Zugehörigkeit und Verletzlichkeit

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Published On:

January 16, 2017

Featuring:
Barbara Marx Hubbards
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Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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Bedeutende Visionäre sehen den Menschen der Zukunft als jemanden, der sich nicht über Nationalität, Sprache, sozialen Status oder Gender definiert. Barbara Marx Hubbard spricht vom »Homo Universalis«. Für sie beinhaltet diese nächste Stufe des Menschseins bedingungslose Liebe für alles, was lebt, sowie eine Sehnsucht nach dem Geistigen, das Bedürfnis, sich mit anderen zu verbinden und den Einsatz für die ko-kreative Erschaffung einer liebevolleren und gerechteren Welt. Sri Aurobindo hat den gnostischen Menschen und seine Eigenschaften beschrieben. ­Rudolf Steiner wies 1918 darauf hin, dass »in der Zukunft kein Mensch Ruhe haben soll im Genusse von Glück, wenn andere neben ihm unglücklich sind.«

Bis dahin scheint es noch ein weiter Weg. Brexit, die Wahl von Donald Trump sowie der Rechtsruck in Europa sprechen eine andere Sprache. Ethnozentrisch definierte Interessen stehen im Vordergrund. Ausgerechnet in den USA, dem klassischen melting pot, kommt es zu Angriffen auf Muslime, Schwarze, Gastarbeiter aus Mittelamerika und die LGBT-Community. Der offene Rassismus und die Feindseligkeit richten sich gegen Menschen, die nicht dem Bild des weißen, heterosexuellen, christlichen US-Amerikaners entsprechen, obwohl viele von ihnen aus Familien stammen, die seit Generationen dort leben.

Ich bin in Belgien geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben als Kinder den 2. Weltkrieg erlebt. Für sie waren die Deutschen Feinde, und dieses Bild wurde an die nächste Generation weitergegeben. Ihnen war es ein Dorn im Auge, dass ich mich in Deutschland ansiedelte. Mein späterer Ehemann wurde von meinem Vater beim ersten Besuch vollkommen ignoriert. Nachdem es 1999 in Europa möglich wurde, Bürger zweier Staaten zu sein, fasste ich den Entschluss, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Jenseits des Einbürgerungstestes, den ich mit Interesse gründlich vorbereitete, musste ich in mir die im Außen ehemals verfeindeten Gruppierungen versöhnen. Das bedeutete für mich die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, vor allem mit der Nazizeit. Es diente sich die Frage an, ob ich bereit war, damit in Zusammenhang gebracht zu werden. Ich hatte zum Beispiel auf Kreta oder auch in Israel erlebt, was passieren konnte, wenn man annahm, ich sei Deutsche. Für mich bedeutete es ein Stück Versöhnungsarbeit, die deutsche Nationalität anzunehmen.

¬ Mehr und mehr Menschen vereinen in sich unterschiedliche Hintergründe und Lebenswelten. ¬

Möglicherweise erlebt nicht jeder einen solchen Schritt so intensiv wie ich es tat, aber dennoch nehme ich an, dass jeder, der sich auf eine nicht-angeborene, neue Identität einlässt, einen Schritt in die Richtung des Zukunftsideals einer einigen Menschheit tut. Der Blick wird frei für die Licht- und Schattenseiten der eigenen Herkunft sowie die jeglicher kollektiver Identifikation oder Zugehörigkeit. In diesem Prozess der inneren Aussöhnung und Integration bewegt das Bewusstsein sich auf eine Ebene, in der das Allgemein-Menschliche mit seinen lichtvollen und unerlösten Seiten sichtbar wird. Statt einem Mehr an Identifikation entsteht eine Loslösung der bisherigen Identität und zugleich eine Wertschätzung sowohl für das Vertraute als auch für das Neue.

Mehr und mehr Menschen vereinen in sich unterschiedliche Hintergründe und Lebenswelten. In einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen hat jeder vierte einen Migrationshintergrund. Die Krisenherde dieser Welt bringen Millionen von Menschen in eine Situation, wo sie sich in einer fremden Umgebung mit Menschen anderer Herkunft zurechtfinden müssen. Aber auch die Gastländer, wo Menschen mit einer Fluchterfahrung aufgenommen werden, sehen sich mit der Frage nach der eigenen Identität konfrontiert.

Identität und Zugehörigkeit haben viel mit Geborgenheit und Sicherheit zu tun. Multiple Identitäten implizieren eine Verletzlichkeit. Denn das, was man in sich vereint, bleibt im Außen womöglich verfeindet oder gilt als Widerspruch. Einige drastische Beispiele mögen dies verdeutlichen: Der Bosnienkrieg spaltete Familien und Nachbarschaften, deren Mitglieder unterschiedlichen Ethnien angehörten. Etwa 120.000 US-Amerikaner japanischer Herkunft wurden während des 2. Weltkrieges in Konzen­trationslagern interniert. Nach der Annexion 1938 ließ die österreichische Regierung 70.000 jüdische Bürger verhaften.

Doppelte Staatsbürgerschaft war in Deutschland lange Zeit nicht erwünscht. Es hieß, man könne nicht Diener zweier Herren sein. Als es zunehmend eine europäische Identität gab, änderte sich die Gesetzgebung. Auf dem Weg zu einer globalen Gemeinschaft scheint es mir wesentlich, dass viele Menschen den Mut haben, ihr Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühl zu weiten, Widersprüchliches in sich zu vereinen, um so hoffentlich für das Wohl der ganzen Menschheit einstehen zu können.

Author:
Griet Hellinckx
Author:
Donald Trump
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