Wohin, spiritueller Wanderer?

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Essay
Published On:

January 31, 2019

Featuring:
Winfried Gebhardt
Prof. Robert Kegan
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Issue:
Ausgabe 21 / 2019:
|
January 2019
Die Zukunft der Religion
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Eine der Grundhaltungen der Kultur, die wir als postmodern bezeichnen können, besteht darin, dass alle Interpretationen der Wirklichkeit gültig sind. Aus diesem pluralen Credo entwickelt sich notwendigerweise auch die Haltung, dass alle Wege der Weisheit gleich oder zumindest hinreichend ähnlich sind, sodass man sich bei ihnen wie auf einem Basar bedienen könne, um das herauszugreifen, was seiner Neigung oder Lust gerade am meisten entspricht. Und wiewohl da einiges Wahres an dieser eben pluralistischen Haltung ist, muss doch entschieden formuliert werden, dass nicht alle Wege für uns heute noch gleich oder nützlich sind.

Zunächst haben wir den offensichtlich sozio-kulturellen Hintergrund, der bedingt, dass ein Weg in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Lokalität gewachsen und vernetzt ist. Das heißt auch: Dieser oder jener bestimmte Weg ist nicht gangbar für jedes Individuum zu jeder Zeit.

Aber dem postmodernen Motto gemäß: Alle Interpretationen sind wahr – und damit: Alle Wege sind wahr! – schlendert der postmodern-spirituelle Bohemien auf dem Boulevard der Weltreligionen und nimmt, was sich ihm anbietet. Alle Wege sind gleich und führen ans Ziel. Das stimmt natürlich nicht. Nicht für jeden sind alle Wege gleich wahr, oder besser: nützlich – und dies ist die große postmoderne spirituelle Verwirrung, nämlich anzunehmen, jeder Weg sei gleichermaßen gültig oder führe ans Ziel. Aber den Bohemien scheint dies zunächst nicht zu stören. Er folgt seiner Intuition, und probiert hier und da; eine Reise nach Indien jedenfalls ist obligatorisch.

Winfried Gebhardt nannte diese Figur den spirituellen Wanderer: Offen für alles, verantwortlich für nichts. Welch’ passenderes Bild ist für den postmodernen Spirituellen je geschaffen worden? Hier zeigt sich, wie Spiritualität in der Postmoderne auftritt. Der Wanderer, der über den Jahrmarkt der Religionen und Traditionen schlendert, nimmt sich, was er braucht. Oder besser: was kurzfristig seine Aufmerksamkeit besetzt. Dem spirituellen Bohemien geht es um einen gewissen spirituellen Lifestyle. Das Zeichen, zu einer bestimmten spirituellen Gruppe zu gehören oder einem bestimmten Lifestyle zu folgen, überschattet jedes authentische Transzendenzstreben.

Hier, unter all den Lifestyle-Signalen, findet er seine Identität, aber diese Identität ist nicht selbst-erzeugt, sie beruft sich auf Anderes; er ist nicht, um es mit dem Psychologen Robert Kegan auszudrücken, sich stets selbst-transzendierend, seine Identität dadurch bildend, indem er sich ständig weiterentwickelt. Vielmehr ist das, was sozial tradiert wird, das Mittel, durch das der Wanderer – wie auch die postmoderne Persönlichkeit an sich – unterbewusst seine Identität erzeugt.

So bleibt der spirituelle Bohemien dem postmodernen Credo treu: Es gibt eine Unzahl von wissbaren Traditionen, Techniken, Ansätzen, Erklärungen und Perspektiven, derer man sich bedienen kann, die doch allesamt weder zu einer Veränderung führen noch führen können. Denn die Regeln der Transzendenz sind noch nicht gewusst. Dem postmodernen Paradigma folgend hat er selbst die große Erzählung von der Erleuchtung aus dem Blick verloren und für eine Vielzahl kleiner Storys, die sich in der Relativität verlieren, eingetauscht.

WEISHEIT KANN NUR DURCH DIE SCHAU DES INNEREN ABYSS GEWONNEN WERDEN.

Weisheit heißt, zu erkennen, was und wer man selbst ist, und nicht, die Verse und Sprüche und Modelle von anderen, die den Weg erfolgreicher gegangen sind, wiederzugeben. Nicht zuletzt deshalb gibt es unter den spirituellen Wanderern eine so hohe Frustrationsrate. Auch die Lust am Neuen weicht irgendwann der Erkenntnis, dass auch das nächste Seminar nicht weiterhelfen wird. Denn die Unmoral des Wanderers ist: sein Schicksal dem Guru und der Intuition zu überlassen. Wie ein Schiff ohne Hafen wandelt er über die See, doch ohne einen Hafen wird er sich nie bemühen anzukommen. Wie vielen Postmodernen geht ihm in der Vielzahl der Angebote und Deutungen die Nützlichkeit verloren.

Denn die Wahrheit der Dinge ist: Weisheit kann nur durch die Schau des inneren Abyss gewonnen werden und nicht durch die Geschichten und Weisheiten von anderen. Der Einzelne wäre besser beraten, alle Bücher fortzuwerfen und den Tauchgang selbst zu unternehmen. Das, was er wissen muss, das, was er erkennen kann, wird er im Siedekessel seiner eigenen Seele hervorbringen.

Author:
Tom Amarque
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