Politik der Möglichkeiten

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 14, 2014

Featuring:
Harald Welzer
Jascha Rohr
Otto Scharmer
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Issue:
Ausgabe 01 / 2014
|
January 2014
Das neue Interesse an Politik
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„Es gibt keine Alternative!“, mit diesem Argument wollen sich viele heute nicht abfertigen lassen. Immer mehr suchen nach neuen politischen Ansätzen. Unser Redakteur Mike Kauschke hat einige von ihnen etwas genauer betrachtet, um herauszufinden, ob sich darin etwas Gemeinsames, eine Art Signatur der Zukunft, erkennen lässt.

Deutschland hat die GroKo. Die Parteivertreter haben ihre Kompromisse gefunden. Die Medien konzentrieren sich auf all die Pläne zu Betreuungsgeld, Maut, Energiewende, Mindestlohn und Renten. Wichtige Themen, aber spricht auch jemand über einen Gestaltungsentwurf für unsere Gesellschaft? Ein solcher scheint gegenwärtig zu fehlen. Der Koalitionsvertrag zeugt von dem Bemühen, kurzfristige Antworten auf drängende Fragen zu finden, doch was ist mit grundsätzlichen Perspektiven einer gerechten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Politik? Fehlanzeige!
Das Gute an diesem Mangel ist, dass er wahrgenommen wird. Es zeigt sich in der Gesellschaft ein neues Interesse an Ideen und Konzepten, die mehr im Sinn haben als einen Tapetenwechsel und das Umräumen einiger Möbel. Es scheint, dass immer mehr Menschen eine Idee davon entwickeln, wie es sein könnte, in ein neues Stockwerk umzuziehen, die Vorzeichen von Politik auf ganz grundlegende Weise zu verändern.
Einige dieser Ideen reichen weit zurück, zumindest in die bewegten 60er und 70er Jahre, in denen der Ruf nach mehr politischer Partizipation besonders laut war. Andere Ansätze, die vor allem unser wirtschaftliches Handeln hinterfragen, haben mit der Finanzkrise neuen Wind bekommen oder sind eine direkte Reaktion darauf.
Sehen wir Ansätze einer neuen politischen Kultur? Worin unterscheiden sie sich von den Ideen der 70er Jahre? Scheinen hier neue Werte und Bewusstseinshaltungen auf? Vielleicht zeigt sich ja auch so etwas wie eine Signatur der Zukunft, etwas, dass diese Ansätze miteinander verbindet und sie in den umfassenderen Kontext unserer Bewusstseins- und Kulturentwicklung stellt.

Zukunft ist machbar

Der Soziologe Harald Welzer war vor der letzten Bundestagswahl einer der pointiertesten Kritiker der Parteipolitik und begründete seinen Entschluss, nicht zu wählen, damit, dass die etablierte Politik nicht mehr die grundlegende politische Frage stelle: Wie wollen wir leben? Statt wirkliche Gestaltungsentwürfe für die Zukunft zu entwickeln, werde kurzfristig in allen Bereichen herumgebastelt und die Standpunkte der Parteien seien immer beliebiger: Es „finden sich quer durch die Parteien so vollständig austauschbare Positionen, dass es keine Mühe macht, sich in jeder beliebigen Koalition jeden beliebigen Politikdarsteller in jedem beliebigen Ressort zu imaginieren.“ Tatsächlich hat man den Eindruck, dass bei der Vergabe von Ministerposten nicht zuforderst die Kompetenz und Begeisterung für das Thema entscheidet, sondern alle möglichen Machterwägungen.

Mitbestimmung ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verantwortung.


Welzer selbst hat die gemeinnützige Stiftung FUTURZWEI ins Leben gerufen, die Menschen und Institutionen unterstützt, die in unterschiedlichen Bereichen nach zukunftsfähigen Lösungen suchen: zum Beispiel Möglichkeiten autofreier Mobilität, Regionalwährungen, Recyclingprojekte oder Umweltschutzinitiativen. Im Zukunftsarchiv werden diese Initiativen vorgestellt und können andere inspirieren, ihre eigenen Ideen umzusetzen. Leitsterne dieser Gestaltungsinitiative sind Kompetenz (Was kann ich wirklich gut?), Begeisterung (Was will ich wirklich tun?) und Zukunftsfähigkeit (Wie kann ich zu einer lebenswerteren Welt beitragen?). Hier wird gesellschaftliche Veränderung als zutiefst kreatives Unterfangen gelebt, denn „eine andere, zukunftsfähige Kultur des Lebens und Wirtschaftens entsteht nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse oder moralische Appelle. Sie wird in unterschiedlichen Laboren der Zivilgesellschaft vorgelebt und ausprobiert.“ Es geht nicht um abstrakte Systemveränderung, sondern darum, etwas zu tun. Menschen nehmen konkrete Projekte in die Hand. Sie vernetzen sich und unterstützen einander. Gerade daraus entsteht so etwas wie eine neue Zivilgesellschaft.
Bei dem Begriff Zivigesellschaft lohnt es sich, einen Moment zu verweilen. Er meint einen Bereich zwischen staatlicher, wirtschaftlicher und privater Sphäre. Die Zivilgesellschaft entstand erst durch die Meinungs- und Gestaltungsfreiheit unserer modernen Demokratie. Wenn man auf die autoritären Systeme in vielen Ländern dieser Welt blickt, erkennt man erst, was für eine Errungenschaft der Geschichte die Zivilgesellschaft unserer heutigen Zeit wirklich ist. Und vielleicht macht sie gerade einen neuen Entwicklungssprung.

Jeder Mensch ist ein Politiker

Dass von der Zivilgesellschaft mehr politische Einflussnahme ausgehen sollte, elektrisierte die 70er Jahre. Rufe nach Basisdemokratie wurden laut, Joseph Beuys gründete damals das „Büro für direkte Demokratie“. Fast eine ganze Generation junger Menschen wollte sich damals nicht mehr von Staat und Wirtschaft gängeln lassen. Politisch mündete diese Phase in die Gründung der Grünen Partei. Die bärtigen und strickenden Außenseiter von damals sind mittlerweile zu wichtigen Koalitionspartnern der Sozial- wie Christdemokraten geworden.
Aber auch die Idee der direkten Demokratie lebte weiter und ist heute wieder vermehrt ein Thema. Die SPD testete zum ersten Mal eine Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag, und so unterschiedliche Politiker wie Sigmar Gabriel, Horst Seehofer oder Heiner Geißler denken laut über den Sinn von Volksentscheiden nach.
Der Verein „Mehr Demokratie!“ und das Projekt „Omnibus für direkte Demokratie“ sind heute aktive Visionäre einer solchen Partizipation. Der Verein „Mehr Demokratie!“ mit etwa 7000 Mitgliedern betreibt auf Länder- und Bundesebene Aktionen und Bildungsprogramme, um Bürgerentscheide zu initiieren und durchzuführen. Der „Omnibus für Direkte Demokratie“, der vom Beuys-Schüler Johannes Stüttgen geleitet wird, fährt durch die Lande, um Menschen zu diesem Thema ins Gespräch zu bringen. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen warben beide Vereine aktiv für die Aufnahme bundesweiter Volksentscheide in den Vertrag und sammelten dazu 165.000 Unterschriften dafür. Anstoß dafür war ein öffentlich gewordenes Papier der Arbeitsgruppe „Innen und Justiz“, in dem ein „behutsamer Einstieg“ in die direkte Demokratie empfohlen wurde. Obwohl diese Empfehlung schließlich nicht in den Vertrag aufgenommen wurde, scheint sich doch eine neue Offenheit für dieses Thema abzuzeichnen.

Das politische System krankt an der bestehenden Trennung zwischen institutionalisiertem Berufspolitikertum und der Alltagsrealität der Bürger.


Aber hat sich seit den Zeiten von Beuys und Dutschke etwas verändert? Zunächst einmal ist augenscheinlich, dass sich der gesellschaftliche Mainstream insgesamt bewegt hat, denn eine konservative Regierung, die den Atomausstieg beschließt, und führende Politiker, die erste Schritte in eine direkte Demokratie befürworten, sind deutliche Indizien für einen grundlegenden Wandel. Die aktuellen Ansätze zur direkten Demokratie sind heute scheinbar weniger von einem Aufbegehren gegen einen als entmündigend empfundenen Staat geprägt, sondern vielmehr von einer Vision der Weiterentwicklung unseres Selbstverständnisses als Bürger in einer Bürgergesellschaft. Denn in einer direkten Demokratie wären wir alle eingeladen und aufgefordert, an den gesellschaftlichen Diskussionen mitzuwirken, wodurch wir mehr zu bewussten Mit-Gestaltern werden. Dann würde es aber sozusagen auch zur „Bürgerpflicht“, bewusster zu werden. Mitbestimmung ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verantwortung, sich um wichtige politische Fragen Gedanken zu machen. Wir müssten bereit sein, uns in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs mit komplexen Themen zu konfrontieren und könnten das nicht mehr bequem „den Politkern“ überlassen. Wir alle wären Politiker.
Auch der Kontext unseres Bürgerseins würde so erweitert. Natürlich sind wir zunächst Bürger eines Landes, aber wir sind auch Bürger Europas, der Welt. Politische Ansätze wie die Simultanpolitik (s. S. …) gehen von einer Weltbürgerschaft aus und versuchen Bürger verschiedener Länder in ihren politischen Zielen zu verbinden.

Emergenz der Demokratie

Hierbei wird klar, dass die jetzigen politischen Strukturen mit solch einem Gestaltungsschub gegenwärtig gar nicht fertig werden können. Aus dieser Einsicht heraus gründete der Berater Jascha Rohr die „Bundeswerkstatt“. Die Idee ist simpel, neben Bundestag und Bundesrat wäre die Bundeswerkstatt eine Art dritte parlamentarische Kammer, in der Vertreter von Interessengruppen und „einfache Bürger“ über die relevanten politischen Fragen in einen Dialog kommen könnten. Zentral wäre die Nutzung von Wir-Prozessen wie Otto Scharmers U-Prozess oder World Cafés, um mit „kollektiver Intelligenz“ zu neuen Lösungen zu kommen. Es wäre ein qualitativ neuer Aspekt politischer Entscheidungsfindung, der nicht aus Kollision und Kompromiss von Einzelmeinungen entsteht, sondern aus einem gemeinsamen Erkenntnisprozess als Emergenz, der Handlungsoptionen „sichtbar“ werden lässt. In Unternehmen und NGOs werden solche Prozesse schon angewendet, aber in der Politik sind sie wegen ihrer Unberechenbarkeit noch ungenutzt.  
Jascha Rohr sagt über diesen, seiner Meinung nach nächsten Evolutionsschritt einer „kollaborativen Demokratie“: „Indem man gestaltet, indem man sein äußeres Umfeld verändert, verändert man immer auch sich selbst, es ist ein wechselseitiger Prozess. Man muss das Thema in einem weiteren Umgriff verstehen, andere Sichtweisen in Betracht ziehen, sich innerlich bewegen. Dieser Prozess hat viel mit Bewusstwerdung zu tun.“ Solche Räume des Dialogs würden also auch die daran Beteiligten bilden und das Bewusstsein für das gesellschaftliche Ganze erweitern. So würde es wahrscheinlicher, dass Lösungen entstehen (emergieren), die diesem Ganzen dienen – ein Quantensprung im Vergleich zu den von Partei- und Lobbyinteressen bestimmten Diskussionen gegenwärtiger Politik.
Durch einen solchen Perspektivwechsel würde Demokratie zu einem offenen System, das sich unter Beteiligung aller ständig entwickelt. Vielleicht war das auch die Intuition der Piraten mit ihrer Forderung nach „Liquid Democracy“, durch die sich nicht nur die Inhalte der politischen Diskussion entwickeln, sondern auch die Strukturen der Mitgestaltung selbst. Hier könnte auch eine angemessene Integration unserer technologischen Errungenschaften in den politischen Prozess an der Zeit sein.  
So sieht es jedenfalls einer der wichtigsten Denker Lateinamerikas und Begründer der „Philosophie der Befreiung“ Enrique Dussel, für den die partizipative Demokratie die „Revolution des 21. Jahrhunderts“ ist: „Für mich sind die elektronischen Medien für die Politik, was die Dampfmaschine für die Industrie war. Die industrielle Revolution veränderte den Produktionsprozess. Die elektronischen Medien verändern den politischen Entscheidungsprozess. Es wird ein Moment kommen, da macht der Präsident einen Vorschlag und … wupp … nach zehn Sekunden wird man sagen können: Okay, 70 Prozent sind dagegen, wir müssen das diskutieren.“

Ein Berg Geld auf dem Marktplatz

In Sachen Bürgerbeteiligung sind uns unsere Schweizer Nachbarn einige Schritte voraus, denn dort können Themen zur Abstimmung gebracht werden, für die es 100.000 Unterstützer gibt. So wurde schon über eine Deckelung der Managergehälter abgestimmt und jetzt auch über eine Idee, die gerade mächtig an Fahrt gewinnt: Das bedingungslose Grundeinkommen. Mit einer spektakulären Aktion, einer Mischung aus Performance und politischer Meinungsäußerung, wurde die Gesetzesinitiative eingereicht: Auf dem Bundesplatz in Bern wurden 8 Millionen 5-Rappen-Münzen abgekippt, 15 Tonnen schwer und mit einem Gesamtwert von 400.000 Franken – für jeden Einwohner der Schweiz ein Geldstück. Die Initiatoren Daniel Häni und Enno Schmidt nannten ihre Aktion „Kopf oder Zahl?“, denn genau um diese Frage ginge es beim Grundeinkommen: Sieht man nur die Zahlen oder auch den Menschen?

Die Gründe für unsere heutige Misere liegen vielfach in entfesselten Eigeninteressen.


Auf subtile Weise hebt die Idee des Grundeinkommens die bisherige Trennung von Wirtschaft und Politik, von der Notwendigkeit des Geldverdienens und der Freiheit zur Partizipation auf. Die Frage, was Menschen tun würden, wenn für ihr Einkommen gesorgt wäre, könne, so Daniel Häni, „ganz existenzielle und befreiende Bewusstseinsprozesse auslösen“. Denn wenn wir nicht mehr einen großen Teil unserer Lebenszeit zwangsläufig dafür verwenden müssten, unseren Lebensunterhalt sicherzustellen (und damit einem System zu dienen, an dem wir längst zweifeln), hätten wir Raum, um über die ganz grundsätzlichen Fragen nachzudenken – und uns entsprechend zu engagieren. In gewisser Weise krankt das politische System ja genau an der bestehenden Trennung zwischen institutionalisiertem Berufspolitikertum, das die Verbindung zum Leben als Ganzem längst verloren hat, und der Alltagsrealität der Bürger, die sich in einem wirtschaftlichen System, das nur noch sich selbst zu dienen scheint, verschleißen. Was könnte möglich werden, wenn wir wieder Zeit hätten, uns zu fragen, was wir wirklich wollen? Aus Sicht von Jürgen Greiner vom Center for Human Emergence, der das Grundeinkommen unter den Vorzeichen kultureller Evolution betrachtet, würde diese Frage zu einem positiven „evolutionären Stress“ führen, zu einer geistigen Dynamisierung der Gesellschaft.

Gemeinwohl Welt

Die Erkenntnis, dass politische Gestaltung auch ein gezieltes Hinterfragen der Rahmenbedingungen des Wirtschaftssystems erfordert, findet auch in der Idee der Gemeinwohlökonomie ihren Ausdruck. Christian Felber, Autor und Attac-Aktivist, gehört zu den Vorreitern dieses Ansatzes, der „den Werte-Widerspruch zwischen der Wirtschaft und der Gesellschaft auflöst, indem in der Wirtschaft dieselben Verhaltensweisen und Werte belohnt und gefordert werden sollen, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen.“ Felber weist auf die Verfassung hin, in der das „Wohl der Allgemeinheit“ als Wert formuliert wird: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die Realität wirtschaftlichen Handelns sehe jedoch oft ganz anders aus. Deshalb sollen in der Gemeinwohlökonomie Beiträge für das Gemeinwohl beispielsweise durch niedrige Steuern belohnt werden, sodass schlussendlich ökologisch und ethisch wertigere Produkte am Markt billiger angeboten werden könnten als solche, die das Gemeinwohl gefährden oder gar zerstören. Über 850 Unternehmen haben sich bisher selbst verpflichtet, eine Gemeinwohlbilanz zu erstellen.
Die Frage nach dem Gemeinwohl ist im Hinblick auf politischen Wandel deshalb so zentral, weil die Gründe für unsere heutige Misere vielfach in entfesselten Eigeninteressen liegen. Was wir unter Gemeinwohl verstehen, entwickelt sich und hängt auch davon ab, mit wem und was wir uns als „gemein“ empfinden. Wenn die eigene Familie, Firma, Nation oder Religion unsere Gemeinschaft ist, werden wir anders handeln, als wenn wir uns der Welt als lebendigem System und der Menschheit als kulturellem Wachstumsprozess zugehörig und damit auch dafür verantwortlich fühlen.
Es gibt zwei Aspekte, die in den Ideen politischer und gesellschaftlicher Erneuerung immer wieder anklingen: Wir als Menschen sind die freien, schöpferischen Gestalter unseres eigenen Werdens. Und wir sind ungetrennter Teil eines umfassenderen Prozesses der Weltentwicklung, der unsere bewusste und fürsorgliche Mitwirkung braucht. Diese Erkenntnis selbst ist vielleicht der Entwicklungsschritt, der sich heute andeutet. Eine Signatur der Zukunft, der wir gemeinsam eine politische Gestalt geben können.

Informationen zu den beschriebenen politischen Denkansätzen:

www.futurzwei.org
www.mehr-demokratie.de
www.omnibus.org
de/www.simpol.org
www.bundeswerkstatt.de
www.grundeinkommen.ch
www.grundeinkommen.de
www.gemeinwohl-oekonomie.org

Author:
Mike Kauschke
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