Irreführende Spiritualität

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

July 7, 2025

Mit:
Christopher Wallis
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AUSGABE:
47
|
July 2025
Interbeing
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Über das Buch »Toxic Spirituality« von Christopher Wallis

Toxische Beziehungen. Toxische Ideologie. Toxische Männlichkeit. Und nun auch noch »Toxic Spirituality«, so der Titel des neuen Buches von Christopher Wallis. Was auf den ersten Blick wie Mitschwimmen im Mainstream der starken Zuschreibungen wirkt, hat inhaltlich durchaus seine Berechtigung. Wallis ist promovierter Religionswissenschaftler und praktiziert klassisches Tantra. Systematisch nimmt er sich Halbwahrheiten vor, die in spirituellen Szenen, Glücksratgebern und nicht wenigen Yogastudios verbreitet sind, und entlarvt ihre Potenz, die spirituelle Suche zu vergiften. Natürlich ist Spiritualität an sich nicht toxisch, aber Halbwahrheiten können es sein.

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Über das Buch »Toxic Spirituality« von Christopher Wallis

Toxische Beziehungen. Toxische Ideologie. Toxische Männlichkeit. Und nun auch noch »Toxic Spirituality«, so der Titel des neuen Buches von Christopher Wallis. Was auf den ersten Blick wie Mitschwimmen im Mainstream der starken Zuschreibungen wirkt, hat inhaltlich durchaus seine Berechtigung. Wallis ist promovierter Religionswissenschaftler und praktiziert klassisches Tantra. Systematisch nimmt er sich Halbwahrheiten vor, die in spirituellen Szenen, Glücksratgebern und nicht wenigen Yogastudios verbreitet sind, und entlarvt ihre Potenz, die spirituelle Suche zu vergiften. Natürlich ist Spiritualität an sich nicht toxisch, aber Halbwahrheiten können es sein.

In der buddhistischen Philosophie werden sie »nahe Feinde« genannt. Sie scheinen nah an der Wahrheit zu sein, verzerren diese jedoch. Zum Schaden der Menschen, die die Wirklichkeit erkennen oder erwachen wollen. Dieses Amalgam aus Wahrheitskern, Fehlinterpretationen, Projektionen und manchmal auch bewusster Irreführung ist schwieriger zu erkennen als offensichtliche Unwahrheiten oder dreiste Lügen. Ihr wahrer Kern wird benutzt, um die unwahren Ingredienzien zu verteidigen. Sie erzeugen die Illusion von Wissen und halten sich hartnäckig, da unser Gehirn dazu neigt, bestätigende Informationen willkommen zu heißen und widerstrebende Fakten auszublenden. Einige Beispiele aus dem Buch:

»Liebe dich selbst!« Wallis weist auf die Fallstricke dieser Anweisung hin. Anstatt in die Einheit des universellen, unteilbaren Prinzips der Liebe zu führen, spaltet er in einen Teil, der liebt, und einen, der geliebt wird. Was passiert, wenn der Satz auf einen westlich geprägten Mindset trifft? Seit frühesten Kindertagen wird uns eingetrichtert, dass man sich Respekt, Aufmerksamkeit und Zuwendung, sprich: Liebe verdienen muss. Liebenswürdigkeit ist zu beweisen. So kann Leistungsdenken die fatale Folge dieser »Lehre« sein.

»Alles geschieht aus einem bestimmten Grund.« Dieser Hinweis auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung im Universum stimmt grundsätzlich. Allzu oft jedoch behaupten diejenigen, die ihn äußern, den Grund eines Ereignisses zu kennen. Sie meinen, eine besondere Verbindung zum Göttlichen zu besitzen. In Wirklichkeit projizieren sie lediglich ihre Wünsche nach Sinn und Kontrolle oder benutzen diesen Glaubenssatz, um die Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen »ans Universum abzugeben«.

»Finde die Bestimmung deiner Seele.« Wer sie nicht findet, so der Umkehrschluss, hat nicht genug meditiert oder innere Arbeit geleistet. Die Dogmen der Leistungsgesellschaft streuen auch hier ihr Gift und ihre Glaubenssätze. Wallis setzt dagegen die Lehre östlicher Weisheitstraditionen: »Deine Essenz-Natur ist immer schon vollkommen, sie braucht keinen Zweck.«

Kalendersprüche und Plattitüden aus dem spirituellen Flachland sind weit verbreitet: »Tu, was dich glücklich macht«, »Etabliere dein bestes Selbst« oder »Du erschaffst deine eigene Realität«. Solche vermeintlich auf fernöstlicher Weisheit beruhenden Maximen lassen sich mühelos in die westlich-kapitalistische Denkweise integrieren. Darin ist jeder seines Glückes Schmied, jeder kann alles erreichen (etwa durch »Manifestieren« und positives Denken), Selbstverbesserung passt zur Optimierungs- und Steigerungslogik des Wirtschaftssystems. Die ganzheitliche Denkweise des Autors zeigt sich darin, dass er nicht nur die Fallstricke auf dem inneren Weg, sondern auch die gesellschaftlichen Auswirkungen betrachtet. Etwa die Konsequenz einer Denkweise, wonach »jeder seine eigene Wahrheit hat«: Da ist es zu den »alternativen Fakten« eines notorischen Lügenbolds im Weißen Haus nicht mehr weit.

Wallis beschränkt sich jedoch nicht auf Hinweise zu Fallstricken und Irrwegen. Er entkernt die Halbwahrheiten und kontrastiert sie mit den Einsichten der fernöstlichen Weisheitslehren. Diese hat er nicht nur als Gelehrter studiert, sondern kommt ihnen auch als Praktizierender durch eigene Erfahrungen aus Meditation, Kontemplation und innerer Arbeit nahe.

Was wäre beispielsweise der wahre Kern der Aufforderung »Liebe dich selbst«? Zunächst zeigt der Autor auf, wie das »dich« und die Liebe dazu bei vielen Menschen mit ihrer Identität verbunden ist. Als älterer weißer Cis-Mann; als schwarze junge Frau; als unterprivilegierter Muslim; als Lesbe und so weiter. Hier wagt sich Wallis auf das rutschige Parkett des politischen Identitätsdiskurses. Auf diesem kann man leicht ausrutschen, da die Debatten oft dogmatisch verhärtet und gnadenlos gegenüber Andersmeinenden geführt werden. Hinweise darauf, dass Identitäten auf kulturellen Konstruktionen beruhen und die Anhaftung daran eine große Hürde auf dem inneren Befreiungsweg darstellt, können schnell als manipulatives Narrativ verstanden werden, das ein gesellschaftlich Privilegierter verbreitet.

Wallis öffnet den Raum für ein tieferes Verständnis: »Die Lösung für dieses Problem besteht ganz klar darin, jede einzelne Person in erster Linie als einen Menschen mit denselben grundlegenden Gefühlen und Bedürfnissen wie jede*r andere auch zu sehen. In der non-dualen Spiritualität bedeutet das Erkennen der Menschlichkeit eines Menschen auch das Erkennen seiner Göttlichkeit.«

Die Beschreibung wahrer Selbstliebe im non-dualen Bewusstsein ist weitaus schwieriger als die Analyse der weitverbreiteten Verzerrungen. Wallis unternimmt dennoch den Versuch: »Alles in der inneren Landschaft der Erfahrung ist vollständig erlaubt – ja sogar willkommen; nicht gebilligt, nicht gebraucht als Erzeuger einer Identifikation, sondern voll und ganz alles umarmend, was ist, genau so, wie es ist. Das ist wahre Selbstliebe!« Er vermag es, tiefe Einsichten in die Essenz des Seins auf verständliche und oft sogar anschauliche Weise auszudrücken, ohne dabei in Flachheiten abzugleiten, die ein hohes Potenzial für esoterische Verirrungen und die spirituelle Hochglanzpolitur des Egos bergen.

»Toxische Spiritualität« weist auf ein Grundproblem hin. Wenn Halbwahrheiten aus Büchern gelesen oder von Halberleuchteten – das sind die Schlimmsten – verbreitet werden, gibt es kein Korrektiv. Es braucht jedoch eine spirituell gereifte Autorität, die auf Verirrungen hinweist. Wir im Westen leben in säkularisierten Gesellschaften und haben zudem tausendfache Erfahrungen mit Machtmissbrauch durch religiöse Autoritäten sowie mit manipulativen Gurus gemacht. Das Dilemma ist, dass wir zwar authentische spirituelle Lehrer*innen brauchen, die nichts anderes als das Erwachen ihrer Schüler*innen im Sinn haben, aber gleichzeitig wird in unseren Gesellschaften jede geistliche Autorität, die in Menschengestalt auftritt, automatisch unter Missbrauchsverdacht gestellt.

Insofern ist Unterscheidungskraft eine fundamentale Tugend bei der spirituellen Suche. Sie ermöglicht es, zwischen Weg und Irrweg, zwischen Weisen und Scharlatanen sowie zwischen Wahrheit und Halbwahrheit zu unterscheiden. Wie nährt man diese Kraft? Indem man – und das ist ein großes Verdienst dieses Buches – ein gesundes Misstrauen gegenüber den »nahen Feinden« entwickelt. Und ansonsten: üben, üben, üben.

Author:
Michael Gleich
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