Wildes Denken

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 21, 2016

Featuring:
Christina Kessler
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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Im Einklang mit der Welt

»Ethnologen wandern zwischen den Welten– den äußeren wie den inneren«, sagt Christina Kessler. Aus ihren Erfahrungenund Erkenntnissen beim ethnologischen Studium indigener Völker hat sie eineeigene Philosophie der Liebe formuliert: Die Erweckung unserer Herzintelligenzund ein wildes Denken führen uns in die Berührung mit der Wirklichkeit.

 

evolve: In deiner Arbeit geht es dir auch darum, Menschen zu inspirieren, »einen wildenGeist und ein wildes Herz« zu entwickeln bzw. wiederzuentdecken. Was meinst dumit wildem Denken?

Christina Kessler:Der Begriff »wildes Denken« stammt von dem französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss und wird als typisch für indigene Völker beschrieben. WildesDenken steht im Gegensatz zur Struktur des rationalen Denkens, das in »binärenOppositionen«, in Gegensatzpaaren denkt: oben-unten, links-rechts,Subjekt-Objekt. Während das Rationale trennt und unterscheidet, sucht das Wildeimmer nach Gemeinsamkeiten. Wildes Denken ist also genau das Gegenteil: Es istein verbindendes, assoziatives Flow-Denken, nicht dualistisch, sondern analog.Es schließt vom einen auf das andere: Wie bei mir, so bei dir; wie im Großen soim Kleinen; wie außen so innen. Das Spezifische daran ist, dass es jedeaktuelle Situation im Zusammenhang mit einer dem Kosmos zugrunde liegendenOrdnung sieht. Wildes Denken ist Denken innerhalb einer kosmischen Ordnung, dieLeben gewährleistet und damit Lebendigkeit ermöglicht.

e: In unserem Denken haben wirdie Trennung zwischen innen und außen etabliert und oft den Zugang zu deninneren Räumen verloren. Was können wir von dem lernen, was du im Kontakt mitNaturvölkern als so wichtig entdeckt hast?

Während das Rationale trennt und unterscheidet, sucht das Wilde immer nach Gemeinsamkeiten.

CK: Zuerst einmal: Wir müssendas rationale Denken nicht lassen. Dieses Denken ist unabdinglich für unser Bestehen in der materiellen Wirklichkeit. Auch muss es kein Entweder-oder geben. Ich glaube, dass beide Denkformen komplementär im Menschen angelegtsind. Deshalb sollten beide gleichwertig geschult und kreativ miteinander insSpiel gebracht werden. Allerdings ist in der westlichen Kultur die Überbetonungdes Rationalen an ihre äußerste Grenze gelangt und hat bereits zu einerAbtrennung vom Inneren geführt. Heute geht es folglich darum, die inneren Räume und das wilde Denken wieder zurückzuholen. Wie das geht, dafür bieten alleWeisheitstraditionen Wege an. Diese Wege mögen verschieden anmuten, dochverbirgt sich in ihnen, so können wir heute im Kulturvergleich erkennen, eineeinzige gemeinsame Struktur, die wie ein Kompass die Richtung nach innenvorgibt. Ich nenne diese Struktur den Universellen Prozess. Er zeigt, dass manstets zuerst das Herz befragen soll, bevor man das Bewusstsein nach außenwendet.

e: Das Denken, das dubeschreibst, ist in unserer Begegnung ein assoziatives, ein anteilnehmendesDenken. Das rationale Denken unterscheidet, trennt.

CK: Richtig. Und dieses anteilnehmende Denken nimmt zuallererst fühlenden Anteil an den Gesetzen desLebens selbst, an der impliziten Ordnung der Wirklichkeit, die man auch alskosmisches Bewusstsein bezeichnen kann. Im wilden Denken geht es in ersterLinie darum, den Zugang zur inneren Ordnung der Welt zu finden, um im Einklangmit dem Lebensfluss sein zu können.

e: WirEuropäer empfinden uns primär als ein Ich, auf das sich die Welt bezieht,während das indigene Denken diese Trennung von Ich und Welt noch gar nicht sovollzogen hat.

CK: Das indigene Denken versucht, wo immer es möglich ist, Trennung zu vermeiden und zu überwinden.Denn der Anschauung indigener Kulturen entsprechend zieht jede Abspaltung vonder kosmischen Ordnung die Strafe der Götter nach sich; sprich: Es hat einenegative Auswirkung, die direkt auf den Menschen zurückfällt. Heute wissen wir:Wildes Denken führt in den Zustand der Einheit. Dabei muss das Rationale, wiegesagt, nicht abgeschnitten werden. Den neuen Wilden geht es vielmehr um »Unityin Diversity«, um die Einheit in der Vielfalt.

Wer Länder mit noch intakten indigenen Gesellschaften bereist, spürt, dass hiereine ganz andere Schwingung herrscht. Da ist viel mehr Unbeschwertheit,Unmittelbarkeit, Freude, selbst in der Armut. Da ist ein Leuchten von innen unddas Interesse am Leben hat eine ganz andere Ausrichtung. Indigene Völker sind stark innenverhaftet. Daher sind sie einfach. Das Innen ist immer einfach.Gerade hierin können wir viel von ihnen lernen, denn die innere Einfachheit istder Kompass, der uns hilft, uns in der Komplexität der äußeren Weltzurechtzufinden.

e: Ist die Wahrnehmung derHerzensdimension mit dieser Einfachheit verbunden?

CK: Ja,unbedingt. Einheit wird auf der Herzensebene erfahren. Wenn ich ganz bei mir bin und gleichzeitig verbunden mit allem, fühlt sich das Leben leicht, einfachan. Alles erscheint in Ordnung, so wie es ist. Hier lebt das intuitive Wissenum die Verbundenheit allen Seins, die man auch als Liebe bezeichnen kann. DieAusrichtung, in einer Situation immer das Verbindende zu entdecken, ist letztlichgrundlegender und daher leichter als die Suche nach trennenden Aspekten undUnterschieden. Die Herzintelligenz will in Verbindung treten. Das wilde Herzliebt. Daraus ergibt sich eine besondere Art der Lebendigkeit – eineLebendigkeit, die Herzenstüren öffnet, statt sich über Anderssein zudefinieren.

e: Nun geht es ja nicht darum,zurückzukehren zu dem Zustand, wie er vor dem Beginn unserer westlichen Kulturwar, sondern in Anerkennung dessen, was wir im Kulturprozess entwickelt haben,diese andere Dimension wiederzugewinnen. Wie können wir die beiden Dimensionenzusammenbringen?

CK: Ein Zurück gibt es nicht –weder ein Zurück in der Geschichte noch in der Evolution des Bewusstseins. Esgeht um ein Hinein, um das Hinein in die innerenRäume, in den Weltinnenraum, wie Rilke es bezeichnete. Durch unsere westlicheKonditionierung ist unser Bewusstsein übermäßig stark außenorientiert. Es gehtdarum, unser menschliches Bewusstsein wieder rhythmisch nach innen lenken zulernen. Durch diesen Rhythmus entsteht ein fließendes und kontinuierlichesWechselspiel von Außendenken und Innendenken, von Intellekt und Intuition.Dabei wird das Bewusstsein geschmeidig wie eine Raubkatze, fähig zu fliegendemPerspektivenwechsel. Ein wildes Bewusstsein lässt sich nicht auf eine einzigeSichtweise festgelegen, es ist undogmatisch und hegt keineAbsolutheitsansprüche. Aus diesem Grund müssten Intuition und Empathie bereitsan den Schulen gelehrt und trainiert werden, wie alle Herzensqualitäten.

e: Wie können wir dieseTugenden entwickeln?

CK: Indem wir zur Natur derDinge zurückfinden. Der Mensch lebt in einem ständigen Spannungsfeld zwischenNatur und Kultur. Natur ist nicht nur die Landschaft da draußen, Natur ist eineBewusstseinsebene. Natur ist, was den Menschen hervorbringt. Kultur dagegenist, was der Mensch aus eigener Kreativität hervorbringt. Wo Natur und Kulturnicht zusammenpassen, zerstört der Mensch seinen Lebensraum und letztlich auchsich selbst. Heute gilt es, unsere Kulturfähigkeit wieder mit dem»Wesentlichen« in Zusammenhang zu bringen, sodass beide, Natur und Kultur, imEinklang schwingen.

Das Gespräch führte Thomas Steininger.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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