Evolution neu denken
Bernd Rosslenbroich erforscht die Prozesse der Evolution und die Eigenschaften des Lebens. Er erklärt, dass wir über mechanistische Modelle von Ursache und Wirkung hinausgehen müssen, um das Lebendige zu verstehen. So eröffnet sich auch ein neuer Blick auf unsere Beziehung zu den umfassenden Prozessen der Natur.
evolve: Sie erforschen die Geschichte der biologischen Evolution als eine Zunahme von Autonomie. Können Sie erläutern, was Sie damit meinen?
Bernd Rosslenbroich: In den größeren Übergängen der Evolution hat sich die Autonomiefähigkeit des individuellen Organismus verändert. Damit meine ich vor allen Dingen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zur Flexibilität in der Umwelt und ein Spektrum von Möglichkeiten. Autonomie eröffnet ein Spektrum von Möglichkeiten in der Umwelt. Gleichzeitig finden Anpassungen statt, und das geschieht in der Verflechtung mit der Umwelt. Gerade durch den Austausch mit der Umwelt durch Anpassungen gewinnen Organismen an Eigenständigkeit.
Ein Säugetier hat eine Eigenwärme und große Bewegungsmöglichkeiten wie zum Beispiel die Pferde, die weite Strecken zurücklegen können. Es hat ein reiches seelisches Erleben, also eine umfangreiche Bewusstseinsfähigkeit bis hin zu Empathie, wie es heute die Verhaltensforschung bei Tieren beschreibt. In den Möglichkeiten von Selbstbestimmung hat sich im Vergleich zu einfacheren Lebensformen wie einer Schnecke etwas verändert.
Ein Spektrum des Bewusstseins
e: Mit Autonomie ist angesprochen, dass Lebewesen eine Art subjektive Erfahrung haben. Sehen Sie das so? Wie verstehen Sie das »subjektive« Selbstsein der Lebewesen?
BR: Es geht um die Frage von Bewusstsein. Es gibt Bewusstsein bei Tieren, das wird in der neueren Verhaltensforschung bei Tieren immer deutlicher. Deshalb sagen Verhaltensforscher in der Cambridge Declaration of Consciousness, dass höhere Tiere ein Bewusstsein haben. Ab wann kann man bei Lebewesen von Bewusstsein sprechen? Ich würde es ganz am Ursprung des Lebendigen verorten. Bewusstsein in einer ursprünglichen Form beginnt bei den ersten Einzellern, als eine subjektive Erfahrung. Jeder Einzeller bewertet seine Sinneseindrücke aus der Umwelt und reagiert darauf. Diese subjektive Erfahrung als Möglichkeit verändert sich dann in den Lebewesen durch die Weiterentwicklung der Nervensysteme bis hin zum Gehirn. Bei Säugetieren mit komplexen Gehirnen wird diese Eigenständigkeit der Erfahrung immer größer.
»Autonomie eröffnet ein Spektrum von Möglichkeiten in der Umwelt.«
Die Innerlichkeit, so nennt es der Philosoph Hans Jonas, beginnt schon bei den ersten Lebewesen und hängt mit der Autonomiefähigkeit zusammen. Mit der biologischen und physiologischen Autonomiefähigkeit entstehen qualitative Veränderungen von subjektiver Erfahrung.
e: Wie zeigt sich dieser Prozess der wachsenden Autonomie dann in der Evolution des Menschen?
BR: Der Mensch kann mit einem komplexen Bewusstsein durch sein eigenes Wirken seinen Möglichkeitsraum radikal erweitern, in der Folge dann auch durch die Technik. Heute kommt der Mensch in seiner Autonomiebildung an Grenzen, was sich in der ökologischen Katastrophe zeigt.
Der Mensch erweitert in seiner Evolution die Möglichkeiten von Autonomie. Wir werden also nicht allein durch Gene, Neurone oder durch Verhaltensweisen, die wir in der Eiszeit erworben hätten, determiniert. Die Organisation oder Gestalt des Menschen ist durch Möglichkeiten und Freiheitsgrade gekennzeichnet. Ein Beispiel ist, dass wir uns aufrichten können. Dadurch wurden die Hände frei, sie wurden in ihren Möglichkeiten immer präziser und flexibler. Es ist atemberaubend, wozu ein Pianist oder ein Chirurg mit seinen Händen fähig ist. Wir haben also unseren Kosmos von Möglichkeiten in eine neue Dimension hinein erweitert. Dafür entstand eine besondere Nervenverbindung, die sogenannte Pyramidenbahn. Die gibt es auch bei Tieren, aber sie wird beim Menschen wichtig als eine direkte Verbindung von der Großhirnrinde zu den Neuronen, die für die Hände zuständig sind.
Ein anderes Beispiel ist unser Gehirn. Die Leistungsfähigkeit eines Gehirns hängt von der Anzahl der Nervenzellen ab und wie dicht sie gepackt sind. Das menschliche Gehirn ist das komplexeste, am dichtesten gepackt und mit den meisten Nervenzellen.
Grenzen der Autonomie
e: Wie hängt diese Evolution neuer Möglichkeiten mit der Entwicklung von Kultur zusammen?
BR: Der aufrechte Gang und das komplexe Gehirn ermöglichen Erweiterungen von Fähigkeiten, die in der Evolution bereits angelegt waren, beim Menschen aber in eine neue Dimension geführt werden. Darauf baut dann unsere Kulturfähigkeit auf. Bewusstsein entwickelt sich zu Selbstbewusstsein. Wir können den Blick auf uns selbst richten und unser eigenes Denken erleben. Das ermöglicht uns, die Dimension von Zeit zu erleben. Wir können über Zukunft und Vergangenheit nachdenken. Das kann kein Tier, es lebt in der Gegenwart.
»Bewusstsein in einer ursprünglichen Form beginnt bei den ersten Einzellern.«
Damit erschließen wir uns eine neue Dimension von Autonomiefähigkeit, die die Grundlage für den Zusammenhang von Denken, Fühlen und physischer Tätigkeit bildet. Dabei bauen Emotion und Kognition auf den körperlichen Voraussetzungen auf. Unsere Biologie ist also nicht determinierend, sondern ermöglichend. Mit unserem Körper steht uns ein Wunderwerk zur Verfügung, um all das zu gestalten, was unsere Kultur ausmacht.
Natürlich ist die Voraussetzung dafür eine gesunde Umwelt, Nahrung, ein gesundes soziales Umfeld. Wir brauchen die Natur um uns herum in einem Maße, wie viele es heute gar nicht mehr verstehen. Wir sind verwoben mit dem Naturraum. Der Sauerstoff, den wir einatmen, kommt aus der Photosynthese der Pflanzen. Wir sind verflochten mit Mikroorganismen, zum Beispiel dem Mikrobiom. Ohne die Bakterien im Darm könnten wir nicht existieren. Autonomie ist deshalb immer nur relativ.
Gleichzeitig haben wir die Fähigkeit zur Freiheit. Vor diesem biologischen Hintergrund kann man von Freiheitsgraden sprechen. Wir sind in unserem Verhalten durch Instinkte und Reflexe teilweise festgelegt, aber wir können uns auch als ein Ich erleben und als solches frei handeln. Diese Selbstbestimmung ist in unserer Gesellschaft selbstverständlich geworden.
e: Heute hat sich unsere menschliche Autonomie zu einer Trennung vom Natürlichen entwickelt. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
BR: Wenn wir auf die ökologische Katastrophe schauen, zeigt sich darin ein Problem mit unserer Autonomie. Wir müssen uns der Umwelt gegenüberstellen, um Freiheitsgrade zu erreichen und nicht einfach nur nach Maßgaben der Umwelt zu reagieren. Unsere Bewusstseinsgeschichte ist dadurch gekennzeichnet, dass wir eigenständig werden. Das Erleben des Ich ist hierbei zentral. Das Erwachen des Ichbewusstseins führt aber auch dazu, dass wir uns der Welt gegenüberstellen und das führt dann leicht dazu, dass wir uns von der Natur entfremden. Es ist die Herausforderung der Gegenwart, von diesem Autonomieniveau aus, das wir erworben haben, eine neue Verbindung zur Natur zu finden.
Durch eine solche neue Verbindung zur Natur, aus der wir hervorgegangen sind, werden wir auch anders mit Natur umgehen. Wir müssen davon wegkommen, Natur nur als Ressource zu erleben. Sie ist unsere Heimat. In unserer Verflechtung haben wir eine Verantwortung. Das ist die ethische Dimension.
Aber wir sind auch unmittelbar abhängig von Naturgegebenheiten. Mit jedem Atemzug sind wir Teil der Natur. Unsere ganze Erde ermöglicht erst unser Leben. Vielleicht muss die ganze Erde als eine Art Lebewesen verstanden werden. Und wenn wir erkennen, wie viel Innerlichkeit schon bei den Tieren vorhanden ist, sperren wir sie nicht mehr in der Massentierhaltung ein.
Die Eigenschaften des Lebens
e: Denken Sie auch darüber nach, was den Prozess der Evolution bewegt oder antreibt?
BR: Ich denke, dass die Eigenaktivität als zentrale Eigenschaft von Organismen eine ganz große Rolle spielt. Organismen sind offensichtlich darauf ausgelegt, ihre Möglichkeiten ständig zu erweitern und neue Lebensräume zu suchen. Es wird aber auch deutlich, dass die Faktoren, die am Evolutionsprozess beteiligt sind, viel weiter zu denken sind, als man das bisher annahm. Man muss also viel mehr Prinzipien zurate ziehen, um Evolution zu verstehen.
Beispielsweise spielen Symbiosen und Kooperationen eine ganz große Rolle. Die Evolution wird oft auf die Konkurrenz miteinander reduziert. Das ist viel zu einseitig. Es gibt Konkurrenz und Selektion, aber es gibt genauso Kooperation und Symbiosen. Viele große Schritte der Evolution entstanden durch Symbiosen.
Einerseits ist deutlich, dass die darwinistische Erklärung zu einseitig ist, andererseits ist der Kreationismus keine überzeugende Alternative. Es muss einen dritten Weg geben, die Evolution zu verstehen. Das ist ein wunderbares Lernfeld für die Wissenschaft und führt in eine neue Dimension.
e: Sie arbeiten an einem integrativen Konzept, um die Eigenschaften des Lebens in eine Synthese zu bringen. Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Merkmale des Lebens?
BR: Wir haben heute viele Kenntnisse darüber, wie Organismen funktionieren, welche es gibt und wie sie entstanden sind, aber wir haben kein angemessenes Verständnis vom Leben. Das Verständnis von Leben ist durch das mechanistische Denken belastet. In der Biologie spricht man dann von einer Molekularmaschinerie. Es ist aber keine Maschinerie, sondern etwas Lebendiges und das hat eine eigene Qualität. Dieser Qualität bin ich auf der Spur.
»Das Ursache-Wirkung-Denken der Physik ist viel zu primitiv für Organismen.«
Aus den Eigenschaften des Lebens möchte ich zwei einfache Beispiele herausgreifen. Eine Grundeigenschaft des Lebendigen ist, dass wir es immer mit Wechselwirkungsprozessen zu tun haben. Ein Prozess bedingt den anderen. In der überwiegenden Mehrzahl der Forschungen wird nach Prinzipien von Ursache und Wirkung gesucht. Es müsse eine Ursache geben, durch die alles andere ausgelöst würde. Es hieß, dass die Gene alles enthalten, was die Vorgänge im Organismus verursacht. Heute wissen wir, dass umgekehrt auch die Zelle ihr Genom reguliert. Die Zelle arbeitet mit dem Genom, und das Genom arbeitet mit der Zelle. Es ist beides zugleich notwendig. Solche Wechselwirkungsprozesse findet man ständig, wenn man die biologischen Daten ernst nimmt.
Aber diese Wechselwirkung in den Blick zu bekommen und zu denken, ist gar nicht so leicht, weil wir alle im physikalischen Denken trainiert sind. Wir suchen die Ursache für einen bestimmten Vorgang oder analysieren Kausalketten wie in der Biochemie. Aber gerade in der Biochemie hat alles mit Kreisläufen zu tun, so dass man keine erste Ursache findet.
Organismisches Denken
e: Wie muss sich unser Denken verändern, um diese Prozesse zu verstehen?
BR: Wenn man konsequent Wechselwirkungsprozesse denkt, kommt man in eine andere Qualität des Denkens. Die Wechselwirkung ist nicht nur eine Eigenschaft, die Organismen tatsächlich haben, sondern es ist eine andere Qualität des Denkens, die wir anwenden müssen, um Lebensprozesse zu verstehen.
Ein anderes Beispiel: Man weiß heute, dass Zeitprozesse im Organismus bedeutend sind. Alles im Organismus hat eine bestimmte regulierte Zeit. Manches geht sehr langsam, manches geht sehr schnell. Es gibt eine Kaskade von in der Zeit regulierten Prozessen. Diese Prozesse vollziehen sich in einem rhythmischen Ablauf. Das beschreibt heute die Chronobiologie sehr gut.
Auch hier müssen wir unsere Denkqualität verändern, um Organismen zu verstehen. Man muss diese Eigenschaft dann mit Wechselwirkungsprozessen zusammendenken. Es gibt Wechselwirkungsprozessen in der Zeit, im rhythmischen Ablauf, in der Vernetzung. Das Ursache-Wirkung-Denken der Physik ist viel zu primitiv für Organismen. Wir müssen eine andere Denkqualität entwickeln, um das nachzuempfinden und nachzudenken, was Organismen tun. Dann sind wir in einem organismischen Denken, das wir jetzt lernen. So kann man auf einem wissenschaftlichen Weg einen Zugang zu dem bekommen, was der Lebensprozess tatsächlich ist.
e: Wir brauchen also eine andere Form des Denkens, um das Lebendige zu verstehen. Ein Denken aus dem Mitvollzug des Lebens, weil wir Leben sind und daraus das Leben verstehen können.
BR: Ja, auch unsere Bewusstseinsprozesse sind aus der Natur hervorgegangen. Wir sind aus dieser Natur hervorgegangen, auch mit unseren Möglichkeiten des Denkens. Wir haben das zwar in diese neue Dimension gesteigert, aber eigentlich sind wir Teilnehmende in der Natur. Mit diesen Möglichkeiten, die wir der Natur verdanken, können wir uns wieder in die Natur hineindenken und hineinversetzen. Damit werden wir auch als wissenschaftlich Forschende wieder zu Teilnehmenden an der Natur. Wir können innerhalb dieser Prozesse denken und denkend in die Prozesse der Organismen »hineinschlüpfen«. Das wäre der denkerische Nachvollzug des Naturprozesses, statt der Natur fremde Begriffe überzustülpen.