Kunst im Knast

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 14, 2014

Featuring:
Phyllis Kornfeld
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 01 / 2014
|
January 2014
Das neue Interesse an Politik
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Die Kunstlehrerin Phyllis Kornfeld findet und fördert Kreativität dort, wo sie niemand vermutet.

Gefängnisse sind Orte, die kaum auf unserem Bewusstseinsradar erscheinen, denn dieser Mikrokosmos vereint jene Menschen, vor denen wir uns als Gesellschaft schützen wollen. Doch leben hier Menschen wie wir alle, mit ungeahntem Potenzial für Kreativität und Entfaltung. Phyllis Kornfeld hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dieses Potenzial zu finden und in den Häftlingen, mit denen sie arbeitet, zum Ausdruck zu verhelfen. Im evolve-Interview spricht sie über ihre Arbeit und darüber, was sie dabei bewegt.

evolve: Sie haben erst einige Jahre als Kunstlehrerin gearbeitet und dann, vor 30 Jahren, mit Ihrer Arbeit in Gefängnissen begonnen. Was hat Sie dazu inspiriert, Gefängnisinsassen Kunstunterricht zu geben?

PK: Als ich zum ersten Mal ins Gefängnis kam, um mit Inhaftierten zu arbeiten, sah ich einige wunderbar neue, schöne Kunstwerke, die diese Männer ohne irgendeinen Kunstunterricht oder einen Lehrer geschaffen hatten. Das zeigte mir unmittelbar, dass diese Menschen Zugang zu einem Ort in sich haben, der schon weiß, was zu tun ist, sodass sie wunderschöne, innovative Kunstwerke in ihrem inneren Auge sehen und aus sich heraus in die Welt bringen können. Es war ein solches Mysterium, dass jemand, der zum Leben in einer dunklen, kahlen Zelle verurteilt ist, hinausgreifen kann in unbekannte Universen, und das mit einem äußerst tiefen Gespür für das Gute, sogar das Anmutige. Es ist immer noch ein Mysterium, aber ich habe gelernt, alles aus dem Weg zu räumen, was diese geheimnisvolle Kreativität verdeckt.

evolve: Sie arbeiten in Gefängnissen, auch im Hochsicherheitstrakt – an Orten also, die man meist als sehr düster empfindet, und mit Menschen, die wahrscheinlich ziemlich verzweifelt sind. Im Gefängnis herrschen raue Sitten. Und nun sprechen Sie von einem solchen Impuls zum Guten und Schönen, und Sie fördern ihn bei diesen Menschen auch zutage. Es ist gar nicht so leicht, sich das vorzustellen, und ich frage mich: Wie ist das für Sie? Wie geht es Ihnen, wenn Sie mit Menschen in so einer – meiner Vorstellung nach – tief verzweifelten Situation arbeiten?

PK: Ungefähr 90 Prozent der Gefangenen wurden recht früh in ihrem Leben sexuell oder körperlich missbraucht. Im Gefängnis werden sie oft unmenschlich behandelt und ständig gedemütigt. Durch dieses Leben haben sie ein sehr negatives Selbstbild entwickelt, ganz zu schweigen davon, dass dieses Umfeld wirklich hässlich ist. Dass sie etwas so Gutes und Schönes hervorbringen können, ist eine totale Überraschung und eine tief gehende Erfahrung, gerade weil der Kontrast so stark ist. Andererseits haben Menschen, die lange Zeit eingesperrt sind, eine geringere Abwehr als andere. Sie haben nicht diese dicke Schicht von Unsicherheit um sich herum, sie haben den Versuch aufgegeben, andere mit ihrem Gutsein zu beeindrucken, weil sie das Gefühl haben, dass sie es nicht sind. In gewisser Weise ist es also bei Gefängnisinsassen viel einfacher, an diese Quelle der Kreativität heranzukommen, als bei anderen. Sie haben nur eine dünne Schutzschicht, weil sie die in ihrem Umfeld brauchen, aber ich habe gemerkt, dass es so (schnipst mit den Fingern) leicht ist, da durchzukommen. Sie glauben mir, wenn ich ihnen sage, dass es in ihnen einen solchen guten, reinen und unverfälschten Anteil gibt, den sie bloß noch nicht genügend trainiert haben. Genau um diesen Anteil geht es in unserer Arbeit. Zu ihm suchen wir den Zugang und ihn wollen wir zum Aufblühen bringen.

Ich versuche nicht, ihr Denken zu ändern oder irgendeine Art von Therapie anzuwenden oder ihre Vergangenheit zu erforschen oder so etwas. Ich sage bloß: Lass das hinter dir, du brauchst es nicht auszudrücken, darüber reden wir nicht. Diese Haltung ist für sie zwar etwas vollkommen Neues, aber gleichzeitig spüren sie meine Überzeugung. In ihren Augen geht ein Leuchten auf, das sagt: Moment mal, vielleicht ist es ja tatsächlich möglich, ich probiere es aus!

evolve: Wie nehmen Sie die Beziehung zu diesen Menschen auf, wenn Sie versuchen, ihnen die Erfahrung eines unversehrten Ortes in ihrer Tiefe zu vermitteln? Versuchen Sie nicht auch, sie irgendwie zu verändern? Einige von ihnen haben ziemlich schreckliche Dinge getan. Wie gehen Sie damit um? Sagen Sie: Ich vermittle ihnen die Erfahrung eines Ortes in ihrer Tiefe und hoffe einfach, dass diese Erfahrung sie zu besseren Menschen macht, oder denken Sie gar nicht so und sagen stattdessen: Ich möchte ihnen eine Chance geben und dann ist es ihre Sache, was sie daraus machen?

PK: Mir wurde schon ganz früh klar, dass es für mich keine Rolle spielt, welches Verbrechen sie begangen haben, denn ich interessiere mich nicht für ihre Vergangenheit und will diese alten Erlebnisse nicht wieder aktivieren, die so negativ sind und ihnen das Gefühl vermitteln, schlecht zu sein.

Ich war überrascht, wie vertrauenswürdig, wie loyal und ehrenhaft sie sein wollen und auch sind, egal was sie getan haben. Und ich kenne auch in mir selbst die böswilligen Anteile. Wir sind gleich. Diese Menschen sind alle aus demselben Stoff gemacht wie ich, und wie auch immer ihr Leben gelaufen ist, ich halte überhaupt nichts von der Idee, dass jemand böse auf die Welt kommt oder ein von Grund auf schlechter Mensch ist. Ich behandle sie voller Respekt, einfach aus dem Grund, dass sie Menschen sind. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir alle untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist also nicht so, dass ich, ein guter Mensch, mit schlechten Menschen spreche, das entspricht überhaupt nicht meiner Erfahrung. In Wirklichkeit haben viele von ihnen ganz Furchtbares durchgemacht. Sie haben versucht zu überleben, mit allen Mitteln, die ihnen möglich waren. Ich habe mich intensiv mit dem Thema Gewaltprävention auseinandergesetzt. Wodurch werden Menschen gewalttätig? Ganz oft läuft es bei der Prävention auf den Respekt hinaus – Selbstrespekt und Respekt vor anderen. Sie haben etwas Böses getan. Das wissen sie. Und das Umfeld, in dem sie leben, erinnert sie auch ständig daran.

evolve: Sie haben offenbar eine Vision, wie die Trennung zwischen Gefängnisinsassen und der übrigen Gesellschaft aufgehoben werden könnte. Wir denken ja eigentlich gar nicht über Menschen im Gefängnis nach; wir sperren sie weg, um uns sicher zu fühlen. Sie versuchen, ihre Kreativität hervorzulocken, und geben ihnen darüber hinaus die Chance, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, indem Sie ihre Kunst der Öffentlichkeit zeigen. Wie könnte man denn auf neue, andere Weise mit Menschen umgehen, die im Gefängnis sitzen?

PK: In unserer Kultur, in unserer Gesellschaft werden alle so in Schubladen gesteckt. Wir bleiben untereinander in unserer Gruppe und fürchten uns vor allen anderen. Das hat in mir den Impuls geweckt, diese Projekte zu starten. Die Öffentlichkeit soll einen Blick bekommen für die Menschlichkeit hinter Gittern, indem ich diese grandiose Kunst ausstelle. Ich gebe den Inhaftierten auch die Chance, großzügig zu sein: In einem Projekt stifteten sie ihre Briefumschlag-Kunst. Briefumschlag-Kunst ist eine traditionelle Form der Gefängniskunst; die Gefangenen gestalten normale Briefumschläge und schicken sie nach draußen. Ich ging zu Menschen in sechs oder sieben Justizvollzugsanstalten, Gefängnissen oder Zuchthäusern, hohe und normale Sicherheitsstufen, und habe Plakate aufgehängt, auf denen ich die Insassen einlud, ihre Umschläge zu spenden. Sie mussten die Umschläge kaufen, sie künstlerisch gestalten, und sie erhielten eine Liste mit Anweisungen. Es durften keine kommerziellen Cartoons darauf sein, keine Darstellungen von Gewalt und so weiter. Schließlich wurden die Umschläge dann bei einer hochkarätigen Kunstausstellung in New York ausgestellt und verkauft. Der gesamte Erlös ging an eine Organisation, die Teenager dazu anleitet, im Einzelunterricht kleinen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen – Kindern, bei denen schon zu Beginn ihrer Schulzeit eine belastete Situation festgestellt wurde. Auf diese Weise haben wir eine Verbindung hergestellt von den Gefängnisinsassen über die Kunstliebhaber über die Teenager zu den Kindern und noch weit darüber hinaus, denn viele der Käufer verwendeten die Umschläge tatsächlich dazu, Briefe zu verschicken.

Es geht mir nicht nur um das Wohlergehen dieses einen Menschen, der im Gefängnis sitzt und ein Bild malt. Es geht mir auch um die Auswirkungen, die das auf die Mitgefangenen hat, auf das Personal, ihre Familie und die Gemeinschaft, in die sie einmal zurückkehren. Sie haben mir oft erzählt, dass ihnen jetzt mehr Respekt entgegengebracht wird. Die Wärter schauen ihnen über die Schulter und sagen: „Du hast echt Talent, das sieht ziemlich gut aus.“ Oft schicken die Frauen und Männer ihre Kunstwerke auch aus dem Gefängnis an ihre Kinder. Sie schicken eine Zeichnung nach Hause, die wird gerahmt und im Wohnzimmer aufgehängt, und dann macht die Familie ein Foto, wie das Bild im Wohnzimmer hängt und die kleinen Kinder es anschauen, und schicken das Foto zurück an den Häftling. Es gibt eine neuere Statistik, die besagt, dass eins von fünf Kindern von Inhaftierten selbst eines Tages ins Gefängnis kommt. Daher ist es wichtig, dass die Häftlinge ihren Kindern ihre respektwürdige, wertvolle Seite zeigen können. Die Kinder, deren Eltern im Gefängnis sitzen und die sich damit ihren Klassenkameraden stellen müssen, zeigen ihren Freunden diese fabelhaften Zeichnungen und Gemälde und haben Grund, stolz auf ihre Eltern zu sein. Ohne den Ernst der Inhaftierung schönzureden, kann ich bei meinen Vorträgen an Universitäten und Schulen über die weitreichenden positiven Effekte sprechen, die von diesem einen Menschen ausgehen, der da sitzt und seine Bilder malt.

Wenn wir sie weiterhin demütigen und bestrafen, fördern wir bei ihnen Wut und gewalttätiges Verhalten. Wenn wir sie dagegen ausbilden, ihre Suchterkrankung behandeln und ihnen kreatives Tun ermöglichen, ist ihre Verfassung am Tag der Entlassung besser als an dem Tag, an dem sie inhaftiert wurden.

Ich habe gelernt, alles aus dem Weg zu räumen, was diese geheimnisvolle Kreativität verdeckt.

evolve: Ihre Vision einer Gesellschaft, in der all diese Elemente verbunden sind, ist sehr berührend. Und was mich beim Zuhören ebenfalls bewegt hat, ist diese Positivität. Ich spüre ein tiefes Vertrauen in die Positivität des Lebens und in unser menschliches Wesen, durch das wir ein neues Fundament für unser Leben und auch für die Gesellschaft finden können. Zwar müssen manche Menschen für einige Zeit aus der Gesellschaft sozusagen herausgenommen werden – weil sie wirklich gefährlich sind –, doch dürfen wir den positiven Kern, der in uns allen steckt, nie vergessen. Für ein evolutionäres Erwachen ist dieses Erwachen zur Positivität des Lebens und des Lebensprozesses wesentlich. Sie bringen das in einem der härtesten Segmente der Gesellschaft zum Ausdruck.

PK: Ich habe einige „Klassenregeln“. Meine erste Regel besagt: keine Negativität ausdrücken. Die Häftlinge finden das toll. Einer sagte mal zu mir: „Wissen Sie, warum ich bei Ihrem Kurs mitmache? Weil ich gehört habe, dass es hier nicht erlaubt ist, negativ zu sein. Das ist irre!“ Ich sage ihnen, dass es nicht erlaubt ist, Negativität auszudrücken. Dazu gehört auch Gähnen, das Papier zu zerreißen, auch eine Menge nonverbaler Formen von Negativität. Sie mögen das sehr und schätzen es. Es gibt einen sehr einfachen Weg, den Unterschied zwischen negativ und positiv zu verstehen, zwischen „Ich kann keine Pferde zeichnen“ und „Ich möchte gern lernen, Pferde zu zeichnen.“ Der eine Satz verschließt alle Möglichkeiten, der andere öffnet die Tür. Das ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, was negatives oder positives Sprechen bewirkt. Der Wunsch, zu lernen, zu wachsen und sich zu entwickeln, ist immer positiv.

Dieser Drang, dazuzulernen, ist in meinen Augen wirklich der schöpferische Impuls im Menschen, der auch in der Kunst seinen Ausdruck findet. Dieser Impuls ist viel größer als wir selbst, und ich mache es den Menschen, mit denen ich arbeite, immer und immer wieder klar, dass ihnen der schöpferische Impuls nicht gehört, dass wir hier ein Mysterium berühren. Es gehört ihnen nicht, aber sie haben die Möglichkeit, es freizusetzen und ihm eine Richtung zu geben.

evolve: Sie sind, glaube ich, 75 Jahre alt. Ich bin fasziniert, dass Sie immer noch in Gefängnisse gehen und mit den Menschen dort arbeiten. Aber ich sehe auch, wie es Sie zutiefst inspiriert, und Sie inspirieren auch die Menschen dort.

PK: Das ist sehr wahr. Ich spüre, wie dringend der Ruf ist. Je älter ich werde, desto stärker bewegt mich diese Dringlichkeit. Mit 75 sieht man sich einer Menge Einschränkungen ausgesetzt, und ich versuche, mir dieser Einschränkungen bewusst zu sein. Wenn beispielsweise meine Hüfte mehr als zwei Tage am Stück wehtut, muss ich etwas mehr Ruhe geben. Es ist keine große Sache und es schmälert meine Begeisterung, meine Energie und meine Kreativität in keiner Weise. Die Dringlichkeit besteht darin, dass ich so vielen Menschen wie nur möglich meine Botschaft weitergeben möchte, solange ich dazu noch in der Lage bin. Das Altern passiert einfach. Ich habe nicht mehr alle Zähne und auf dem rechten Ohr höre ich nicht mehr so gut, aber das ist im Grunde völlig egal. Ich kann es ganz leicht kompensieren. Ich habe einfach das Gefühl, das ist der beste Abschnitt meines Lebens, dabei habe ich auch bisher schon wirklich ein erfülltes Leben gehabt. Diese ausgefallenen Zähne und die Schwerhörigkeit werden dadurch, dass ich meinen Lebenssinn immer deutlicher sehe, voll ausgeglichen. Einen Lebenssinn zu haben, gibt so viel Energie, es ist einfach unglaublich.

Der Wunsch, zu lernen, zu wachsen und sich zu entwickeln, ist immer positiv.

Ich fühle mich auch verantwortlich dafür, ein Vorbild für das Altwerden zu sein. Wer das Leben so sehr liebt, kann das Altern einfach nicht hassen, kann den Tod nicht hassen. Man kann den Tod nicht hassen, weil er nicht vom Leben getrennt ist. Ich bin so unglaublich dankbar dafür, dass ich geradezu über diese Arbeit gestolpert bin, beinahe durch reinen Zufall. Es macht mir überhaupt keine Schwierigkeiten, zu überlegen, was ich als Nächstes tun werde. Es läuft immer darauf hinaus, was ich am besten kann und was die stärkste Wirkung auf andere Menschen hat. Das ist immer die richtige Wahl.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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