Gurus, Institutionen und das Individuum

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Published On:

January 12, 2015

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Ausgabe 05 / 2015
|
January 2015
Vom Körper den wir haben zum Leib der wir sind
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Als ich in den achtziger Jahren begann, mich mit Anthroposophie und anthroposophischer Meditation zu beschäftigen, wurde ich darüber belehrt, den anthroposophischen Schulungsweg besser nicht mit anderen spirituellen Wegen zu vermischen. Insbesondere östliche Meditationsrichtungen wurden hier und da sogar als hinderlich angesehen, und nur hinter vorgehaltener Hand hörte man von „Seitensprüngen“ mancher Anthroposophen, ebenso aber auch von der Exklusivität anderer spiritueller Ausrichtungen. Erst mit dem neuen Jahrtausend begann Spiritualität sich zu globalisieren und verschiedene Wege stellten sich als gleichberechtigte nebeneinander.
Als ich andere meditative Praktiken kennenlernte und zum Teil über Jahre pflegte, entdeckte ich schnell, dass mir dadurch nicht nur keine Hindernisse in den Weg gelegt wurden, sondern ich mich spirituell bereichert und ausgedehnt fühlte. Neben der aktivierenden, das Denken verwandelnden Diesseits-Meditation der Anthroposophie nun bei dem spirituellen Lehrer Andrew Cohen in den Grund des Seins als ruhendem Ausgangspunkt einzutauchen oder im Vipassana Achtsamkeit für das Gegebene zu üben, ohne gleich verwandelnd in es einzudringen – das eröffnete mir innere Haltungen, spirituelle Einsichten und nicht zuletzt immer tiefere Einblicke in die Besonderheiten anthroposophischer Meditation, für die ich dankbar bin.  
Aber eine Frage tritt auf, je individueller ich meinen eigenen Weg suche und gehe: Wer eigentlich weist mir den Weg?
Jahrtausendelang fand spirituelle Schulung fast nur in mündlicher Tradition statt. Ein Guru gab sein Wissen weiter, lehrte Meditation und griff ratend oder auch machtvoll in die Lebensführung seiner Schüler ein. Im Westen wurden diese Aufgaben eher von Institutionen und ihren Beauftragten übernommen, in der Antike von den Mysterien, dann von den Kirchen oder von allerhand oft geheimnisvollen Gesellschaften, in denen eine spirituelle und manchmal bis heute geheimgehaltene spirituelle Praxis gepflegt wurde. Aber Guru oder Institution lehrten und leiteten nicht nur, sie vergegenwärtigten dem Lernenden gegenüber auch jene Geistigkeit, die sie anstrebten. Diese Vergegenwärtigung des Absoluten, des Göttlichen oder der Reinheit gab ihnen die – oft missbrauchte - Vollmacht, aus der sie agieren konnten.
In der Neuzeit und zunehmend dann im 20. Jahrhundert ist neben den Guru und die Institution das Buch getreten, das vorher höchstens als Gedächtnisstütze für bereits Unterwiesene diente. Jetzt kann man sich eigenständig orientieren, und das nicht nur hinsichtlich vorzunehmender Meditationen und Übungen, sondern auch im Hinblick auf das Verständnis von Weg und Ziel. Das Musterbeispiel eines solchen Buches ist Steiners populärer Schulungsweg-Erstling „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“. Steiner äußert darin die Überzeugung, man könne ein solches Buch nehmen wie eine persönliche Unterweisung des Verfassers an den Leser.
Aber reicht das? Braucht es nicht doch Anleitung und Begleitung, die die persönlichen Dispositionen berücksichtigt, die auf blinde Flecken aufmerksam macht und auch mal das bockige Ego in seine Schranken weist?

Wer eigentlich weist mir den Weg?


Gibt es womöglich auch zu diesen Fragen verschiedene Zugänge, je nach spiritueller Orientierung? Man wird sich leicht darauf einigen können, dass es ohne Lehrer nicht geht – genauso wenig wie in der Musik, im Sport oder beim Erlernen einer Sprache. Aber wie ist dabei das Verhältnis zwischen Autonomie des Schülers und Hingabe an den Lehrer?
Die Antwort auf diese Frage dürfte mit der jeweiligen Auffassung von Individualität zusammenhängen und ist in den verschiedenen spirituellen Strömungen unterschiedlich. In der Diesseits-Spiritualität der Anthroposophie wird das Individuum – anders als das Ego mit seinem steten Hang zur Vereinzelung – nicht als isoliertes angesehen. Vielmehr bildet das Individuum erst zusammen mit seinem Leben, seinem Umfeld und seinen Herausforderungen ein Ganzes. Und zwar so, dass die auf mich zu kommenden Herausforderungen und meine Fähigkeiten, sie zu bewältigen, aufeinander bezogen sind. Diese Ganzheit des Einzelnen mit seiner Umgebung zu erkennen und konkret zu realisieren, ist ein Kernstück anthroposophischer Schulung. Sie setzt mich in die unhintergehbare Verantwortung für mein Leben, auch in der Frage, von welchen Lehrern, Gurus oder Institutionen ich mir in welcher Art den Weg weisen lasse.
Mit Vertretern anderer Anschauungen zu untersuchen, was das genau heißt, könnte ein interessantes Gespräch sein.

Author:
Anna-Katharina Dehmelt
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