Wie klingt Fußball?

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Ich bin mit Musik groß geworden. Auch meine Jugendfreunde machten Musik, und im Musikstudium gab es sowieso nichts anderes. Fußball kam in meinem Leben nicht vor und auch nicht in meinem Umfeld. Und mir fehlte da natürlich auch nichts.

Bei der Weltmeisterschaft in Deutschland vor zehn Jahren fiel mir dann zum ersten Mal auf, dass bei großen Fußballspielen das sonstige Leben praktisch zum Erliegen kam. In meinem mittlerweile eher anthroposophischen als musikalischen Umfeld lag nun bei Planungen der Fußballkalender mit auf dem Tisch – das war bei der Planung von Konzerten 25 Jahre früher noch undenkbar gewesen. Heute sinkt sogar der Lautstärke­pegel in meinem Dorf bei Bundes­ligaspielen. Und so kam ich dann dazu, mir auch mal ein Fußballspiel anzuschauen.

Mittlerweile weiß ich, dass die Spieler auf dem Feld den Ball nicht immer so spielen können, wie Lieschen Müller sich das vor dem Bildschirm so denkt. Ich habe ein bisschen Einblick in die Kunst der Ball-annahme gewonnen, und bei einem Abseits muss ich nicht mehr angestrengt überlegen, was das ist, sondern ich sehe es. Die Geheimnisse der Taktik sind mir zwar nur in Anfängen zugänglich, nichtsdestotrotz habe ich beim Zuschauen manchmal großen Spaß. Es ruft in mir Bewunderung hervor für die Vielseitigkeit und gelegentlich den Einfallsreichtum der Spieler, ich erlebe Freude und ab und zu auch Schadenfreude, Spannung und manchmal Langeweile. Ich beobachte, dass verschiedene Mannschaften verschiedene Charaktere haben und dass die spielentscheidenden Situationen eigentlich immer improvisiert sind. Natürlich üben die Mannschaften bestimmte Spielzüge ein, aber die hat der Gegner rasch herausgefunden. Sobald er darauf reagiert, hilft nur noch die Improvisation, das Nutzen des Augenblicks und das Gespür für die Situation.

Damit dürften die Elemente genannt sein, die ein Millionenpublikum vor den Bildschirm bannen und Hundertausende jedes Wochenende in die Stadien ziehen: ein Team, das nur gemeinsam und mit ausgeprägter Zielstrebigkeit etwas erreicht, dazu Einzelleistungen, die Staunen machen und ein Verlauf, der unvorhersehbar und geeignet ist, starke Emotionen auszulösen.

Seit einiger Zeit habe ich mein Instrument wieder ausgepackt und mache mit anderen Menschen zusammen Musik, bevorzugt improvisierte. Auch hier gibt es ein Team und es gibt Einzelleistungen, und es gibt einen völlig unvorhersehbaren Verlauf. Ein erheblicher Unterschied liegt allerdings darin, dass es keinen Gegner gibt: Beim musikalischen Improvisieren macht es keinen Sinn, sich mit einigen der Mitspieler zu identifizieren und mit anderen nicht. Das reduziert die emotionale Beteiligung ganz erheblich.

-DER ZWANG ZUM GEWINNEN RUINIERT DAS SPIEL.-

Überhaupt ist die Beteiligung beim musikalischen Improvisieren, und letztlich bei aller Musik und vielleicht auch bei anderen Künsten, ganz anderer Art als beim Fußballspiel. Die gesteigerte Aufmerksamkeit mag die gleiche sein. Die Töne erreichen mich aber in einer ganz anderen Schicht. Sie bringen etwas zum Ausdruck, manchmal sprechen sie geradezu, und sie bringen die Seele zu einer Art des Mitschwingens, des Miterlebens und des Fühlens, die sich von der emotionalen Beteiligung beim Fußball doch sehr unterscheidet. Letztere ist eigentlich doch so wie immer, es sind dieselben Emotionen, wie ich sie andauernd erlebe, und erquicklich an ihnen ist hauptsächlich, dass sie sich nicht auf mein alltägliches Leben beziehen. Die Töne einer musikalischen Erfahrung, die Sprache eines Theaterstückes, die Farben eines großen Bildes, sie lösen in ihrer Differenziertheit und Einzigartigkeit etwas ganz Neues in mir aus, etwas nie Erlebtes, und sie lassen mich dadurch bereichert, sensibilisiert, genährt zurück. Sie sprechen mich da an, wo ich Wachsende und Werdende bin. Das Fußballspiel hingegen lässt mich zwar eine Pause machen vom Alltag, dabei aber lässt es mich, wie ich bin – in meinem kleinen Ich stecken. Das Musikmachen gibt mir Verwandlungskraft, Erfrischung und einen neuen Blick auf den Alltag.

Woran liegt diese Unterschiedlichkeit in der Tiefe des Erlebens? In Musik, Theater und Malerei geht es um menschlichen Ausdruck in Ton, Sprache und Farbe. Sie bilden das zu gestaltende Material und werden vor dem Hintergrund der in ihnen liegenden Gesetzmäßigkeiten um ihrer selbst willen gestaltet; die Gestaltung unterliegt keinem Zweck. Daraus entsteht menschliche Tiefe. Beim Fußball ist alles Gestaltete überlagert vom Zweck des Gewinnens – und hier kommen die Egos ins Spiel, die der Spieler ebenso wie die der Zuschauer, und damit die flachen Emotionen.

Irgendwann in der frühen Geschichte des Fußballs rief einmal ein Trainer, der Zwang zum Gewinnen ruiniere das ganze Spiel. Wäre sein Ruf erhört worden – wer weiß, ob aus dem Fußballspiel nicht doch eine Kunst geworden wäre?

Author:
Anna-Katharina Dehmelt
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