Feldversuch integrale Politik

Our Emotional Participation in the World
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Published On:

January 14, 2014

Featuring:
Matthias Ruff
Ken Wilber
Otto Scharmer
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Issue:
Ausgabe 01 / 2014
|
January 2014
Das neue Interesse an Politik
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Adrian Wagner berichtet von einer Reise nach Ägypten, wo er neue Ansätze politischer Gestaltung unterstützt.

In Ägypten erwarten mich angenehme 24 Grad. Gemeinsam mit meinem Kollegen Matthias Ruff aus Berlin und seiner Frau entscheiden wir uns, trotz der bereits eingetretenen Ausgangssperre am Abend noch nach Kairo zu fahren. Am fünften Checkpoint singt unser Fahrer für die jungen Männer mit vollautomatischen Waffen zum Abschied eine Liedzeile. Weitere zweimal werden wir angehalten, die Soldaten werden merklich unfreundlicher. Durch Seitenstraßen abseits der Hauptverkehrsadern schleichen wir Richtung Downtown. Um Mitternacht kommen wir an.
Wir sind hier für das zweite „Yalla! Training“ – ein interkultureller Austausch für junge Deutsche und Ägypter für Kultur- und Potenzialentfaltung. Meine erste Station ist das „icecairo“, ein Treffpunkt für die jungen Entrepreneure und Aktivisten von Kairo, „ice“ steht für Innovation, Collaboration and Entrepreneurship. Das icecairo ist Teil des internationalen „icehubs“ Netzwerks, weitere Knotenpunkte gibt es unter anderem in Äthiopien und Deutschland. In diesen Hubs treffen sich engagierte Menschen, um zusammen ökologische und soziale Fragen und Herausforderungen zu diskutieren und im Austausch neue Lösungen und grüne Geschäftsideen zu entwickeln.

Bei den jungen Aktivsten

Beim Yalla! Training

Hier treffe ich Talal, 27 Jahre alt, in Ägypten groß geworden, im Herzen integraler Revolutionär und ein guter Freund seit dem ersten Yalla! Training, an dem wir beide im Januar 2013 teilnahmen. Er ist in den Straßen von Downtown Kairo zuhause. Talals Leidenschaft gilt der Politik, auf seiner Agenda steht der ägyptische Gesellschaftsvertrag. Talal versteht darunter den Einsatz aller Akteure aus Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft: „Erst wenn jeder Verantwortung übernimmt und wir gemeinsam aktiv werden, kann etwas bewegt werden.” Er arbeitet regelmäßig mit den 4 Quadranten von Ken Wilber – ein Modell, das ermöglicht, innere, subjektive Wahrnehmungsräume mit objektiven Erfahrungsräumen sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu integrieren. Das Werteentwicklungsmodell Spiral Dynamics nach Clare W. Graves und Don Beck nutzt er als Analysewerkzeug für soziale Bewegungen in Ägypten und will in einem momentanen Projekt bis zu hundert junge Menschen darin ausbilden. Für Talal ist das erst der Anfang, er denkt groß und wer sollte es ihm übel nehmen? Stammt er doch aus einer Familie, welche die demokratische Arbeiterbewegung in diesem Land maßgeblich mitgeprägt hat, er wird nicht der Erste sein, der seine Spuren in der Geschichte der sozialen Bewegungen Ägyptens hinterlässt.

Es ist ein besonderer Spagat – dieser fließende Wechsel zwischen persönlicher Bewusstseinsentwicklung und Realpolitik in einer Zeit der globalen Umbrüche.


Abdelraham gesellt sich zu uns, er ist 17, hat eine Brille mit runden, großen Gläsern, lächelt und trägt eine Afrofrisur. In der Revolution des arabischen Frühlings war er vorne mit dabei. Straßenkämpfe, Polizei, all das hat er hinter sich. „Warum haben so viele meiner Freunde den Traum eines Miteinanders aufgegeben?“, will er von mir wissen. Wir diskutieren und analysieren das Geschehen in Ägypten: Auf der einen Seite der kulturelle Zwiespalt zwischen säkularen und religiösen Kräften, auf der anderen Seite die Zunahme an chinesischen Investitionen in Ägypten und die Rolle des Militärs in der Wirtschaft. Trotz des Ernstes der Lage wird viel gelacht, wir genießen die Zeit, trinken Tee, schwarz, viel Zucker und mit frischer Minze.

Ein Stück Eden

Am nächsten Tag breche ich auf zur Heliopolis Universität. Ein kleines Stück Eden erwartet mich eineinhalb Stunden später, nach der staubigen Betonwüste von Kairo sehe ich Bäume voller Blüten, Schmetterlinge und eine Eidechse. 350 Studenten werden hier ausgebildet, in Pharmazie, Management und Ingenieurstudiengängen. Im Studium generale stehen auch Kunst und Eurythmie auf dem Stundenplan, die nach anfänglicher Skepsis sehr offen aufgenommen werden. Eine Besonderheit: In allen Abschlüssen findet sich das Studium Fundamentale (Core Program), das 15 Prozent der gesamten Studienleistungen ausmacht. Es orientiert sich am Leitbild einer humanistischen Ausbildung: Natur- und Sozialwissenschaften, Sprachen und Kunst sowie kritisches wie kreatives Denken sollen die Wahrnehmungsfähigkeit der Studenten schulen und interdisziplinäre Fähigkeiten herausbilden. Für Helmy Abouleish, Mitglied des Kuratoriums der Universität, bildet die Heliopolis Universität junge Menschen aus, „die in Zukunft nicht nur Arbeitsplätze suchen, sondern sie auch schaffen. Dazu ist die Ausbildung von sozialem Bewusstsein und ganzheitlich orientierter Arbeitsethik unerlässlich. Ihnen und ihren nachhaltigen Projekten wird die Zukunft gehören – nicht nur in Ägypten“. Eine Vision, die beeindruckt. Während das icecairo von den Netzwerken junger, globaler „Knowmaden“ lebt, sind Sekem und die Heliopolis Universität zu einer Institution in Ägypten geworden. Sekem wurde 1977 von dem Unternehmer und Träger des Alternativen Nobelpreises Ibrahim Abouleish gegründet und begann als Initiative für biodynamische Landwirtschaft und ist mittlerweile ein soziales Unternehmen, das neben Bio-Nahrungsmitteln unter anderem auch Öko-Textilien produziert und sich mit der Heliopolis Universität in der Bildung engagiert. Nach einem anregenden Gespräch mit einem führenden Mitarbeiter der Universität verlasse ich das Gelände erfüllt und mit neuer Kraft. In mir reift die Projektidee des Transformationslabors: Ich setzte mir das Ziel, die jungen, wilden Entrepreneure in Downtown Kairo mit Institutionen wie der Heliopolis Universität und Sekem zu vernetzen. Es ist heiß auf dem Rückweg, Abgase vermengen sich einmal mehr mit dem üblichen Hupkonzert einer gigantischen, ständig in schleppender Bewegung scheinenden Stadt.

„Morgenkreis“ in Sekem

Eine Idee wird geboren

Die nächsten Tage verbringe ich im Botschaftsviertel Zamalek zwischen den beiden Nilarmen gelegen, im Flamenco Hotel. Ich begegne den Teilnehmern des zweiten Yalla! Trainings und freue mich über die motivierte Gruppe, die sich in die „Theorie U“ von Otto Scharmer vertieft. Sie widmen sich Fragen wie: Wie gelangt das Neue in die Welt? Wie können durch Prototypen an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik Projekte und Initiativen entstehen, die den Wandel vorantreiben? All das wird theoretisch und praktisch erprobt – zehn Teilnehmer aus Deutschland und zehn aus Kairo nehmen daran teil. Am vorletzten Tag machen sie sich auf, um ihr Wissen in regionalen Organisationen zu testen.
Mit Anna Haupt von der Humboldt-Viadrina School of Governance plane ich die ersten Schritte zur Verwirklichung meiner Idee eines Transformationslabors, es soll im September 2014 stattfinden. Beim Abendessen diskutiere ich mit Marwa, der Dolmetscherin des Yalla! Trainings, über Eckart Tolle, nonduales Bewusstsein und inwiefern unterschiedliche Realitätsbrillen diese Erfahrung von Einheit völlig anders interpretieren. Es ist ein besonderer Spagat – dieser fließende Wechsel zwischen persönlicher Bewusstseinsentwicklung und Realpolitik in einer Zeit der globalen Umbrüche, die mich und viele der Generation Y prägt – dabei muss ich an Berlin und meine Professorin in „Public Policy“, Gesine Schwan, denken. Vor einigen Wochen haben wir dort den Begriff der Politik diskutiert: Sicher kann man dabei die alten Griechen zitieren, über den Machtbegriff Foucaults nachdenken oder die Funktionsweise des Kapitals wie von Marx beschrieben nachempfinden. Aber letztendlich ist er Sinn der Politik, so Hannah Arendt, die Freiheit.
Im Yalla! Projekt zur Potential- und Kulturentfaltung wird dies in der interkulturellen Begegnung deutlich: Trotz aller Differenzen erlebe ich, wie die Generation Y in einer unübersichtlicheren, rasanter werdenden Welt sich für die Freiheit einsetzt und diese im Miteinander verwirklicht sehen will. Zwischen Menschen, Kulturen und über Systeme hinweg – all das braucht eine Politik des 21. Jahrhunderts.

Author:
Adrian Wagner
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