So viele Worte …

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Kolumne
Publiziert am:

October 19, 2025

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48
|
October 2025
Die Flamme weitergeben
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Was für eine Überraschung! Kaum habe ich die Einladung angenommen, eine Kolumne zu schreiben, beginne ich, über die Grenzen von Worten nachzudenken. Oft fühle ich mich in letzter Zeit überwältigt von der Menge an Worten, die wir Menschen erzeugen. Die Zahl geschriebener Texte wächst rasant, während immer weniger Zeit zu bleiben scheint, diese wirklich zu verarbeiten.

Auch in Gesprächen erlebe ich eine Art Hast, ins Sprechen zu kommen. Kaum macht jemand eine Pause, springt schon die nächste Person hinein. Nach zwei oder drei Beiträgen fühle ich mich meist gesättigt. »Moment mal«, meldet sich meine innere Stimme, »was bedeuten diese Worte für mich? Wie fühlen sie sich an? Sind sie Ausdruck tieferer Klarheit – oder nur so dahingesagt? Welche Resonanzen oder Dissonanzen lösen sie in mir aus?« Doch schon erreicht mich die nächste Welle an Worten.

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Was für eine Überraschung! Kaum habe ich die Einladung angenommen, eine Kolumne zu schreiben, beginne ich, über die Grenzen von Worten nachzudenken. Oft fühle ich mich in letzter Zeit überwältigt von der Menge an Worten, die wir Menschen erzeugen. Die Zahl geschriebener Texte wächst rasant, während immer weniger Zeit zu bleiben scheint, diese wirklich zu verarbeiten.

Auch in Gesprächen erlebe ich eine Art Hast, ins Sprechen zu kommen. Kaum macht jemand eine Pause, springt schon die nächste Person hinein. Nach zwei oder drei Beiträgen fühle ich mich meist gesättigt. »Moment mal«, meldet sich meine innere Stimme, »was bedeuten diese Worte für mich? Wie fühlen sie sich an? Sind sie Ausdruck tieferer Klarheit – oder nur so dahingesagt? Welche Resonanzen oder Dissonanzen lösen sie in mir aus?« Doch schon erreicht mich die nächste Welle an Worten.

Oft schmerzt es mich, zu erleben, wie viele Worte ohne echtes Hören aneinandergereiht werden. Dahinter spüre ich eine subtile Getrenntheit zwischen den Sprechenden, und ich frage mich: Unter welchen Bedingungen lohnt es sich überhaupt zu sprechen? Auf welche Weise können Worte uns wirklich bei der Verständigung über das Wesentliche helfen?

So hat sich mein eigener Fokus in den letzten Jahren verschoben: weg vom eigenen Reden hin zur Gestaltung von Prozessen, in denen Menschen zusammenkommen – für gemeinsames Denken, Erleben, Reflektieren, Lernen und Handeln. Natürlich wird dabei viel gesprochen. Doch als Facilitator richtet sich meine Aufmerksamkeit meist weg von den Worten: hin zu Tonfall, Pausen, der Dynamik im Murmeln, zu Körperhaltung und Blicken. Der Inhalt der Worte ist sicher wichtig. Ich selbst brauche ihn jedoch nicht, um zu erkennen, ob eine Gruppe »auf Kurs« ist. Die Qualität der Verbindung zwischen Menschen hängt selten am Inhalt. Es ist etwas anderes, vielleicht Unbenennbares – und doch spürbar, wenn es da ist.

Darum beginne ich viele Treffen mit einer Phase, in der alle Teilnehmenden schweigend umhergehen und einander in die Augen sehen. Die Teilnehmenden berichten fast immer, dass sie sich damit zunächst etwas unbehaglich fühlen, später jedoch feststellen, wie schnell die Gespräche tiefer und fokussierter werden, als sie es mit »Fremden« erwartet hätten.

»Wenn ich einem Menschen begegne, treffe ich stets auch auf ein Geheimnis.«

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die »Magie« dieser Methode etwas mit dem Halten einer kollektiven Unsicherheit oder Angst vor dem Unbekannten zu tun hat. Wenn ich einem Menschen begegne, treffe ich stets auch auf ein Geheimnis. Ich begegne einer ganzen Lebensgeschichte, einem Universum an Erfahrungen, Träumen, Ideen, Überzeugungen, von dem ich in jedem Fall nur einen kleinen Eindruck erhalten kann.

Sobald wir anfangen zu sprechen, verdichten und reduzieren wir dieses innere Universum in eine konkrete sprachliche Form. Worte geben uns etwas Festes, eine scheinbare Klarheit. Das kann bedeutsam sein – doch oft dient es vielleicht auch dazu, uns an der Konkretheit festzuhalten und dem Unbehagen auszuweichen.

Es erfordert Mut, einfach in der Gegenwart dieses Geheimnisses zu verweilen – nicht nur im Unbekannten des Anderen, sondern auch im Unbekannten in mir selbst. Wenn es einer Gruppe jedoch gelingt, die Gegenwart des Unbekannten willkommen zu heißen, können Worte Brücken zum Unsagbaren werden – hin zu einer tieferen Schicht gemeinsamer Erkundung, in der wir verbunden sind und einander verstehen, selbst wenn unsere Worte und Deutungen sich unterscheiden. Schweigend in Blickkontakt zu gehen – nicht zu intensiv, aber spürbar – ermöglicht es Gruppen, sich auf dieses Unbekannte einzustimmen und »okay« damit zu sein.

Vielleicht stellen wir dann fest, dass viele Worte gar nicht gesprochen werden müssen. So vieles wird möglich, wenn Menschen einfach beieinander sein und die unausgesprochene Präsenz der unendlichen Geheimnisse halten können, die jede und jeder in eine Begegnung mitbringt. Und dennoch sitze ich hier – und schreibe Ihnen diese Worte, ahnend, dass sie das Eigentliche wohl niemals vollständig einfangen werden.

Author:
Dr. Thomas Bruhn
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