Wir werden nur überleben, wenn wir uns verändern

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 24, 2022

Featuring:
Jan Artem Henriksson
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Issue:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wie leben zwischen den Zeiten
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Die innere Dimension der Nachhaltigkeit

Mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung haben die vereinten Nationen verschiedene Bereiche formuliert, die sich wandeln müssen, damit die globale Gesellschaft zu einer nachhaltigen Lebensweise findet. Aber wie müssen wir uns als Menschen entwickeln, damit diese Ziele erreichbar werden? Diese Frage stellt sich die Initiative Inner Development Goals (IDGs), die Ziele für eine innere Entwicklung erforscht und umsetzt. Wir sprachen mit Jan Artem Henriksson, dem Leiter des Projekts über die innere Dimension der Nachhaltigkeit.

evolve: Warum ist die Frage der inneren Entwicklung wichtig, um die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen?

Jan Artem Henriksson: Ich glaube nicht, dass wir Menschen so, wie wir heute sind, in der Lage sein werden, die 17 SDGs zu erreichen. Dazu braucht es ein Update unseres menschlichen Betriebssystems. Der blinde Fleck in den SDGs besteht darin, dass wir das individuelle und kollektive Innere unserer persönlichen Fähigkeiten und die Kultur, die wir schaffen, nicht im Blick haben. Deshalb bedarf es wirksamer Maßnahmen für die menschliche Entwicklung, die uns helfen zu wachsen, so dass wir die SDGs innerhalb des uns zur Verfügung stehenden Zeitrahmens erreichen können.

e: Wie müssen wir uns als Menschen verändern? Und welche Menschen sprechen Sie an? Sprechen Sie von uns allen?

JAH: Bei den inneren Entwicklungszielen (IDGs) geht es um uns alle, nicht nur um die Politiker oder die Führungskräfte. Wir alle müssen uns eine Perspektive der Entwicklung zu eigen machen. Die von uns gewählten Führungspersönlichkeiten verfügen oft nicht über die erforderlichen Fähigkeiten, um mit anderen Menschen bei komplexen Fragen zusammenzuarbeiten. Manchmal wählen wir einfach Menschen, die sehr sicher auftreten oder die Dinge schwarz-weiß erklären. Das kann uns ein gewisses Maß an Trost und ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Aber es wird uns nicht den SDGs näherbringen. Wir müssen also Politiker wählen, die mehr von jenen Qualitäten haben, die wir weltweit brauchen, um diese Ziele zu erreichen.

Alle Menschen sind anpassungsfähige, offene Systeme, und wir können wachsen. Wir müssen uns unserer Werte bewusstwerden, nicht nur, um uns in einer unsicheren, unberechenbaren und komplexen Welt zurechtzufinden, sondern auch, um über diese Werte nachzudenken und mit Menschen, die andere Werte haben, zusammenzuarbeiten.

Ein Gespräch beginnen

e: Sie sagen also, dass sich die IDGs an alle Menschen richten. Sie sprechen aber auch davon, dass die Menschen die Führungspersönlichkeiten wählen sollten, die sich für Nachhaltigkeit einsetzen und auch in ihrer inneren Haltung entwickelt sind. Das bedeutet aber, dass die Bürger diese Qualitäten auch erkennen müssen. Wie können wir unter ganz unterschiedlichen Menschen ein Verständnis dafür entwickeln, was ein reifer, innerlich entwickelter Mensch ist?

¬ ZU OFT SIND UNSERE REFLEXIONEN ÜBER WERTE UND FÜHRUNGSPRINZIPIEN VON UNSEREN BEMÜHUNGEN UM NACHHALTIGKEIT GETRENNT. ¬

JAH: Das ist eine wichtige Frage. Mit den IDGs wollen wir dieses Gespräch beleben und in eine neue Tiefe führen. In unserer Theorie des Wandels weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass Organisationen die Akteure sein können, die neue Praktiken schnell übernehmen und prototypisch umsetzen können. Es ist uns bereits gelungen, einige große Unternehmen wie IKEA, Ericsson, Spotify und das UNDP ins Boot zu holen. Auch einige Regierungen sind interessiert, wie z.B. die Regierung von Costa Rica, die im Dezember 2021 eine Reihe von Dokumenten unterzeichnet hat, die besagen, dass sie die IDGs im gesamten öffentlichen Sektor umsetzen werden.

Wir haben Fragebögen an viele Führungskräfte in großen Unternehmen und Organisationen verschickt und sie gefragt, welche Qualitäten, Fähigkeiten oder Fertigkeiten wir ihrer Meinung nach individuell und kollektiv entwickeln müssen, um unsere Chancen auf das Erreichen der SDGs zu erhöhen. Ich bin mir sicher, dass es viele Führungskräfte gibt, die sich darüber noch nie Gedanken gemacht haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir anfangen, diese Fragen zu stellen. Wir haben den 300 Top-Managern bei Ericsson diese Frage gestellt, und das ist bereits eine Intervention, die etwas bewirken kann, ein Umdenken, vielleicht einen Dialog. Wir arbeiten mit der Leitungsebene von IKEA, wobei untersucht wird, wie die Führungsgrundsätze, die Werte und die Kultur mit den IDGs in Einklang gebracht werden können. Dieser Prozess wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber schon der Beginn des Gesprächs darüber ist ein wichtiger Schritt. Zu oft sind unsere Reflexionen über Werte und Führungsprinzipien von unseren Bemühungen um Nachhaltigkeit getrennt. Wir sind häufig in einem Silodenken gefangen, das wir überwinden müssen.

e: Es liegt nahe, innere Entwicklung und Nachhaltigkeit zusammenzubringen und diesen Ansatz in Unternehmen zu erproben, denn dort wird viel innere Entwicklungsarbeit in Form von Führungstraining und Kompetenzentwicklung geleistet. Aber Nachhaltigkeit ist in großen Organisationen oft ein völlig separater Bereich. Es gibt eine Nachhaltigkeitsabteilung und dann gibt es noch die Personalabteilung, die Ausbildung der Führungskräfte und die Organisationsentwicklung, aber diese Bereiche arbeiten nicht zusammen. Wenn man sie zusammenbringt, verleiht man der inneren Entwicklung eine gewisse Dringlichkeit.

JAH: Ja. Und es gibt der inneren Entwicklung eine größere Bedeutung, denn sie kann ansonsten ziemlich narzisstisch betrieben werden. Es gibt viele Initiativen zur inneren Entwicklung, aber wozu? Nur damit ich mich besser fühle, mit der Komplexität besser zurechtkomme, eine bessere Führungskraft bin, mein Leben optimiere? Durch die Verbindung mit Nachhaltigkeit bekommt die innere Entwicklung einen umfassenderen Sinn.

¬ DIE INNERE ENTWICKLUNG MUSS DIE HANDLUNGEN UND DEN EINSATZ FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG IM AUSSEN UNTERSTÜTZEN.¬

Indem wir einige der wichtigsten Fähigkeiten aufzeigen, die wir entwickeln können, und einige Interventionen vorstellen, die auf einer guten wissenschaftlichen Methode und Beweisführung basieren, können wir Fachleuten helfen, für die dieser Bereich der inneren Entwicklung neu und ungewohnt ist, sich darin zurechtzufinden. Wir haben mehr als 75.000 Menschen durch verschiedene Entwicklungsprogramme begleitet, wir haben mit vielen Forschungsinstituten zusammengearbeitet und Mittel vom schwedischen Innovationsfonds erhalten, um randomisierte Studien durchzuführen und herauszufinden, welche Programme spürbare Wirkung zeigen.

Ich kenne die Ängste vieler Personalleiter, wenn sie über Programme zur Entwicklung von Führungskräften entscheiden sollen. Es gibt so viele unterschiedliche Maßnahmen, die ihnen von Trainern angeboten werden. Es kann also sehr hilfreich sein zu wissen, was wirklich wissenschaftlich untermauert ist und uns dabei helfen kann, bessere Menschen zu werden, die sich um ein größeres Ganzes kümmern. Das kann uns auch eine neue Perspektive darauf eröffnen, was menschliche Entwicklung bedeutet und wie sie gefördert werden kann. Manche Menschen haben zum Beispiel eine Vorliebe für Achtsamkeit und arbeiten in den IDGs zu »Beziehung« mit Präsenz und Mitgefühl. Das sind sehr wichtige Fähigkeiten, aber dabei lernt man nichts über Systemdenken, Komplexitätsbewusstsein oder andere kognitive Fähigkeiten.

Bei anderen Menschen ist es genau andersherum. Sie engagieren sich in der kognitiven Entwicklung, aber sie tun nicht genug für die IDGs von »Sein« und »Beziehung«. Oder sie setzen ihre Einsichten nie in die Tat um, was in den IDGs unter »Handeln« verstanden wird. Es kann also gut sein, einen Überblick zu bekommen über die verschiedenen Spektren menschlicher Entwicklung und wie die unterschiedlichen Interventionen zu einem größeren Ganzen beitragen.

Handlungsfähig werden

e: Durch diese Arbeit können vielleicht auch Menschen innerhalb einer Organisation die Integrität entwickeln, darauf hinzuweisen, wenn Nachhaltigkeit nicht wirklich praktiziert wird, weil die Organisation vielleicht in geschäftlichen Anforderungen gefangen ist, die mehr Priorität haben als die Sorge um den Planeten.

JAH: Ich denke, es ist wichtig, unsere menschliche Geschichte zu betrachten und zu sehen, wie wir in unseren Entscheidungen und unserem Handeln immer bewusster geworden sind. Aber nicht ohne den Widerstand der Menschen an der Macht. Für die Monarchen war es sehr beängstigend, ihre Macht aufzugeben und dem Volk die Möglichkeit zu geben, ihre Führungspersonen zu wählen. Für viele konservative Menschen war es sicherlich beängstigend, Frauen oder Farbigen das Wahlrecht zuzugestehen. Aber Schritt für Schritt haben wir in der Vergangenheit immer mehr Menschen in die Lage versetzt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre Handlungsfähigkeit in der Politik zu stärken, indem wir Zeitungen gelesen haben, die Nachrichten verfolgten und dafür gesorgt haben, dass jeder eine Grundschule abschließt.

Aber wir haben immer noch nicht ganz verstanden, dass wir weitere Fähigkeiten entwickeln können: die Einnahme verschiedener Perspektiven, das ethische Denken, den inneren Kompass, das systemische Denken, die Verknüpfung unseres Handelns und unserer Systeme mit dem größeren Ganzen. Und diese Fähigkeiten und Qualitäten können wir in großem Umfang und über die gesamte Lebensspanne hinweg aufbauen.

e: Sich einer existenziellen Bedrohung zu stellen und sie nicht zu verleugnen oder in Verzweiflung oder Nihilismus zu verfallen, ist eine wichtige Fähigkeit. Das gilt besonders für Menschen, die im Bereich der Nachhaltigkeit arbeiten. Wie können die IDGs die Menschen darin stärken, sich in einer solchen Situation weiter zu engagieren und angesichts der ökologischen Bedrohung handlungsfähig zu bleiben?

JAH: Die IDGs sind nicht neu, wir bauen auf einer Fülle bereits existierender Forschung auf. Es gibt zahlreiche Arbeiten zu Stufen-Theorien, welche die Phasen aufzeigen, in denen sich Menschen zunehmend weniger an Normen und politischen Verwicklungen oder Machtspielchen orientieren. Sie lassen sich von inneren Werten leiten. Aber wir müssen darüber hinaus zu Agenten einer systemischen Transformation werden, um erkennen zu können, wie Systeme auf eine neue Art und Weise funktionieren könnten. Die Frage ist dann nicht so sehr, »Wer bin ich?«, sondern »Was wird hier gebraucht?« Es gibt auch eine Fähigkeit, die der Dichter John Keats als negative Fähigkeit bezeichnete, was bedeutet, die Spannungen, die wir sehen, auszuhalten. Aber wenn wir über diese verschiedenen Theorien oder Fähigkeiten sprechen, ist das für viele Menschen zu abstrakt und realitätsfern. Man muss viel lesen und ein starkes Interesse an Psychologie, Philosophie und sogar Erkenntnistheorie haben, um die Stufentheorien des menschlichen Wachstums wirklich zu verstehen.

Deshalb möchten wir gemeinsam mit allen IDG-Mitgestaltern das Konzept der inneren Entwicklung in ähnlicher Weise wie bei den SDGs anwenden. Es ist nicht so, dass die Welt aus 17 Problemen oder Bereichen besteht, diese 17 Kästchen gibt es nicht wirklich. Sie sind entstanden, weil sich einige Leute zusammengetan und gefragt haben: Wie können wir das so zusammenstellen, dass es Sinn macht und einfach genug ist, dass Menschen es verstehen und sich damit beschäftigen können? Und das Gleiche versuchen wir nun mit der inneren Entwicklung.

Wir alle haben unsere eigenen Paradigmen, unsere eigene Sprache, und es gibt viele verschiedene Forscher aus unterschiedlichen Bereichen, die sich mit innerer Entwicklung befassen und den Rahmen der IDGs mitgestaltet haben.

Es gibt offene Umfragen auf unserer Webseite und ich möchte die Leserinnen und Leser, dazu einladen, zu diesem Prozess beizutragen. Wir versuchen, eine Sprache zu finden, die für alle zugänglich ist. Und es läuft auf einige klare Fähigkeiten hinaus – in der aktuellen Version sind es 23 Fähigkeiten in 5 verschiedenen Kategorien von Sein, Denken, Beziehung, Zusammenarbeit, Handeln.

Transformation der Systeme

e: Die UN-Klimakonferenz ist gerade zu Ende gegangen, und es gibt große Skepsis, was die Ergebnisse betrifft. Die Zeit, um wirklich etwas zu verändern, ist sehr kurz, und die Erde ist ein äußerst komplexes System. Wie können wir über menschliche Entwicklung in einem Kontext nachdenken, der zeitlich so eng ist?

JAH: Unabhängig davon, ob wir diese Entwicklung noch umkehren können oder ob wir bereits Schwellen oder Tipping Points überschritten haben, ist es wichtiger denn je, Fähigkeiten wie Demut, Mitgefühl, Präsenz und Verbundenheit aufzubauen. Und sollten wir diese Schwellen bereits überschritten haben, dann umso mehr.

Es handelt sich also um eine dringende Initiative, denn wenn wir in fünf bis zehn Jahren etwas bewirken wollen, müssen wir jetzt damit beginnen. Ich habe Programme zum Aufbau von Fähigkeiten gesehen, die nach nur sechs Monaten wissenschaftlich nachweisbare Wirkungen haben, z. B. bei der Entwicklung von Selbst-Mitgefühl oder dem inneren Kompass. Denn wenn man sich selbst gegenüber mitfühlender ist, dann ist es leichter, auch anderen gegenüber mitfühlend zu sein. Man schafft ein vertrauensvolleres Umfeld mit mehr psychologischer Sicherheit.

Aber bei all dem gibt es eine Warnung, denn auch die Idee der inneren Entwicklung kann als Vorwand genutzt werden. Man könnte nämlich sagen: Lasst uns jetzt unsere inneren Fähigkeiten aufbauen und uns hinsetzen und meditieren. Doch damit stellen wir uns nicht der Komplexität und treffen nicht die schwierigen Entscheidungen. Die IDGs können missbraucht werden, indem sie zu einer Ausrede dafür werden, nicht zu handeln. Aber wir müssen beides tun, die innere Entwicklung muss die Handlungen und den Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung im Außen unterstützen.

In diesem Prozess müssen wir auch die Werte und Praktiken der größeren Systeme, in denen wir leben, verändern. Denn selbst wenn einzelne Menschen alle Fähigkeiten der Welt entwickeln würden, könnten wir die SDGs nicht ohne größere politische Veränderungen und neue Strukturen in Organisationen, Institutionen und Nationen erreichen.

Ich hoffe, dass Menschen aus der ganzen Welt, aus verschiedenen Bereichen, aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor, aus dem akademischen Bereich und von Nichtregierungsorganisationen zusammenkommen und erkennen, dass wir im Bereich der menschlichen Entwicklung alle gewinnen, wenn wir zusammenarbeiten. Wir alle gewinnen, wenn wir systematisch die Fähigkeiten entwickeln, die für unseren Planeten am wichtigsten sind. Wir alle gewinnen, wenn es genügend Menschen gibt, die sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen erkennen. Und es liegt an uns, die Strukturen und die Formen von Zusammenarbeit zu schaffen, um den fortschrittlichen Organisationen und Nationen zu helfen, den Anfang zu machen. Und alles Weitere wird sich daraus ergeben.

evolve: Warum ist die Frage der inneren Entwicklung wichtig, um die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen?

Jan Artem Henriksson: Ich glaube nicht, dass wir Menschen so, wie wir heute sind, in der Lage sein werden, die 17 SDGs zu erreichen. Dazu braucht es ein Update unseres menschlichen Betriebssystems. Der blinde Fleck in den SDGs besteht darin, dass wir das individuelle und kollektive Innere unserer persönlichen Fähigkeiten und die Kultur, die wir schaffen, nicht im Blick haben. Deshalb bedarf es wirksamer Maßnahmen für die menschliche Entwicklung, die uns helfen zu wachsen, so dass wir die SDGs innerhalb des uns zur Verfügung stehenden Zeitrahmens erreichen können.

e: Wie müssen wir uns als Menschen verändern? Und welche Menschen sprechen Sie an? Sprechen Sie von uns allen?

JAH: Bei den inneren Entwicklungszielen (IDGs) geht es um uns alle, nicht nur um die Politiker oder die Führungskräfte. Wir alle müssen uns eine Perspektive der Entwicklung zu eigen machen. Die von uns gewählten Führungspersönlichkeiten verfügen oft nicht über die erforderlichen Fähigkeiten, um mit anderen Menschen bei komplexen Fragen zusammenzuarbeiten. Manchmal wählen wir einfach Menschen, die sehr sicher auftreten oder die Dinge schwarz-weiß erklären. Das kann uns ein gewisses Maß an Trost und ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Aber es wird uns nicht den SDGs näherbringen. Wir müssen also Politiker wählen, die mehr von jenen Qualitäten haben, die wir weltweit brauchen, um diese Ziele zu erreichen.

Alle Menschen sind anpassungsfähige, offene Systeme, und wir können wachsen. Wir müssen uns unserer Werte bewusstwerden, nicht nur, um uns in einer unsicheren, unberechenbaren und komplexen Welt zurechtzufinden, sondern auch, um über diese Werte nachzudenken und mit Menschen, die andere Werte haben, zusammenzuarbeiten.

Ein Gespräch beginnen

e: Sie sagen also, dass sich die IDGs an alle Menschen richten. Sie sprechen aber auch davon, dass die Menschen die Führungspersönlichkeiten wählen sollten, die sich für Nachhaltigkeit einsetzen und auch in ihrer inneren Haltung entwickelt sind. Das bedeutet aber, dass die Bürger diese Qualitäten auch erkennen müssen. Wie können wir unter ganz unterschiedlichen Menschen ein Verständnis dafür entwickeln, was ein reifer, innerlich entwickelter Mensch ist?

JAH: Das ist eine wichtige Frage. Mit den IDGs wollen wir dieses Gespräch beleben und in eine neue Tiefe führen. In unserer Theorie des Wandels weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass Organisationen die Akteure sein können, die neue Praktiken schnell übernehmen und prototypisch umsetzen können. Es ist uns bereits gelungen, einige große Unternehmen wie IKEA, Ericsson, Spotify und das UNDP ins Boot zu holen. Auch einige Regierungen sind interessiert, wie z.B. die Regierung von Costa Rica, die im Dezember 2021 eine Reihe von Dokumenten unterzeichnet hat, die besagen, dass sie die IDGs im gesamten öffentlichen Sektor umsetzen werden.

¬ DURCH DIE VERBINDUNG MIT NACHHALTIGKEIT BEKOMMT DIE INNERE ENTWICKLUNG EINEN UMFASSENDEREN SINN. ¬

Wir haben Fragebögen an viele Führungskräfte in großen Unternehmen und Organisationen verschickt und sie gefragt, welche Qualitäten, Fähigkeiten oder Fertigkeiten wir ihrer Meinung nach individuell und kollektiv entwickeln müssen, um unsere Chancen auf das Erreichen der SDGs zu erhöhen. Ich bin mir sicher, dass es viele Führungskräfte gibt, die sich darüber noch nie Gedanken gemacht haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir anfangen, diese Fragen zu stellen. Wir haben den 300 Top-Managern bei Ericsson diese Frage gestellt, und das ist bereits eine Intervention, die etwas bewirken kann, ein Umdenken, vielleicht einen Dialog. Wir arbeiten mit der Leitungsebene von IKEA, wobei untersucht wird, wie die Führungsgrundsätze, die Werte und die Kultur mit den IDGs in Einklang gebracht werden können. Dieser Prozess wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber schon der Beginn des Gesprächs darüber ist ein wichtiger Schritt. Zu oft sind unsere Reflexionen über Werte und Führungsprinzipien von unseren Bemühungen um Nachhaltigkeit getrennt. Wir sind häufig in einem Silodenken gefangen, das wir überwinden müssen.

e: Es liegt nahe, innere Entwicklung und Nachhaltigkeit zusammenzubringen und diesen Ansatz in Unternehmen zu erproben, denn dort wird viel innere Entwicklungsarbeit in Form von Führungstraining und Kompetenzentwicklung geleistet. Aber Nachhaltigkeit ist in großen Organisationen oft ein völlig separater Bereich. Es gibt eine Nachhaltigkeitsabteilung und dann gibt es noch die Personalabteilung, die Ausbildung der Führungskräfte und die Organisationsentwicklung, aber diese Bereiche arbeiten nicht zusammen. Wenn man sie zusammenbringt, verleiht man der inneren Entwicklung eine gewisse Dringlichkeit.

JAH: Ja. Und es gibt der inneren Entwicklung eine größere Bedeutung, denn sie kann ansonsten ziemlich narzisstisch betrieben werden. Es gibt viele Initiativen zur inneren Entwicklung, aber wozu? Nur damit ich mich besser fühle, mit der Komplexität besser zurechtkomme, eine bessere Führungskraft bin, mein Leben optimiere? Durch die Verbindung mit Nachhaltigkeit bekommt die innere Entwicklung einen umfassenderen Sinn.

Indem wir einige der wichtigsten Fähigkeiten aufzeigen, die wir entwickeln können, und einige Interventionen vorstellen, die auf einer guten wissenschaftlichen Methode und Beweisführung basieren, können wir Fachleuten helfen, für die dieser Bereich der inneren Entwicklung neu und ungewohnt ist, sich darin zurechtzufinden. Wir haben mehr als 75.000 Menschen durch verschiedene Entwicklungsprogramme begleitet, wir haben mit vielen Forschungsinstituten zusammengearbeitet und Mittel vom schwedischen Innovationsfonds erhalten, um randomisierte Studien durchzuführen und herauszufinden, welche Programme spürbare Wirkung zeigen.

Ich kenne die Ängste vieler Personalleiter, wenn sie über Programme zur Entwicklung von Führungskräften entscheiden sollen. Es gibt so viele unterschiedliche Maßnahmen, die ihnen von Trainern angeboten werden. Es kann also sehr hilfreich sein zu wissen, was wirklich wissenschaftlich untermauert ist und uns dabei helfen kann, bessere Menschen zu werden, die sich um ein größeres Ganzes kümmern. Das kann uns auch eine neue Perspektive darauf eröffnen, was menschliche Entwicklung bedeutet und wie sie gefördert werden kann. Manche Menschen haben zum Beispiel eine Vorliebe für Achtsamkeit und arbeiten in den IDGs zu »Beziehung« mit Präsenz und Mitgefühl. Das sind sehr wichtige Fähigkeiten, aber dabei lernt man nichts über Systemdenken, Komplexitätsbewusstsein oder andere kognitive Fähigkeiten.

Bei anderen Menschen ist es genau andersherum. Sie engagieren sich in der kognitiven Entwicklung, aber sie tun nicht genug für die IDGs von »Sein« und »Beziehung«. Oder sie setzen ihre Einsichten nie in die Tat um, was in den IDGs unter »Handeln« verstanden wird. Es kann also gut sein, einen Überblick zu bekommen über die verschiedenen Spektren menschlicher Entwicklung und wie die unterschiedlichen Interventionen zu einem größeren Ganzen beitragen.

Handlungsfähig werden

e: Durch diese Arbeit können vielleicht auch Menschen innerhalb einer Organisation die Integrität entwickeln, darauf hinzuweisen, wenn Nachhaltigkeit nicht wirklich praktiziert wird, weil die Organisation vielleicht in geschäftlichen Anforderungen gefangen ist, die mehr Priorität haben als die Sorge um den Planeten.

JAH: Ich denke, es ist wichtig, unsere menschliche Geschichte zu betrachten und zu sehen, wie wir in unseren Entscheidungen und unserem Handeln immer bewusster geworden sind. Aber nicht ohne den Widerstand der Menschen an der Macht. Für die Monarchen war es sehr beängstigend, ihre Macht aufzugeben und dem Volk die Möglichkeit zu geben, ihre Führungspersonen zu wählen. Für viele konservative Menschen war es sicherlich beängstigend, Frauen oder Farbigen das Wahlrecht zuzugestehen. Aber Schritt für Schritt haben wir in der Vergangenheit immer mehr Menschen in die Lage versetzt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre Handlungsfähigkeit in der Politik zu stärken, indem wir Zeitungen gelesen haben, die Nachrichten verfolgten und dafür gesorgt haben, dass jeder eine Grundschule abschließt.

Aber wir haben immer noch nicht ganz verstanden, dass wir weitere Fähigkeiten entwickeln können: die Einnahme verschiedener Perspektiven, das ethische Denken, den inneren Kompass, das systemische Denken, die Verknüpfung unseres Handelns und unserer Systeme mit dem größeren Ganzen. Und diese Fähigkeiten und Qualitäten können wir in großem Umfang und über die gesamte Lebensspanne hinweg aufbauen.

e: Sich einer existenziellen Bedrohung zu stellen und sie nicht zu verleugnen oder in Verzweiflung oder Nihilismus zu verfallen, ist eine wichtige Fähigkeit. Das gilt besonders für Menschen, die im Bereich der Nachhaltigkeit arbeiten. Wie können die IDGs die Menschen darin stärken, sich in einer solchen Situation weiter zu engagieren und angesichts der ökologischen Bedrohung handlungsfähig zu bleiben?

JAH: Die IDGs sind nicht neu, wir bauen auf einer Fülle bereits existierender Forschung auf. Es gibt zahlreiche Arbeiten zu Stufen-Theorien, welche die Phasen aufzeigen, in denen sich Menschen zunehmend weniger an Normen und politischen Verwicklungen oder Machtspielchen orientieren. Sie lassen sich von inneren Werten leiten. Aber wir müssen darüber hinaus zu Agenten einer systemischen Transformation werden, um erkennen zu können, wie Systeme auf eine neue Art und Weise funktionieren könnten. Die Frage ist dann nicht so sehr, »Wer bin ich?«, sondern »Was wird hier gebraucht?« Es gibt auch eine Fähigkeit, die der Dichter John Keats als negative Fähigkeit bezeichnete, was bedeutet, die Spannungen, die wir sehen, auszuhalten. Aber wenn wir über diese verschiedenen Theorien oder Fähigkeiten sprechen, ist das für viele Menschen zu abstrakt und realitätsfern. Man muss viel lesen und ein starkes Interesse an Psychologie, Philosophie und sogar Erkenntnistheorie haben, um die Stufentheorien des menschlichen Wachstums wirklich zu verstehen.

Deshalb möchten wir gemeinsam mit allen IDG-Mitgestaltern das Konzept der inneren Entwicklung in ähnlicher Weise wie bei den SDGs anwenden. Es ist nicht so, dass die Welt aus 17 Problemen oder Bereichen besteht, diese 17 Kästchen gibt es nicht wirklich. Sie sind entstanden, weil sich einige Leute zusammengetan und gefragt haben: Wie können wir das so zusammenstellen, dass es Sinn macht und einfach genug ist, dass Menschen es verstehen und sich damit beschäftigen können? Und das Gleiche versuchen wir nun mit der inneren Entwicklung.

Wir alle haben unsere eigenen Paradigmen, unsere eigene Sprache, und es gibt viele verschiedene Forscher aus unterschiedlichen Bereichen, die sich mit innerer Entwicklung befassen und den Rahmen der IDGs mitgestaltet haben.

Es gibt offene Umfragen auf unserer Webseite und ich möchte die Leserinnen und Leser, dazu einladen, zu diesem Prozess beizutragen. Wir versuchen, eine Sprache zu finden, die für alle zugänglich ist. Und es läuft auf einige klare Fähigkeiten hinaus – in der aktuellen Version sind es 23 Fähigkeiten in 5 verschiedenen Kategorien von Sein, Denken, Beziehung, Zusammenarbeit, Handeln.

Transformation der Systeme

e: Die UN-Klimakonferenz ist gerade zu Ende gegangen, und es gibt große Skepsis, was die Ergebnisse betrifft. Die Zeit, um wirklich etwas zu verändern, ist sehr kurz, und die Erde ist ein äußerst komplexes System. Wie können wir über menschliche Entwicklung in einem Kontext nachdenken, der zeitlich so eng ist?

JAH: Unabhängig davon, ob wir diese Entwicklung noch umkehren können oder ob wir bereits Schwellen oder Tipping Points überschritten haben, ist es wichtiger denn je, Fähigkeiten wie Demut, Mitgefühl, Präsenz und Verbundenheit aufzubauen. Und sollten wir diese Schwellen bereits überschritten haben, dann umso mehr.

Es handelt sich also um eine dringende Initiative, denn wenn wir in fünf bis zehn Jahren etwas bewirken wollen, müssen wir jetzt damit beginnen. Ich habe Programme zum Aufbau von Fähigkeiten gesehen, die nach nur sechs Monaten wissenschaftlich nachweisbare Wirkungen haben, z. B. bei der Entwicklung von Selbst-Mitgefühl oder dem inneren Kompass. Denn wenn man sich selbst gegenüber mitfühlender ist, dann ist es leichter, auch anderen gegenüber mitfühlend zu sein. Man schafft ein vertrauensvolleres Umfeld mit mehr psychologischer Sicherheit.

Aber bei all dem gibt es eine Warnung, denn auch die Idee der inneren Entwicklung kann als Vorwand genutzt werden. Man könnte nämlich sagen: Lasst uns jetzt unsere inneren Fähigkeiten aufbauen und uns hinsetzen und meditieren. Doch damit stellen wir uns nicht der Komplexität und treffen nicht die schwierigen Entscheidungen. Die IDGs können missbraucht werden, indem sie zu einer Ausrede dafür werden, nicht zu handeln. Aber wir müssen beides tun, die innere Entwicklung muss die Handlungen und den Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung im Außen unterstützen.

In diesem Prozess müssen wir auch die Werte und Praktiken der größeren Systeme, in denen wir leben, verändern. Denn selbst wenn einzelne Menschen alle Fähigkeiten der Welt entwickeln würden, könnten wir die SDGs nicht ohne größere politische Veränderungen und neue Strukturen in Organisationen, Institutionen und Nationen erreichen.

Ich hoffe, dass Menschen aus der ganzen Welt, aus verschiedenen Bereichen, aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor, aus dem akademischen Bereich und von Nichtregierungsorganisationen zusammenkommen und erkennen, dass wir im Bereich der menschlichen Entwicklung alle gewinnen, wenn wir zusammenarbeiten. Wir alle gewinnen, wenn wir systematisch die Fähigkeiten entwickeln, die für unseren Planeten am wichtigsten sind. Wir alle gewinnen, wenn es genügend Menschen gibt, die sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen erkennen. Und es liegt an uns, die Strukturen und die Formen von Zusammenarbeit zu schaffen, um den fortschrittlichen Organisationen und Nationen zu helfen, den Anfang zu machen. Und alles Weitere wird sich daraus ergeben.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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