Mitwirkende der Emergenz

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

July 7, 2025

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47
|
July 2025
Interbeing
Diese Ausgabe erkunden

Wenn das Dazwischen zum Lebensraum wird

Wir sehen heute an vielen Stellen, dass unsere gegenwärtige Weltsicht und unsere Verhaltensweisen an ihre Grenzen kommen. Den vielen Krisen scheinen wir nicht mehr gewachsen. Als Kultur sind wir in einer Art Zwischenzustand – wie zwischen Raupe und Schmetterling. In dieser Zeit der Ungewissheit zeigt sich eine neue kulturelle Möglichkeit, die uns aus der Trennung in die Verbundenheit führt.

Die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling ist ein Symbol für eine erstaunliche Verwandlung. Und je mehr wir über diesen Prozess erfahren, umso staunenswerter erscheint er. Wenn eine Raupe in ihrem Kokon bereit ist, sich in einen Schmetterling zu verwandeln, bildet sie Imago-Zellen – die Boten des wunderschönen Wesens, das werden will. Aber diese Zellen werden vom Immunsystem der Raupe abgetötet. Immer wieder. Denn die sich auflösende Raupe weiß nichts von dem Schmetterling, der sie einmal werden soll. Und so kämpft sie gegen die drohende Auflösung. Schließlich überwältigen die Imago-Zellen die Immunreaktion, der Schmetterling entwickelt sich und schlüpft schließlich. Dazwischen ist dieses Wesen weder Raupe noch Schmetterling. Es ist einfach nur eine »ungeformte Masse«.

Eine Zeit zwischen den Welten

In dieser »Zeit zwischen den Welten«, wie der Philosoph Zak Stein sie nennt, sind wir die »ungeformte Masse«. Die moderne Welt, wie wir sie bisher kannten – mit ihren wissenschaftlichen Gewissheiten, ihrem Konsumkomfort, ihrer technologischen Magie und ihrer bürokratischen Politik – bricht zusammen und vermag nicht mehr, unsere Vorstellungskraft zu begeistern. Immer mehr Menschen fühlen sich von den ermüdenden Abläufen und leeren Versprechungen des modernen Lebens entfremdet. Zwar wird die romantische Liebesbeziehung noch immer als der große Höhepunkt im Leben angepriesen, aber viele junge Menschen haben weniger Sex und seltener feste Beziehungen. Wo wir einst das Heilige gespürt haben, herrscht Leere. Eine Sehnsucht nach dem Wirklichen – echter Kontakt mit anderen Menschen, erfüllende Arbeit, wirkliches Vertrauen, authentische Wahrheit – bedrückt die Herzen derer, die versuchen, ihren Weg zu einem sinnerfüllten Leben zu finden. Das Fehlen einer überzeugenden Vision für die Zukunft veranlasst viele dazu, zurückzublicken – in die Nachkriegszeit der 1950er-Jahre, den wirtschaftlichen Aufschwung Ende des 19. Jahrhunderts, die Monarchie im 18. Jahrhundert oder sogar eine religiöse Theokratie.

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Wenn das Dazwischen zum Lebensraum wird

Wir sehen heute an vielen Stellen, dass unsere gegenwärtige Weltsicht und unsere Verhaltensweisen an ihre Grenzen kommen. Den vielen Krisen scheinen wir nicht mehr gewachsen. Als Kultur sind wir in einer Art Zwischenzustand – wie zwischen Raupe und Schmetterling. In dieser Zeit der Ungewissheit zeigt sich eine neue kulturelle Möglichkeit, die uns aus der Trennung in die Verbundenheit führt.

Die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling ist ein Symbol für eine erstaunliche Verwandlung. Und je mehr wir über diesen Prozess erfahren, umso staunenswerter erscheint er. Wenn eine Raupe in ihrem Kokon bereit ist, sich in einen Schmetterling zu verwandeln, bildet sie Imago-Zellen – die Boten des wunderschönen Wesens, das werden will. Aber diese Zellen werden vom Immunsystem der Raupe abgetötet. Immer wieder. Denn die sich auflösende Raupe weiß nichts von dem Schmetterling, der sie einmal werden soll. Und so kämpft sie gegen die drohende Auflösung. Schließlich überwältigen die Imago-Zellen die Immunreaktion, der Schmetterling entwickelt sich und schlüpft schließlich. Dazwischen ist dieses Wesen weder Raupe noch Schmetterling. Es ist einfach nur eine »ungeformte Masse«.

Eine Zeit zwischen den Welten

In dieser »Zeit zwischen den Welten«, wie der Philosoph Zak Stein sie nennt, sind wir die »ungeformte Masse«. Die moderne Welt, wie wir sie bisher kannten – mit ihren wissenschaftlichen Gewissheiten, ihrem Konsumkomfort, ihrer technologischen Magie und ihrer bürokratischen Politik – bricht zusammen und vermag nicht mehr, unsere Vorstellungskraft zu begeistern. Immer mehr Menschen fühlen sich von den ermüdenden Abläufen und leeren Versprechungen des modernen Lebens entfremdet. Zwar wird die romantische Liebesbeziehung noch immer als der große Höhepunkt im Leben angepriesen, aber viele junge Menschen haben weniger Sex und seltener feste Beziehungen. Wo wir einst das Heilige gespürt haben, herrscht Leere. Eine Sehnsucht nach dem Wirklichen – echter Kontakt mit anderen Menschen, erfüllende Arbeit, wirkliches Vertrauen, authentische Wahrheit – bedrückt die Herzen derer, die versuchen, ihren Weg zu einem sinnerfüllten Leben zu finden. Das Fehlen einer überzeugenden Vision für die Zukunft veranlasst viele dazu, zurückzublicken – in die Nachkriegszeit der 1950er-Jahre, den wirtschaftlichen Aufschwung Ende des 19. Jahrhunderts, die Monarchie im 18. Jahrhundert oder sogar eine religiöse Theokratie.

»Immer mehr Menschen fühlen sich von den ermüdenden Abläufen und leeren Versprechungen des modernen Lebens entfremdet.«

Das ist damit gemeint, eine »ungeformte Masse« zu sein. Dieser Zustand deutet darauf hin, sich in der Moderne nicht mehr zu Hause zu fühlen und kein tieferes Empfinden der Zugehörigkeit zu ihr zu spüren, auch wenn sie unser tägliches Leben prägt. Eine zynische Skepsis und eine unerklärliche Sehnsucht ziehen uns in entgegengesetzte Richtungen. Die kommende Welt – unser kollektiver Schmetterling – existiert noch nicht. Vielleicht wird es sie nie geben. Niemand hat diese Transformation jemals vollzogen. Niemand kann sagen, wie der Prozess oder das Ergebnis aussehen wird. Das Potenzial des gegenwärtigen Augenblicks weist in beide Richtungen: zur Katastrophe und zum Außergewöhnlichen – und höchstwahrscheinlich beides gleichzeitig. Die Seinsweise der »ungeformten Masse« ist ein radikaler Zustand des Dazwischen.

Die Erfahrung eines intelligenten Feldes

Aus diesem Dazwischen kann etwas Außergewöhnliches entstehen. Wir nennen es Interbeing. Interbeing ist die Erfahrung eines intelligenten Feldes, das zwischen Menschen lebendig werden kann, die sich jenseits ihrer persönlichen Anliegen begegnen. Durch das Bewusstsein des Seins, das gleichzeitig mit uns, zwischen uns und über uns hinaus existiert, wird es möglich, die Emergenz neuer Fähigkeiten der Gemeinschaft und der gemeinsamen Kreativität hervorzubringen. Wir können uns entscheiden, das Festhalten unseres Verstandes an Konzepten loszulassen, die die moderne Welt in Trennungen aufteilt – in Selbst und Andere, Innen und Außen, Subjekt und Objekt. Wenn wir stattdessen unser Bewusstsein auf den unmittelbaren Raum zwischen uns richten, während wir miteinander im Dialog sind, entsteht eine neue Art von Feldbewusstsein, das verankert und eingebettet ist in die Lebendigkeit, die wir teilen. Emergent Interbeing ermöglicht es uns, an einem dynamischen Lebensprozess teilzuhaben, der durch das Unsagbare hindurchscheint. Wir kommen nach Hause ins Leben und als das Leben selbst. Dies ist eine besondere Form des Dialogs, die zu kraftvollem kollektiven Lernen und gemeinsamer Sinnfindung führt. Man könnte sagen, dass uns gezeigt wird, wie wir als »ungeformte Masse« leben können – in einem Raum der Transformation zwischen dem, was wir sind und was wir jetzt wissen, und einem zunehmend spürbaren zukünftigen Potenzial eines gemeinsamen Menschseins, das so schön wie ein Schmetterling ist.

Der Geist der Trennung

Interbeing ist eine Antwort auf die Situation, in der wir uns befinden: von der zutiefst persönlichen Angst, dass das eigene Leben sinnlos ist, bis hin zum Kollaps der Ökosysteme und der Institutionen, die das moderne Leben bestimmen. Wenn der Körper, der uns das Leben schenkt, lediglich als »Fleisch« betrachtet wird, das unseren Verstand beherbergt, dann ist es leicht, den gesamten Körper der Erde und seine Bewohner als bloße Objekte zu betrachten, die es zu beherrschen und zu nutzen gilt. So füllt unser Konsumzwang stinkende Mülldeponien. Träge wirbelnde Strudel aus Plastiktüten und -flaschen, Kinderspielzeug, Zahnbürstengriffen und bunten Plastikteilen breiten sich meilenweit in den Ozeanen aus, ersticken Fische und ertränken Vögel. Riesige, umweltverschmutzende Maschinen saugen Öl, Wasser und Gas aus den Tiefen der Erde, damit wir an Orten leben können, an denen es zu heiß oder zu kalt ist, damit wir hinreisen können, wohin wir wollen, wann wir wollen, und damit wir Ananas in der Wüste anbauen können, um mitten im Winter unser Verlangen nach dieser Frucht zu stillen. Durch unsere eigene Kreativität, die sich von ihren Auswirkungen abgetrennt hat, verseuchen wir unsere Heimat.

Aber nicht die menschliche Kreativität ist das Problem, sondern die Loslösung. Nicht im Sinne des buddhistischen Loslassens, das es uns ermöglicht, die Ganzheit in der Leere zu entdecken, sondern die Loslösung, die durch Trennung entsteht. Der moderne Verstand trennt die menschliche Wahrnehmung in Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Selbst und Anderes. Wir nehmen diese Trennung zwischen Subjekt und Objekt als nicht hinterfragbar und völlig normal wahr. Und in gewisser Weise ist sie das auch. Wir Menschen sind Individuen. Aber es gibt eine tiefere Realität als die Trennung: Wir sind miteinander verbunden, voneinander abhängig, aufeinander bezogen, auf allen Ebenen der Existenz mit allem verwoben. Es gibt Welten des Dazwischenseins. Denken Sie an die subtilen Energien der chinesischen Praxis des Qigong. Oder die indigene Erfahrung der lebendigen Elemente – Erde, Feuer, Wasser, Luft. Die meisten Kulturen haben verschiedene Dimensionen des Dazwischen durch Symbole, Rituale, Gebete, Kunst und andere Praktiken kultiviert. Diese subtilen Dimensionen – die der Philosoph Henry Corbin das Imaginale nennt – reichen vom Alltäglichen bis zum Erhabenen oder zu dem, was wir als heilig erleben. Sie enthüllen die Lüge der Trennung, die der Reflex des modernen Geistes ist.

»Wo wir einst das Heilige gespürt haben, herrscht Leere.«

Denn es gibt kein menschliches Wesen, das von der Gesamtheit des Lebens getrennt ist. Das geschieht lediglich im Geist – im modernen Denken. Unnachgiebiger Individualismus, persönlicher Erfolg auf Kosten anderer, die Freiheit, zu tun, was wir wollen – das alles sind Ausdrucksformen des Mythos der Trennung. Wir sollen allein zurechtkommen – mit Ausnahme des einen perfekten Seelenpartners, der unser Leben lebenswert macht. Dieser Mythos schneidet uns von anderen Menschen und der ganzen mehr-als-menschlichen Welt ab. Alles, was dazwischen liegt, wird nicht mehr wahrgenommen. Die daraus resultierenden Gefahren führen einerseits zur Beherrschung der Natur und andererseits in die Depression. Das Ergebnis ist die Zerstörung der Biosphäre, die Grundlage allen Lebens, Wettbewerb ohne Kooperation, große Einkommensunterschiede, soziale Fragmentierung und eine Epidemie der Einsamkeit.

Das Scheitern des sozialen Imaginalen

Die Sphäre der Ideen und Beziehungen, die uns dazu bringt, diesen Mythos der Trennung zu leben, bezeichnet der Philosoph Charles Taylor als das soziale Imaginale. Das sind die »Annahmen, von denen wir durchtränkt sind«, um die Dichterin Adrienne Rich zu zitieren. Dazu gehören die wahrscheinlichen Handlungsstränge unseres Lebens, unsere Träume vom Erfolg, die Geschichten und Bilder, die uns bewegen, all das, was wir als normale Art und Weise betrachten, als Menschen mit anderen Menschen zusammen zu sein.

In dieser Zeit zwischen den Welten, diesem Zustand der »ungeformten Masse«, kann das soziale Imaginale der Moderne unsere tieferen existenziellen Anliegen nicht mehr erfüllen. Das gute Leben, das einst das Versprechen der Moderne war – Heirat, Kinder und ein bürgerliches Zuhause –, ist für immer mehr Menschen unerreichbar oder nicht erfüllend geworden. Außerdem wird dieses gute Leben oft auf dem Rücken anderer und zu Lasten der Zerstörung des Lebendigen und seiner Lebensräume geführt.

Die Kulturtheoretikerin Lauren Berlant stellt fest, dass zu den »Fantasien, die nicht mehr tragfähig sind, vor allem die Aufstiegschancen, die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die politische und soziale Gleichheit und eine lebendige, dauerhafte Intimität gehören«. Sie nennt dies einen »grausamen Optimismus«, weil das scheiternde soziale Imaginale immer noch unsere Wünsche formt und Hoffnungen erzeugt, während gleichzeitig die Ziele unerreichbar sind. Und das ist verheerend. Berlant schreibt: »Wir leben in einer Sackgasse, einem Moment, in dem die bestehenden sozialen Vorstellungen und Praktiken nicht mehr die Ergebnisse hervorbringen, die sie einst brachten, aber noch keine neuen Vorstellungen oder Praktiken gefunden wurden.«

Eine Sackgasse kann jedoch auch nützlich sein. Wie das »Weder-hier-noch-dort« des Dazwischen kann sie der Anfang zu etwas Neuem sein. Wenn wir mit leeren Händen dastehen, stoßen wir an die Grenzen dessen, was wir glauben, kontrollieren zu können. Wir sind gezwungen, nichts zu wissen. Ein neues soziales Imaginales, das aus der Verbundenheit entsteht, wird nur dann Gestalt annehmen können, wenn wir in die Tiefe gehen, wenn wir hinterfragen, wer wir sind und wie wir wissen. Dazu bedarf es innovativer Praktiken, die Möglichkeiten bieten, die Räume zwischen der getrennten Welt von Subjekt und Objekt zu erkennen und wahrzunehmen. Glücklicherweise entstehen solche Praktiken heute.

Eine Kultur des Interbeing

In den letzten ungefähr fünfzehn Jahren sind als Antwort auf die Entfremdung und Spaltung, die der Moderne zugrunde liegen, experimentelle Gemeinschaften entstanden – in Orten wie Berlin, Oakland oder Stockholm –, wo Menschen zusammenkommen, um Sinn und Zugehörigkeit zu finden. Das Interesse an den sogenannten We Spaces oder Wir-Räumen ist sehr groß. Praktiken wie Circling, Authentic Relating, Transparente Kommunikation, Authentic Life und andere erforschen, wie man eine intime, authentische Beziehung zu anderen entwickelt. Sie eröffnen neue Tiefen der zwischenmenschlichen Verbundenheit und betonen gleichzeitig die Einzigartigkeit des Individuums. In ähnlicher Weise erkunden neue Formen des Dialogs wie John Vervaekes Dialogos, der Bohm′sche Dialog und die Arbeit von ­William Isaacs oder Martina, Joachim und Tobias Hartkemeyer, wie man eine gemeinsame Sinnfindung gestalten kann, die zu tieferen Wahrheiten führt.

Die Aufmerksamkeit für »Presencing« – ein Begriff, der von Otto Scharmer, einem Forscher auf dem Gebiet des organisatorischen Wandels, geprägt wurde und »Presence« (Gegenwart) und »Sensing« (Spüren) zusammenbringt – hat zu Collective Presencing, Dynamic Presencing und einer Vielzahl anderer Praktiken geführt. Dabei kommen Menschen in einer gemeinsamen Gegenwärtigkeit zusammen, um in die sich entfaltende Zukunft hineinzuspüren. Gruppenpraktiken wie Theory U, The Art of Hosting, The Way of Council oder World Café haben sich ebenfalls verbreitet und ermöglichen es Gemeinschaften, kraftvolle ko-kreative Prozesse zu gestalten. Wie unsere Praxis des Emergent Interbeing versuchen diese Ansätze auf die Krisen zu antworten, die durch die Trennung entstanden sind, und unsere Verbundenheit in der lebendigen Präsenz im Dazwischen als wesentlich für das Menschsein zu etablieren.

»Wir nehmen die Trennung zwischen Subjekt und Objekt als völlig normal wahr.«

Im Frühjahr 2024 veröffentlichten Scharmer und seine Kollegin Eva Pomeroy im Journal of Awareness-Based Systems Change einen Artikel über das, was sie »fourth person knowing« nennen. Durch ihre Arbeit mit Gruppen, die ihren Theory U-Prozess anwenden, haben sie die Entstehung des »wissenden Feldes« beobachtet, einer neuen Erkenntnistheorie jenseits des Individuums oder der Beziehung. Dieses »Feldbewusstsein«, so Scharmer und Pomeroy, ist eine neue Art des Wissens, das zwischen Menschen in Gruppen entsteht. Wie und was wir wissen, ist untrennbar damit verbunden, wer wir sind. Wenn es ein Wissen des Feldes gibt, dann untergräbt dies den Mythos der Trennung als Grundlage der Realität, der die Basis für das moderne soziale Imaginale ist. Das Bewusstsein des Feldes ist auch für Emergent Interbeing von zentraler Bedeutung. Indem es von der Perspektive des Dazwischen ausgeht, schafft es einen fruchtbaren Boden für einen neuen kulturellen Ausdruck.

Ein Feld lebendiger Präsenz

Der Impuls, der Emergent Interbeing zugrunde liegt, entstand vor etwa 30 Jahren. Es begann in einer kleinen spirituellen Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Miteinander jenseits des getrennten Egos zu erforschen. Diese Erfahrung nannten wir Higher We(Höheres Wir), und die Praxis, die sie unterstützte, wurde als Enlightened Communication (Erleuchtende Kommunikation) bezeichnet. Nachdem sich die Gemeinschaft aufgelöst hatte, entwickelten wir in unserer Arbeit mit evolve World die Praxis und unser Verständnis des Potenzials dieses entstehenden Feldbewusstseins weiter.

Nach einer Weile nannten wir unsere Praxis Emergent Dialogue, weil das Entstehen eines lebendigen Raums zwischen uns im Dialog geschieht, der durch Sprache ermöglicht wird. Diese neue Bezeichnung verdeutlichte auch, dass es sich um eine Praxis auf Augenhöhe handelt, in menschlicher Verbindung, und nicht um eine »höhere« exklusive Gruppe. Als sich die Praxis weiterentwickelte, bemerkten wir, dass dadurch eine ko-bewusste Intelligenz lebendig wurde, die stabil war und sich weiter entfaltete. Das bezeichneten wir als Interbeing. Dieser Ausdruck beschreibt die Erfahrung eines Feldes lebendiger Präsenz zwischen, innerhalb und jenseits von uns. Diese gemeinsame Gegenwärtigkeit ist im Prozess, sie entfaltet sich. Sie emergiert durch den Dialog.

Anstatt von Trennung auszugehen – dass wir getrennte Individuen sind, die nach Verbundenheit suchen – setzt Emergent Interbeing bei der subtilen Wirklichkeit der gemeinsamen Präsenz, einem Feldbewusstsein, an. Es handelt sich dabei nicht um ein Gedankenexperiment. Es ist auch keine mystische Einsicht, die den Einzelnen in das Bewusstsein der Einheit eintauchen lässt und ihn dennoch von seinem Nächsten trennt. Emergent Interbeing ist eine Lebenspraxis, die mit unserer tieferen Verbundenheit beginnt – nicht als Idee, sondern als greifbare Realität.

Bei den meisten »Wir«-Praktiken geschieht diese Verwirklichung einer kostbaren Verbindung oft in der Tiefe der Praxis – in der »Magie in der Mitte«. Emergent Interbeing setzt dort an und offenbart so das Potenzial einer ko-bewussten Kreativität, die die verschiedenen Perspektiven der Teilnehmenden zusammenführen will. Das »Wir« der Gruppe wird fast zu einer neuen Art von Organismus, der tatsächlich gemeinsam denkt. Auf diese Weise vertieft Interbeing die Individualität und bringt uns zugleich in Einklang mit der intelligenten Ganzheit, die in, zwischen und jenseits von uns ist. Unserer Erfahrung nach bietet es eine neue Richtung in der menschlichen Entfaltung, die eine Möglichkeit eröffnet, die Trennungen, die die Moderne in das Gewebe des gemeinsamen Lebens aller Wesen geschnitten hat, zu heilen und dieses Lebensgewebe neu zu gestalten. Aus dieser Möglichkeit heraus kann ein neues soziales Imaginales erblühen.

Um es deutlich zu sagen: Eine Kultur des Interbeing entfaltet sich gerade erst, sie emergiert – was auch bedeutet, dass wir noch ganz am Anfang stehen, das darin enthaltene Potenzial zu verstehen. Als Descartes erklärte: »Ich denke, also bin ich«, existierten die Folgen dieser radikalen Trennung von Geist und Körper – wie die wissenschaftliche Revolution und letztlich die Krisen der Trennung von ­heute – noch nicht. Es gibt noch kein soziales Imaginales ­mit neuen Gewohnheiten, Lebensweisen und kulturellen Systemen, die aus der Emergenz von Interbeing erwachsen sind. Das muss sich erst noch entwickeln. Im Moment wendet sich die Praxis des Emergent Interbeing zuerst dem zu, was am nächsten liegt – der Heilung der Trennung von Herz und Verstand im Menschen. Die Aufhebung dieser grundlegenden Trennung zwischen dem Selbst (hier drinnen) und dem Leben (da draußen) ist das Entscheidende, um das es heute geht. Sie öffnet den Weg in eine Welt der Fürsorge, aus der eine neue Welt entstehen kann.

Verlorene Formen des Wissens

Interbeing als Praxis und Perspektive bietet eine Möglichkeit, an der Schaffung einer neuen Kultur mitzuwirken, die sich drastisch von den Mythen der Trennung unterscheidet. Im Moment tragen wir durch unsere Sprache, unsere Gewohnheiten, Normen und Institutionen dazu bei, das moderne soziale Imaginale aufrechtzuerhalten, was die Illusion erzeugt, das sei einfach die Realität, also so wie die Dinge sind. In der Moderne dominieren bestimmte Arten von Wissen und Kenntnissen, die unseren gemeinsamen Sinn für das Angemessene und Reale bilden. Jede Kultur wird davon geprägt, wer wir zu sein glauben, was wir als wertvoll erachten und was als Wahrheit angesehen wird – und das ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich.

In der Moderne dominiert eine bestimmte Form des Wissens, die die moderne Welt und ihre Grundannahmen aufrechterhält. Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke nennt dies propositionales Wissen oder Wissen, das sich auf Fakten bezieht, die materiell und logisch validiert werden können. Die Katze ist schwarz. E=mc2. Mein Nettovermögen beträgt weniger als eine Million. Diese Form des Wissens ist reduktiv, denn alles, was nicht gemessen oder verglichen werden kann, findet darin keine Bedeutung und keinen Wert. (Der Wert selbst wird oft auf den Preis oder die Kosten reduziert.) Propositionales Wissen ist tendenziell abstrakt und kontextlos: Dinge, einschließlich Ideen, existieren für sich allein. Der Wissende ist vom Gewussten getrennt. Propositionales Wissen ist Ausdruck der Trennung zwischen Subjekt und Objekt.

»Unsere Erfahrung als Verkörperung des Seins wird von Hintergrundpraktiken geprägt.«

Angesichts der Dominanz des propositionalen Wissens, so Vervaeke, sind andere Arten des Wissens für uns verloren gegangen und werden verdeckt durch das, was er »die Tyrannei des propositionalen Wissens« nennt. Propositionen können uns nicht sagen, wie wir etwas tun sollen – dieses Wie würde Vervaeke das prozedurale Wissen oder das Wissen wie nennen. Propositionen können auch nicht verschiedene Perspektiven einnehmen, erforschen und zusammenbringen – das kann das per­spektivische Wissen, das Wissen aus einem bestimmten Blickwinkel. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Propositionales Wissen schneidet uns von unserer Fähigkeit ab, an der Erkenntnis und Gestaltung der Realität, die wir teilen, teilzuhaben. Das wird möglich durch ein partizipatives Wissen oder Wissen durch Teilhabe.

Partizipatives Wissen schafft das unsichtbare Gewebe der Kultur – das soziale Imaginale. Wir lernen unsere Muttersprache durch die Teilhabe an einem immersiven Prozess mit denjenigen, die sich um uns kümmern. Sprache formt das, was wir wissen können. Bei dieser Teilhabe sind wir die Wissenden und das Wissen gleichzeitig. Dieses Wissen zeigt sich in der Praxis. Wenn wir beispielsweise eine Skulptur schaffen, meditieren oder ein Elternteil sind, wird dieses Wissen verkörpert, das nicht von uns getrennt ist und Bedeutung hat. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Wenn wir an einem Ritual teilnehmen, werden wir durch Symbole, Gesang und Bewegung zu einer gemeinsamen Sinngebung eingeladen. Die Teilnehmenden erschaffen durch den rituellen Prozess gemeinsam Bedeutung.

Hintergrundpraktiken

Partizipatives Wissen wirkt viel tiefer und ist umfassender als die einzelnen Praktiken, die wir wählen, wie Meditation, Poesie, Kampfsport usw. In diesem Zusammenhang spricht der Philosoph Hubert Dreyfus von Hintergrundpraktiken, die das Gewebe der Annahmen bilden, die uns zu den Menschen machen, die wir sind. Unsere Erfahrung als Verkörperung des Seins wird von solchen Hintergrundpraktiken geprägt. Es sind Gewohnheiten, bei denen wir nicht wissen, dass wir sie ausüben, aber sie offenbaren uns eine Welt. Die Gewohnheit, einen separaten inneren, psychologischen Raum wahrzunehmen, den wir »mein Selbst« nennen, oder die Praxis, verschiedene Baumarten zu benennen, während wir im Wald spazieren gehen, ohne uns ihrer lebendigen Präsenz bewusst zu sein, sind beispielsweise Verhaltensweisen, die den modernen Menschen formen und somit die moderne Welt schaffen. Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Merkmale der Baumarten und übersieht die subtile Lebendigkeit, die den Wald und uns selbst durchdringt, wenn wir uns auf den Rhythmus der Lebendigkeit um uns und durch uns einstimmen.

Dies sind Praktiken der Objektivierung, die das Wissen vom Wissenden trennen und Menschen formen, die sich selbst als getrennt von ihrer Verkörperung, von einander und den dynamischen Prozessen des Lebens wahrnehmen. Diese tiefsitzende Praxis der Objektivierung betäubt die menschliche Fähigkeit, das Dazwischen zu spüren. In der Kluft zwischen Subjekt (ich) und Objekt (Menschen, Kreaturen, Dinge, Ideen) werden diese subtilen Dimensionen, die man als imaginal bezeichnen kann, unwirklich. Für uns geht die Tiefe verloren, und wir lassen uns leicht von glänzenden Oberflächen verführen. Wir werden taub für die Botschaften der Götter, wie ­Martin Heidegger es formulierte. Das Heilige entzieht sich uns, auch wenn wir uns nach einer der Welt innewohnenden Sinnhaftigkeit sehnen.

Ein Großteil des partizipativen Wissens ist unbewusst, weil es eine Nahtlosigkeit gibt zwischen dem, wer wir sind, und dem, wie wir wissen. Das ist einfach die Art und Weise, wie wir uns in der Kultur zeigen. Wir fügen uns ein. Indem ­Vervaeke jedoch unsere Aufmerksamkeit auf diese Form des Wissens lenkt, öffnet er einen Weg zur bewussten Transformation durch eine Ökologie der Praktiken, wie er es nennt: durch die bewusste Einbindung in Praktiken, die uns neue Wege der gemeinsamen Sinnfindung eröffnen, welche uns in die Lage versetzen, die Konsensrealität zu hinterfragen, die als Wahrheit gilt. Mit anderen Worten: Partizipative Praktiken, die die tieferen Potenziale des menschlichen Seins kultivieren, können den Humus einer neuen Kultur schaffen.

Emergent Interbeing ist eine solche Praxis. Sie ist eine Einladung, sich an der Entfaltung einer neuen Art des Wissens zu beteiligen, das aus dem Feld oder Raum zwischen und jenseits von engagierten Gruppen von Menschen entsteht. Das Wissen durch unsere Offenheit für die gemeinsame Intelligenz des Interbeing hebt die starre Trennung zwischen Selbst und Anderen auf, ohne die Einzigartigkeit der Beteiligten aufzulösen. Dies wird zu einer neuen Grundlage für unser Zusammenleben.

Wo sich Liebe und Heiligkeit treffen

Die Entwicklung eines neuen sozialen Imaginalen ist keine triviale Angelegenheit, geht es doch um nicht weniger als darum, die Kultur von Grund auf zu verändern. Interbeing kann die menschliche Fähigkeit, das Dazwischen zu spüren, wiedererwecken und neue Möglichkeiten bieten, uns selbst und das Ganze, in das wir eingebettet sind, zu erkennen. Aber kann es tatsächlich Teil einer solchen historischen Transformation sein? Finden solche Transformationen überhaupt statt?

Die menschliche Fähigkeit, Kultur zu schaffen, zu vermitteln und weiterzugeben, ist ein fortlaufender Prozess der Entfaltung. Sprache selbst ist aus dem Notwendigkeitsdruck heraus, aus der Kraft der Rituale und aus der kollektiven Fähigkeit, gemeinsam zu empfinden, entstanden. Wie Sprachäußerungen so tief mit gemeinsamer Bedeutung durchdrungen wurden, ist immer noch ein Geheimnis. Neben diesem Wunder, das wir für selbstverständlich halten, sind einige kulturelle Entwicklungen besonders bemerkenswert. Die Zeit, die der Philosoph Karl Jaspers als die Achsenzeit bezeichnete, ist eine davon.

Die Achsenzeit umfasst einen Zeitraum von etwa sieben Jahrhunderten bemerkenswerter, globaler Veränderungen in der Ethik, der Philosophie und sogar in der Wahrnehmung der Realität. Dieser gewaltige Wandel des menschlichen Bewusstseins breitete sich von China über den indischen Subkontinent, den Nahen Osten und Griechenland aus und erstreckte sich möglicherweise sogar auf den Aufstieg der olmekischen Zivilisation in Mes­oamerika und des Chavín in den Anden. Die Auswirkungen dieser Ära sind noch immer spürbar. Transformative Persönlichkeiten wie Zarathustra, Buddha, Mohammed, Sokrates, Konfuzius, Lao Tse, die hebräischen Propheten und die vedischen Philosophen brachten neue Formen der Rationalität hervor, die die menschliche und kulturelle Entwicklung seither bestimmt haben. Darüber hinaus kennzeichnete die Vorstellung der Transzendenz, dass es ein Absolutes gibt, das in seiner unfassbaren Ganzheit heilig ist, eine neue Wahrnehmung des Realen, die die Gottheiten und Geister der älteren Lebensformen zu einer Gesamtheit und vorrangigen Einheit zusammenfasste. Sie wurden zu den Begründern neuer Lebensformen, die wir als »Religion« bezeichnen, indem sie ein tran­s­­­­­-zendentes, absolutes Prinzip oder Wesen als Grundlage von allem, was ist, identifizierten. Daraus entwickelte sich dann allmählich eine soziale Vorstellungswelt mit Institutionen, ethischen Kodizes, sozialen Praktiken und Ritualen, die – insbesondere im Westen – zur Entwicklung des getrennten, selbstreflektierenden Individuums führte.

»Das Individuum wurde zu dem Ort, an dem sich Heiligkeit und Liebe treffen.«

In der Tat ist es bemerkenswert, dass die moderne Geschichtsschreibung diese großen Persönlichkeiten als die Quelle dieser Welle des Wandels bezeichnet. Denn das ist an sich schon ein Ergebnis dieser axialen Verschiebung. Das Qualitätsmerkmal unseres Menschseins verlagerte sich von der Zugehörigkeit zu einem Sippengefüge oder einem Stamm zum Individuum, das die Verantwortung für seine Entscheidungen trägt. In den darauffolgenden Jahrhunderten steigerte sich dieser Individualismus, vor allem im Westen, bis zu dem Punkt, den wir heute erreicht haben.

Bemerkenswerterweise scheinen diese Durchbrüche im menschlichen Bewusstsein unabhängig voneinander stattgefunden zu haben. Wie in Zeitlupe rollte eine neue Wetterfront über die Erde und öffnete den Himmel für eine transzendente Dimension. Der menschliche Geist begann zu verstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und zwar nicht als Mitglied eines Clans oder als Teil der lebenden Welt, sondern in universeller Hinsicht.

Eine Antwort auf Entfremdung

Was aber hat diese dramatische Welle des Wandels ausgelöst? Wie kam es zu dieser globalen Verschiebung? Diese Jahrhunderte waren eine Zeit des regen Handels und kulturellen Austausches. Die Erfindung des phönizischen Alphabets und seine Verbreitung ermöglichten es den verschiedenen Kulturen, Literatur und Ideen auszutauschen. Doch wie sich heute zeigt, löst das Zusammentreffen unterschiedlicher Glaubenssysteme oft Unsicherheit und Krisen aus – was bedeutet es, dass andere Menschen zu anderen Göttern beten? (Eine Frage, mit der sich die Menschheit bis heute nicht abgefunden hat.)

In ihrem Buch »Die Achsenzeit: Vom Ursprung der Weltreligionen« erklärt die Religionshistorikerin Karen Armstrong, dass mit der Entdeckung des Eisens »Kriege häufiger und verheerender wurden, und eine Militäraristokratie in vielen Regionen die Macht ergriff. Die alte Agrarwirtschaft wurde durch ein neues Marktsystem, das eine wohlhabende städtische Bourgeoisie hervorbrachte, grundlegend verändert, was aber auch dazu führte, dass sich viele Menschen wurzellos und beraubt fühlten. Die Grausamkeiten der Marktwirtschaft waren ebenso schwer zu ertragen wie die Schrecken des Krieges. Die Armen wurden von den Reichen ausgebeutet, Schuldner konnten in die Sklaverei verkauft werden, Bauern verloren ihr Land, und Menschen fühlten sich unpersönlichen Kräften ausgeliefert, die sie weder verstehen noch kontrollieren konnten.«

Die zunehmende Urbanisierung dieser Zeit spielte sowohl für die Entwicklung der Individuation als auch für die weitverbreitete Zunahme von Entfremdung und Ängsten eine entscheidende Rolle. ­Armstrong betrachtet die Entstehung der großen Buchreligionen mit ihrer Betonung auf Empathie und Mitgefühl als eine Antwort auf diese Brutalität und Entfremdung. Der Stress der dramatischen Veränderungen und gewaltsamen Umwälzungen in den Gesellschaften in ganz Eurasien löste eine tiefere Reaktion aus, die in der Ganzheit und ihrem Ausdruck in der Liebe gründet. Zumindest anfangs war die spirituelle Emergenz eines transzendenten Absoluten – Gott, Allah, das Dao, der Atman, die Buddha-Natur – eine Erkenntnis, die oft als tiefe, alles durchdringende Liebe und Fürsorge erlebt wurde. Das Individuum wurde zu dem Ort, an dem sich Heiligkeit und Liebe treffen.

Brillante Köpfe wie der Historiker ­Immanuel Wallerstein, der Soziologe Shmuel Eisenstadt, die Philosophen Jürgen ­Habermas und (in gewisser Weise) Martin Heidegger, der Theologe Ewert Cousins, der Historiker Richard Bellah, der Integralist Ken Wilber und der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke haben alle auf unterschiedliche Weise festgestellt, dass diese Epoche einen Wendepunkt in der menschlichen Kultur markierte und dass die Herausforderungen und Kata­strophen, mit denen wir heute konfrontiert sind, damals ihren Anfang nahmen. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen diesem axialen Aufbruch und der späteren Entfaltung der Renaissance, der wissenschaftlichen Revolution und der westlichen Aufklärung, die wiederum das Selbstgefühl, die Annahmen und die Systeme geschaffen haben, in denen wir heute leben. Jetzt, Tausende von Jahren nach dieser axialen Verschiebung, ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, etwas anderes zu sein als ein Individuum, das in der Trennung vom ­LEBEN und dem Lebendigen um uns herum lebt.

Das kosmische Einatmen

In den letzten Jahrzehnten hat eine weitere Bewegung im menschlichen Bewusstsein begonnen. Die indigene Aktivistin Ruth Langford spricht von der Bewegung eines kosmischen »Aus­atmens«, das die Menschheit über die Erde verstreut hat, um Unterschiede zu entwickeln. Nach ihrer indigenen tasmanischen Kosmologie wird in ganz natürlicher Weise ein »Einatmen« folgen, in dem die Menschheit zusammenfindet. (Im Moment, so sagt sie, befinden wir uns in der Zeit zwischen den Atemzügen, in einem Zwischenzustand der »ungeformten Masse«).

»Entweder wir lernen, unsere Differenzen im kreativen Dialog auszutragen, oder wir zerstören uns selbst und einander gegenseitig.«

1993 beschrieb der Theologe Ewert ­Cousins Anzeichen für eine neue Transformation, vielleicht eine zweite Achsenzeit, die als Reaktion auf die Auswirkungen der Trennung von den Menschen und dem Planeten entsteht. Das Ost-trifft-West-Phänomen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts brachte den Wunsch nach einem interreligiösen Dialog mit sich. Die Vertreter des spirituellen Reichtums der großen Traditionen waren bestrebt, in die Tiefen anderer Glaubensformen einzutauchen. Unter Berufung auf die Arbeit des Theologen und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin vertritt Cousins eine ähnliche Perspektive wie Langford in ihrer kosmischen Vision: Es beginnt eine Bewegung der Konvergenz, eine Integration, die der Divergenz der Menschen in verschiedene Sprachen, Kulturen und religiöse Überzeugungen und Praktiken folgt. Dieses Zusammentreffen der religiösen und spirituellen Traditionen in der Verbindung zur menschlichen Essenz öffnete einen Raum für die Einheit in der Vielfalt, die auch kennzeichnend für den Übergang in das Interbeing ist – ein neues Bewusstsein, das die Lebendigkeit des Lebens und die Verbundenheit miteinander wiederentdeckt, ohne dem Einzelnen die Fähigkeit zu nehmen, Entscheidungen zu treffen.

Gespräch oder Gewalt

Natürlich gibt es Kräfte, die die Menschheit weiter in Trennung und Entfremdung treiben. Die technofeudale Welt von Big Data und KI versucht, unsere Aufmerksamkeit und unser Begehren durch Algorithmen zu fesseln, die auf jeden von uns individuell abgestimmt sind. Das soziale Gemeinwesen ist fragmentiert. Die Konsensrealität, auf die sich die Menschen verständigten und die das Funktionieren der modernen Welt ermöglichte, schwindet nach und nach. Wie der Philosoph und Neurowissenschaftler Sam Harris sagte, stehen wir vor der Wahl zwischen »Gespräch oder Gewalt«. Mit anderen Worten: Entweder wir lernen, unsere Differenzen im kreativen Dialog auszutragen, oder wir zerstören uns selbst und einander gegenseitig.

In dieser Zeit zwischen den Welten oder den Atemzügen, in dieser Zeit der »ungeformten Masse« werden zaghaft Anzeichen eines neuen Potenzials zwischen denjenigen geboren, deren Herzen sich nach mehr sehnen als nach dem grausamen Optimismus der Moderne. Das ist die Anziehungskraft des Wir. Otto ­Scharmers ­und Eva Pomeroys »Fourth Person Knowing« beschreibt eine neue Praxis des Wissens, die aus diesem Zwischenraum entsteht. Die Praxis des Emergent Interbeing eröffnet eine neue, gemeinsame Gegenwärtigkeit, die die Möglichkeit des Ko-Bewusstseins und dessen kreative Kraft offenbart. Vor allem aber lässt Interbeing eine Form von Liebe und Fürsorge erkennen, die die menschliche Erfahrung der Ganzheit ist. Jeder lebt aus dieser Liebe, doch nur gemeinsam entfaltet sich ihre ganze Schönheit.

Aber man muss sich dazu entscheiden. Das Ko-Bewusstsein wird zu einer Quelle der Liebe und Ko-Intelligenz, wenn wir uns darin vertiefen. Dann können wir Menschen zu Mitwirkenden der Emergenz werden, indem wir eine kreative Liebeskraft katalysieren, die größer ist als das uns bekannte Selbst. Dabei können wir gemeinsam das heilige Geheimnis des Lebens selbst entdecken – einen Raum des Nichtwissens und der radikalen Offenheit für das, was sich hier und jetzt entfalten will. Es ist nicht festgelegt und immer im Prozess begriffen: Wir sind immer noch eine »ungeformte Masse«.

Unvermeidlich wird sich Emergent Interbeing verändern und transformieren; vielleicht wird es irrelevant werden. Zum jetzigen Zeitpunkt jedoch öffnet uns die Praxis des Interbeing für eine Liebe und ein Gefühl der Heiligkeit, das durch nichts anderes als unsere eigene Wahrnehmung definiert wird. Das soziale Imaginale, das mit der Zeit aus dem gemeinsamen Erwachen zur Ganzheit hervorgehen könnte, könnte eine Zweite Achsenzeit hervorbringen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
Author:
Dr. Thomas Steininger
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