bookchin hat gesagt, dass es in der Natur von totalitären Systemen liegt, dass sie immer tiefer in die menschliche Beziehung eindringen. Und kein System hat es geschafft, so tief in die Zwischenmenschlichkeit einzudringen wie der Kapitalismus. Er beschreibt sehr eindrücklich, wie in unseren Gesellschaften die menschliche Beziehung kommodifiziert, also zur Ware gemacht wurde. Wenn wir die Welt in kommerziellen Beziehungen wahrnehmen, zerstören wir unsere Zwischenmenschlichkeit.

Auf der einen Seite steht das Paradigma von Macht und damit von Angst und Trennung. Auf der anderen Seite das Paradigma von Vertrauen und Wahrhaftigkeit. Wenn wir Menschen regierbar machen wollen, müssen wir sie voneinander trennen. In ursprünglichen Stammesgesellschaften ging es um die Einbettung des Einzelnen und einzelner Lebenszusammenhänge in das größere Ganze. Als wir in den patriarchalen Kulturen begannen, die Einzelnen aus der Gemeinschaft herauszulösen, war eine der Folgen die systematische Zerstörung der Liebe, des Weiblichen und des Erotischen. Dadurch bildete sich im Inneren der Menschen eine tiefe Trennungsangst, mit der wir heute wieder konfrontiert sind, wenn wir uns für Vertrauen und Liebe öffnen wollen. Deshalb beruht unser Leben stark auf Angst-Abwehr, wir umgehen die heißen Zonen der Sehnsucht und des Schmerzes. Deshalb bricht die Kommunikation unter Menschen oft ab. Wenn Wahrheit unter Menschen nicht möglich ist, braucht man Ideologien oder Gegner, um Gemeinsamkeit herzustellen. Je stärker das Klima der Angst, umso größer die Polarisierung der Gesellschaft.

Die systemische Wende

e: In deinen Artikeln verwendest du einen Begriff, der aus den nordamerikanischen indigenen Kulturen stammt und sich auf unsere europäische Kultur bezieht: Wetiko. Hat das, was wir hier ansprechen, auch mit Wetiko zu tun?

MW: Wörtlich übersetzt bedeutet Wetiko in der Sprache der Algonkin Kannibalismus. Er wird von verschiedenen indigenen Völkern Nordamerikas benutzt, um eine geistige und seelische Krankheit bei Menschen zu beschreiben, die aus dem Zusammenhang der Gemeinschaft herausgefallen sind. Sie legen ein egoistisches oder egomanisches Verhalten an den Tag, wodurch sie nicht mehr auf das Wohl der Gemeinschaft und der Schöpfung ausgerichtet sind. Ihr Fokus richtet sich auf die Maximierung ihres Eigeninteresses oder ihres persönlichen Profits.

Wir verlieren den Sinn, wenn wir den Kontakt zu der Welt, in der wir leben, einbüßen.

Ich halte es für einen sehr relevanten Begriff, wenn wir uns über den nötigen Systemwechsel Gedanken machen: Welche systemische Wende ist nötig, um eine Antwort auf die existenziellen Krisen unserer Zeit zu finden? In dieser Analyse greift der Begriff Kapitalismus zu kurz, denn hinter den globalen Krisen stehen nicht nur ökonomische Faktoren. Mit Wetiko wird ein größerer Verständnisrahmen gefasst, weil er die innere Krankheit benennt, die sich dann im Äußeren in ausbeuterischen Systemen manifestiert.

Der amerikanische Autor Paul Levy erklärt, dass Wetiko auch eine Krankheit der Vorstellungskraft, der Imagination, beschreibt. Im Zusammenhang mit der Quantenphysik zeigt er auf, dass wir nicht nur passive Beobachter von Wirklichkeiten sind. Die Welt ist nicht »objektiv«, in dem Sinn, dass sie von uns und unseren »subjektiven« Gedanken getrennt existiert, im Gegenteil: Wir sind durch unsere Gedanken und Taten ständig an der Erzeugung der Wirklichkeit beteiligt. Wetiko hüllt uns in die Illusion ein, dass wir von der Welt fundamental getrennte Wesen sind, wodurch wir uns die Welt so vorstellen, als existierte sie objektiv und unabhängig von uns. Dadurch erzeugen wir eine Welt der Trennung. Unsere Vorstellung von Trennung erzeugt also eine Vorstellung, die unser Eingebundensein nicht mehr wahrnimmt und unsere Vorstellungskraft als machtlos erscheinen lässt. Wir projizieren die Trennung auf eine Welt, in der aber zuinnerst alles mit allem verbunden ist. Wenn wir diesen projektiven Charakter von Wetiko verstehen, können wir das Heilmittel finden, das in der Krankheit verschlüsselt liegt.

e: Was ist das Heilmittel?

MW: Um in unserer paradoxen Welt sinnvoll zu navigieren, brauchen wir eine Art non-dualistisches Denken, in dem wir die Zuspitzung von Krankheit und Trennung und gleichzeitig auch Heilung als einen parallelen Vorgang sehen können. Das ist auch die Bedeutung des Wortes Apokalypse: einerseits die Katastrophe, andererseits eine Offenbarung, das Öffnen des Schleiers, der vor der Wirklichkeit liegt. Durch die Krisen, durch den Schmerz der Welt wirkt auch ein Impuls der wachsenden Anteilnahme und Empathie. Anteilnahme ist ein wirkliches Erkennen zwischen Menschen und allen Wesen.

In der Zuspitzung der Matrix der Trennung gibt es paradoxerweise auch die Momente, wo auf einmal der Vorhang aufreißt und wir im Leiden der Welt das Leben erkennen, zu dem wir selbst gehören. Wir sind Teil derselben Lebensfamilie. Daraus erwächst der Wille, nicht mehr zuzuschauen und das eigene Leben für die Befreiung des Lebens überhaupt einzusetzen. Das Heilmittel liegt in der Überwindung der Gleichgültigkeit, dem unbedingten Willen für die Heilung der Erde.

Wir können in den Ereignissen außerhalb von uns nur teilweise einen Sinn finden. Es ist immer auch die Frage, wie weit wir selbst zur Verwirklichung der nötigen globalen Veränderungen beitragen.

Ob wir Wetiko heilen können, entscheidet sich auch daran, ob Gruppen von Menschen bereit sind, in die Tiefen der Selbstveränderung und Wahrheit einzutreten, wo sie die Matrix der Trennung tatsächlich durchbrechen. Mit anderen Worten: ob sie die Entscheidung treffen, heilende Gemeinschafts-Organismen aufzubauen, die es Gruppen ermöglichen, die Angst-Schranken zu durchschauen und in reales Vertrauen zu transformieren.

Die Sehnsucht des Herzens

e: Wie können wir diese Sehnsucht des Herzens ernst nehmen, ohne in New-Age-Fantasien abzugleiten? Wie können wir die Welt gleichzeitig in all ihren Nuancen und Schattenseiten ernst nehmen?

MW: Ein Aspekt der Zuspitzung von Wetiko ist die Demaskierung. Wenn wir auf Hass, Trennung und Angst mit ebensolchen Empfindungen reagieren, dann leben wir in der gleichen Matrix. Donald Trump löst deshalb so viele Reaktionen aus, weil er auf einer emotionalen Ebene sowohl in seinen Fans als auch in seinen Gegnern etwas aktiviert, was auf einen kollektiven Schatten hindeutet. Wenn wir als Menschen in unserer Negativität darauf reagieren, dann füttern wir ein emotionales Massenphänomen. Wir können zwar auf einer un-verkörperten New-Age-Lichtwelle reiten und den Schatten des kollektiven Traumas und der realen Methoden des bestehenden Systems verdrängen, sind dadurch aber auch anfällig für genau diesen Schatten. Beim QAnon-Phänomen sehen wir, wie viele auch spirituelle Menschen auf eine ganz perfide polarisierende Propagandastrategie hereinfallen, weil ihre Spiritualität den Schattenaspekt ausklammert, also die Strukturen von Gewalt und Angst verdrängt, die wir über Jahrtausende in einer patriarchalen Geschichte aufgebaut haben.

WENN WIR DIE WELT IN KOMMERZIELLEN BEZIEHUNGEN WAHRNEHMEN, ZERSTÖREN WIR UNSERE ZWISCHENMENSCHLICHKEIT. 

Gleichzeitig können wir nur so tief in das Trauma hineinschauen, wie wir auch die Perspektive einer möglichen Heilung kennen. Dieter Duhm, der Mitgründer von Tamera, spricht hier von der heiligen Matrix. In den Grundfesten des Lebens liegt eine heilige Grundstruktur, was ja auch viele spirituelle Traditionen auf ihre Weise formulieren.

e: Was ist diese heilige Matrix?

MW: Die heilige Matrix ist eine Grundstruktur im Aufbau des Universums. Ein Lebenszusammenhang, wo alles, was lebt, in einem Kontext der Einheit existiert, in einem Kontext von Kommunikation und Nicht-Getrenntheit. Kein Molekül, kein Lebewesen, kein Stern und keine Galaxie existiert als einzelnes abgetrenntes Teil, so wie es im mechanistischen Weltbild vorgestellt wurde. Die Welt ist kein Uhrwerk, sondern ein lebendiger Organismus. In der holistischen Schau ist das Universum wie die Oberfläche eines Teiches mit einem unendlichen Interferenzmuster, in dem aus der Überlagerung verschiedenster Energie- und Informationsfelder die einzelnen Dinge entstehen, die uns als materiell erscheinen. Und mit dem Wort »heilig« ist ausgesagt, dass in dieser Einheit etwas Ewiges, Heiles und tief Lebendiges liegt. Eine Lebenskraft, die auf Heilung, Liebe und Vertrauen ausgerichtet ist, um es in menschliche Begriffe zu fassen.

Die Evolutionsforscherin Lynn Margulis sagte, wenn wir die sozialen und ökologischen Krisen, die wir selbst herbeigeführt haben, überleben wollen, sind wir dazu gezwungen, uns auf völlig neue dramatische Gemeinschaftsformen einzulassen. Damit kommt uns im Verstehen und Erfahren der heiligen Matrix eine seelische Vision entgegen. Aristoteles hätte wohl von der »Entelechie« gesprochen, einem Zielbild, auf das die Menschheit zuläuft – wie das Samenkorn auf das Bild des Baumes zuläuft.

Es ist entscheidend für die Friedensarbeit und den Aktivismus in unserer Welt, dass wir uns mit einer dem Leben innewohnenden Vision verbinden können. Einer Vision, die wir nicht erfinden, sondern die uns aufgeht im Zustand einer Wieder-Verbindung mit der heiligen Matrix – als einem universellen Muster, aber auch ganz real im wiedergefundenen Vertrauen der Kooperation unter Menschen und allen Wesen. In Tamera arbeiten wir in diesem Zusammenhang am Aufbau von »Heilungsbiotopen« als Modelle einer möglichen Zukunftsgesellschaft, in der unsere realen zwischenmenschlichen, ökologischen und ökonomischen Strukturen wieder in Übereinstimmung kommen mit den Grundprinzipien des Lebens selbst.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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