Wir müssen reden

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Viele Menschen fühlen sich von der Globalisierung und politischen Konflikten überfordert, unsicher und ohnmächtig. Einige engagieren sich in zivilgesellschaftlichen Gruppen oder in politischen Parteien und versuchen ihre Vorstellungen von einer besseren Welt mit anderen gemeinsam zu besprechen und umzusetzen. Andere reagieren aus Ohnmacht und Enttäuschung mit Empörung und Wut, Schuldzuweisungen und Gewalt und verschärfen so die Spaltung der Gesellschaft.

Was können wir als Einzelne tun oder lassen, um etwas Sinnvolles beizutragen? Mich inspiriert seit über vierzig Jahren das Bild der Bodhisattvas, Frauen und Männer, die zum Wohle aller wirken wollen. Ich glaube nicht an Masterpläne und große Programme, auch wenn Gesetze und Regeln in vielen Fällen sinnvoll und notwendig sind. Ich glaube an inspirierende Begegnungen und kleine Pilotprojekte, in denen wir ausprobieren können, was funktioniert und was nicht.

Ich wünsche mir viele weibliche und männliche Bodhisattvas, die in Gruppen mitarbeiten und so lernen, mit sehr unterschiedlichen Menschen zu reden, ihnen zuzuhören und gemeinsam nach neuen Wegen und Antworten auf die aktuellen Probleme zu suchen. Wir können lernen, andere durch unser eigenes Beispiel zu einem ethischen Leben zu inspirieren, dazu, niemanden bewusst und gezielt zu verletzen, sondern zu einer konstruktiven Haltung zu sich und anderen zu ermutigen und zu befähigen. Das ist nicht einfach, aber möglich, wenn wir das wollen und uns darum bemühen.

Wenn wir scheitern, erkennen wir, dass wir üben.

Eine buddhistische Grundübung beschreibt vier Haltungen, die wir Tag für Tag einüben können: Freundlichkeit, Freude und Mitfreude, wenn es uns und anderen gut geht, Mitgefühl und Gelassenheit oder Gleichmut, wenn das Leben schwierig wird. Diese Haltungen kennen die meisten, aber eher aus dem Kreis der nahen und vertrauten Menschen. Wir können sie »mit heiliger Sturheit« allen gegenüber einüben. Üben bedeutet nicht, etwas auf Anhieb zu können, sondern es immer wieder zu probieren, zu scheitern und weiter zu üben. Wenn wir scheitern, erkennen wir, dass wir üben.  

Sehr folgenreich, wenn auch nicht einfach, ist die Übung der konstruktiven Rede. Wir bemühen uns, vier Handlungen zu vermeiden: lügen, verleumden, durch Worte verletzen und sinnlos schwätzen. Stattdessen üben wir vier konstruktive Handlungen: nur sagen, wovon wir wissen, dass es wahr ist; das Gute in anderen sehen und ansprechen, sie inspirieren und ermuntern und – aufmerksam zuhören und sinnvoll reden. 

Drei weitere spezielle Übungen der Bodhisattvas fördern konstruktive Begegnungen mit anderen Menschen: nicht von den Fehlern anderer zu sprechen, sondern verständnisvoll und liebevoll zu sein; sich nicht selbst zu loben, indem wir andere herabsetzen, sondern die eigenen Unzulänglichkeiten zu überwinden; und schließlich Ärger nicht auszuagieren, sondern zu bemerken und den Geist durch Meditation zu klären. Wie schon betont, bemerken wir im Scheitern, dass wir üben. 

Ich lasse mich seit über vierzig Jahren von diesen Empfehlungen inspirieren und vertraue darauf, dass das wirkungsvoller ist als viele großartige politische und soziale Masterpläne, die aus dem Grund nicht den gewünschten Erfolg haben, weil wir nicht in der Lage sind, mit Menschen im Plural über die gemeinsame Welt zu verhandeln. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? 

Zum Abschluss singe ich das Lob der Höflichkeit. Höflichkeit ist das erste Mittel gegen den Krieg, sagt Adolph Freiherr von Knigge. Ihr Ziel ist das einvernehmliche Zusammenleben von Menschen, wenn Zuneigung und Anerkennung nicht zu haben sind. Höflichkeit ist das Band, das Menschen zusammenhält, die sich nicht leiden können. Denn Höflichkeit ahmt die Moral nach und die Moral die Liebe. Wenn nichts mehr geht, bleiben wir einfach mit heiliger Sturheit höflich.

Author:
Sylvia Wetzel
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