July 7, 2025
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Oft ist uns nicht bewusst, dass unsere Art, die Welt wahrzunehmen, nicht einfach so gegeben ist, sondern sich kulturell und historisch gebildet hat. Wenn wir das erkennen, öffnet sich die Möglichkeit, die Welt und unseren Platz darin neu zu sehen und zu gestalten.
Unsere individuelle, individuierte Weise in der Welt zu sein, ist uns so selbstverständlich, dass wir annehmen, menschliches In-der-Welt-Sein wäre einfach so. Ich möchte hier mit einem kurzen Durchgang durch unsere Kulturgeschichte einige Schlaglichter werfen, um zu zeigen, dass wir als Menschheit die Welt nicht immer so gesehen haben. Dadurch können wir die Besonderheit unseres Blicks erkennen und so verstehen, dass wir die Welt auch anders wahrnehmen können.
Die Geburt der Metaphysik
Als Erstes möchte ich die Geburt der abendländischen Philosophie ansprechen. Ich spreche hier gewissermaßen aus einer eurozentrischen Perspektive, wobei man diese Entwicklung auch in anderen Kulturkreisen beobachten kann. Aber die zentrale Entwicklungslinie, auf die ich hinweisen möchte, ist im europäischen Kulturbereich besonders ausgeprägt.
Oft ist uns nicht bewusst, dass unsere Art, die Welt wahrzunehmen, nicht einfach so gegeben ist, sondern sich kulturell und historisch gebildet hat. Wenn wir das erkennen, öffnet sich die Möglichkeit, die Welt und unseren Platz darin neu zu sehen und zu gestalten.
Unsere individuelle, individuierte Weise in der Welt zu sein, ist uns so selbstverständlich, dass wir annehmen, menschliches In-der-Welt-Sein wäre einfach so. Ich möchte hier mit einem kurzen Durchgang durch unsere Kulturgeschichte einige Schlaglichter werfen, um zu zeigen, dass wir als Menschheit die Welt nicht immer so gesehen haben. Dadurch können wir die Besonderheit unseres Blicks erkennen und so verstehen, dass wir die Welt auch anders wahrnehmen können.
Die Geburt der Metaphysik
Als Erstes möchte ich die Geburt der abendländischen Philosophie ansprechen. Ich spreche hier gewissermaßen aus einer eurozentrischen Perspektive, wobei man diese Entwicklung auch in anderen Kulturkreisen beobachten kann. Aber die zentrale Entwicklungslinie, auf die ich hinweisen möchte, ist im europäischen Kulturbereich besonders ausgeprägt.
In der europäisch-abendländischen Kulturgeschichte und Philosophie gab es einen entscheidenden Übergang, den man als die Geburt der Metaphysik bezeichnen kann, die vor allem mit dem Philosophen Platon verbunden ist. Vordem waren wir eingebettet in eine Wahrnehmung von Welt, die sprachlich von Mythen und Naturwahrnehmung geprägt war. Indigene Kulturen – und dazu zähle ich auch das Griechenland in der Zeit von Homer – sahen die Götter als lebendige Wirklichkeiten, eingebettet in Landschaften und all die Wirklichkeiten, die uns umgeben.
Im Gegensatz dazu hat die Metaphysik zu einer Zweiteilung der Welt geführt: Es gibt eine manifestierte und eine ideelle Welt. Die ganze abendländische Philosophie hat sich aus dem Platonismus entwickelt, den man in einem Satz zusammenfassen kann: Die eigentliche Welt ist die ideelle Welt der Ideen, der Ideale, der Formen, und die manifeste Welt ist eigentlich nur ein Schatten dieser Welt.
Diese Zweiteilung erlaubt uns, aus der mannigfaltigen Manifestation von Wirklichkeit eine ideelle Weltsicht im Sinne Platons zu entwickeln. Diese Sichtweise ist sehr kulturschaffend geworden, zum Beispiel indem wir so etwas wie das Gute selbst als Idee oder ein grundlegendes Prinzip in die Wahrnehmung bringen. Es erlaubt uns, etwas als das höchste Gut zu erkennen, das wir das Gute nennen. Menschen hatten schon vor der Metaphysik eine Wahrnehmung, dass etwas gut sein kann. Aber mit Platon und noch stärker im platonisch geprägten Christentum haben wir nicht nur etwas als gut wahrgenommen, sondern wir haben das Gute selbst in den Blick genommen. Das Gute selbst, die Idee des Guten, war die grundlegende Idee von Platon, die vom platonischen Christentum übernommen und mit dem christlichen Gott gleichgesetzt wurde. Unsere Ideenwelt ist also nicht nur die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, sondern die Ideenwelt selbst wird eine Form der Wahrnehmung: Wir blicken nicht nur durch die Ideen auf die Welt, sondern wir sehen aus den Ideen heraus. Die Ideenwelt ist das, was uns eigentlich ausmacht. Die Transzendenz unseres irdischen Seins und der Übergang in eine transzendente andere Wirklichkeit der Ideen in der abendländischen Spiritualität haben hier ihren Ursprung. Das hat unsere Wahrnehmung der Welt und die Kulturen, die daraus entstanden sind, radikal verändert.
Die Geburt der Moderne
Ich möchte nun einen großen Sprung machen, von der Geburt der Metaphysik zur Geburt der Moderne. Mit der Geburt der Moderne findet wiederum eine radikale Veränderung unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit statt. Mit der antiken und mittelalterlichen Erkenntnisweise waren wir noch immer in der Welt. Die Welt wurde zwar zweigeteilt in die irdische und die transzendente Welt, aber wir waren direkt in Kontakt mit diesen Welten.
Mit der Geburt der Moderne geschah etwas Neues, das man an Kopernikus festmachen kann. Kopernikus hat uns vom klassischen Weltbild, in dem sich die Sterne um die Erde drehen, befreit. Er ersetzte es durch das heliozentrische Weltbild, in dem sich die Planeten und auch die Erde um die Sonne drehen. Er fand dieses neue Verhältnis aufgrund mathematischer Berechnungen. Die mathematischen Berechnungen gingen auf, wenn man nicht annahm, dass die Erde der Mittelpunkt ist, sondern dass die Sonne im Mittelpunkt steht.
»Die Grundlage unserer modernen Weltwahrnehmung ist, dass wir alles als wissenschaftlich berechenbar wahrnehmen.«
Das klingt für uns selbstverständlich, aber wir können hier innehalten und wahrnehmen, wie sehr diese Revolution der Sichtweise uns verändert hat. Bis dahin war offensichtlich, dass die Welt so war, wie wir sie wahrnahmen. Interessanterweise nehmen wir die Welt noch immer so wahr, dass am Morgen die Sonne aufgeht und am Abend untergeht. Was Kopernikus sagte und was letztendlich zum Teil unserer Kultur geworden ist, kann man so auf den Punkt bringen: Wir dürfen unserer Wahrnehmung nicht vertrauen, wir müssen der Abstraktion der Mathematik folgen. Wenn wir Wahrheit wollen, ist die Mathematik verlässlicher als unsere Wahrnehmung. Wahrheit liegt also nicht in unserer konkreten menschlichen Wahrnehmung, sondern in abstrakten Gleichungen der Mathematik. Diese Sichtweise ist die Grundlage von Wissenschaftlichkeit, und dadurch haben wir sehr viel erreicht. Aber die Wissenschaft hat uns auch radikal von der Welt entfremdet, weil die Welt uns verdächtig geworden ist.
Galilei hat diese Entwicklung mit der Entdeckung der Schwerkraft zugespitzt. Newton hat in der Folge die neuen physikalischen Erkenntnisse zusammengefasst. Demnach ist die Grundlage unserer ganzen Physik, dass Bewegung immer von außen entsteht, indem Dinge angestoßen werden und dadurch Energie von einem zum anderen überspringt. Das ist die Grundlage eines mechanischen Weltbildes, wo alles zu einem riesigen Billardspiel wird, das sich nur mechanisch bewegt.
Bei Aristoteles in der antiken Philosophie hingegen war Bewegung noch etwas völlig anderes, sie war immer eine innere Bewegtheit. Dinge haben eine innere, lebendige Bewegtheit. Sie sind nicht eine Billardkugel, die angestoßen wird, sondern sie haben einen Drang, sich zu bewegen. Man kann also sagen, dass die Physik Galileis und Newtons die Welt getötet hat, weil eine lebendige Bewegung nicht mehr Teil der Wahrnehmung ist, sondern nurmehr alles auf einen mechanischen Anstoß zurückgeführt wird. Dadurch ist Wissenschaft erst möglich geworden, und unsere mechanische Wissenschaft war mit dieser Annahme sehr erfolgreich. Wir sehen aber, wie radikal der Blick sich verändert, wenn die Welt nicht mehr aus Subjekten besteht, die in sich bewegt sind, sondern in ihr alles nurmehr aus Sicht von Billardkugeln wahrgenommen wird.
Diese moderne Sicht hat unseren Blick auf die Welt und unser In-der-Welt-Sein radikal verändert. Eine Zuspitzung war dann das Denken von René Descartes, der versucht hat, diese Sichtweise der modernen Naturwissenschaft in ein philosophisches System zu gießen. Er formulierte eine andere Zweiteilung: Nicht die Zweiteilung Platons von der immanenten Welt und den transzendenten Ideen, sondern die Zweiteilung des Subjekts und der objektiven mechanischen Welt. Mit der Geburt der Moderne, vor allem mit der Idee des Subjekts bei Descartes – »Ich denke, also bin ich« – entdecken wir uns als vereinzelte Individuen, die einer Welt von Nicht-Ich gegenüberstehen. Und hier stellt sich nun die Frage: Wie verbindet sich dieses subjektive Bewusstsein, das ja in meiner Selbstheit gefangen ist, mit anderen? Wie ist da überhaupt Beziehung möglich?
Es gibt die verschiedensten Versuche, dieses Subjekt-Objekt-Problem und damit verbunden das Leib-Seele-Problem zu lösen, zum Beispiel von Spinoza oder Leibnitz. Sie alle basieren aber auf der Entdeckung des vereinzelten Individuums, das einer Welt gegenübersteht. Es sind zwei verschiedene Welten: die wahrnehmende innere Welt des Subjekts und die wahrgenommene äußere Welt der Objekte. Die Grundlage unserer modernen Weltwahrnehmung ist, dass wir alles als wissenschaftlich berechenbar wahrnehmen und dass wir uns als Subjekte verstehen. Mit diesem historischen Blick sehen wir, dass unsere Weltwahrnehmung als getrennte Subjekte nicht selbstverständlich ist, sondern das haben wir uns über Jahrhunderte in mühsamer Kulturbildung erarbeitet.
Systeme statt Subjekte
Nun möchte ich noch einen weiteren Sprung vollziehen, den ich als einen anderen Blick auf die Postmoderne bezeichnen würde. Was mit der Moderne, mit der Wissenschaftlichkeit und mit der Entwicklung der Technik entstanden ist, hat in den letzten 60 Jahren mit der Postmoderne eine Zuspitzung erreicht. Hier haben sich Selbst- und Weltverständnis noch einmal radikal verändert. Ein Schlüssel dafür ist die Entdeckung der Systemwissenschaften, in denen alles nicht nur ein mechanisches System von Billardkugeln ist, sondern wir die Systemzusammenhänge erkennen. Unser Weltzusammenhang ist ein kapitalistisches, ökonomisches System, das in einem ökologischen System existiert. Wir als Subjekte sind letztendlich immer Teil dieses Systems. Wir sind Teil des Wirtschaftssystems und des Kultursystems. Das eigentlich Existierende ist dann nurmehr das, was wir als System denken können. Deswegen werden die postmodernen Philosophen als Strukturalisten bezeichnet, die sich auf Strukturen festlegen. Man könnte sagen, sie sind eigentlich System-Wissenschaftler, die Wirklichkeit als System wahrnehmen.
In dieser Sicht der Systeme schaffen wir uns als Subjekte zum Teil wieder ab und werden nurmehr ein optimierbarer Teil eines Systems – angeschlossen durch Mobiltelefone und Internet, optimierbar auch durch Yoga und Meditation, um besser zu funktionieren. Alles wird in ein berechenbares, algorithmisches System eines Weltzusammenhangs integriert. Dabei steht mittlerweile nicht nur theoretisch, sondern praktisch infrage, ob wir mit der Übernahme der künstlichen Intelligenz in diesen algorithmischen Systemen, die in der künstlichen Intelligenz viel besser verarbeitbar sind, aufgehen werden. Dann sind wir nurmehr Teil des Systems von künstlicher Intelligenz und ihrer systemischen Optimierung.
Die Achtsamkeitsbewegung
Wir haben hier einige Schlaglichter auf die Kulturentwicklung von der Vormoderne über die Geburt der Metaphysik und der Moderne bis in die Postmoderne geworfen. Nun möchte ich auf eine Art Gegenbewegung eingehen, die wir in der Gegenwart sehen können. Auch hier nenne ich nur einige herausstechende Entwicklungen. Das eine ist die Achtsamkeitsbewegung der letzten 30 bis 40 Jahre. Dabei ist Meditation von einem Außenseiter-Phänomen zu etwas geworden, das mittlerweile in Schlagzeilen des Spiegel oder Time Magazine erscheint und die Führungsetagen großer Konzerne erreicht hat.
Ein grundlegendes Element der Achtsamkeitsbewegung ist, dass sie uns dazu anhält, aus der Subjekt-Objekt-Wahrnehmung von Welt auszusteigen und eine Übung von Gegenwärtigkeit zuzulassen. In dieser Anwesenheit zeigt sich etwas anderes als Subjekte und Objekte, als algorithmisch berechenbare Systemzusammenhänge: Anwesenheit, Gegenwart, Staunen, Nichtwissen. Diese inneren Erfahrungen und Haltungen sind in Meditationspraktiken in den verschiedensten Formen nicht berechenbar zugänglich, aber sie können kultiviert werden. Dadurch entsteht eine Form der Weltwahrnehmung, die auch eine Antwort auf die eben beschriebene Kulturentwicklung ist.
»Es ist etwas genuin Menschliches, dass in dem Raum, in dem wir uns begegnen, ein Mysterium möglich ist.«
Mindestens ebenso wichtig wie die Achtsamkeitsbewegung ist in diesem Zusammenhang die Frauenbewegung seit den 70er-Jahren. Auch hier wurde das metaphysische, modernistische Subjekt-Objekt-Denken in einer Weise radikal infrage gestellt, die uns neue Perspektiven eröffnete. Das hat sehr viel damit zu tun, dass wir auch verkörpert miteinander in dieser Welt sind – miteinander als Menschen und mit der natürlichen Welt. Auch das integrale Denken, wie es vor allem Ken Wilber in den letzten Jahrzehnten geprägt hat, hat Wege zu einer ganzheitlicheren Sicht der Wirklichkeit eröffnet.
Kollektive Achtsamkeit
In der Achtsamkeitsbewegung der Postmoderne sehen wir in den letzten Jahren auch verstärkt eine Erweiterung in eine kollektive Achtsamkeit, die über mich als Individuum hinausgeht. Es gibt eine ganze Reihe von Kulturpraktiken, in denen versucht wird, Achtsamkeit nicht nur in Vereinzelung zu praktizieren, sondern im Miteinander – Emergent Dialogue, das im Dialog praktiziert wird, ist eine davon. Otto Scharmers U-Prozess ist eine bekannte Praxis in diesem Sinne, weitere Ansätze sind Bohm’scher Dialog, Circling, Authentic Relating, Dialogos und andere »We Space«-Praktiken.
Ein Grund für diese Erweiterung ist, dass mit der ökologischen Krise die Wahrnehmung zunimmt, dass Achtsamkeit nicht nur mit unserer menschlichen Kultur, sondern auch mit unserer mehr-als-menschlichen Mitwelt, mit unseren Mitbewohnern der Erde kultiviert werden kann. Wir können eine achtsame Gemeinsamkeit mit der Natur praktizieren.
Mit Emergent Dialogue versuchen wir, diesen nächsten Schritt in der Achtsamkeitsbewegung mitzugestalten. Auch angesichts der Herausforderung des Internets, der digitalen Medien, der künstlichen Intelligenz und der algorithmischen Systemzusammenhänge, die damit einhergehen. Die Praxis des Emergent Dialogue möchte ein Netzwerk von Menschlichkeit entwickeln, in dem wir etwas kultivieren, was zutiefst menschlich und dem sich an Maschinen orientierenden Bewusstsein nicht zugänglich ist: den Sinn für das Wunderbare, für das Nichtwissen, für die Heiligkeit von Gegenwart.
Eine neue Intelligenz aus dem Miteinander
Das ist keine Technikfeindlichkeit, weil unsere Technik durchaus eine Notwendigkeit ist und auch positive Seiten hat. Aber um nicht von der Technik beherrscht zu werden, brauchen wir eine tiefe Selbst-Vergegenwärtigung unserer menschlichen Gemeinsamkeit. Es ist die Wahrnehmung, dass wir uns in einer offenen Gegenwart begegnen können, wobei in diesem Raum zwischen uns etwas entsteht, das auch ein Mysterium ist. Dieses Mysterium ist für Maschinen nicht zugänglich. Es ist etwas genuin Menschliches, dass in diesem Raum, in dem wir uns begegnen, ein Mysterium möglich ist. Wenn wir miteinander anwesend sind, können wir erleben, dass jede Gegenwärtigkeit, wenn sie tief genug wahrgenommen wird, auch die Dimension des Wunderbaren, des Offenen, des Heiligen umfasst. Dabei erkenne ich, dass es meine Vereinzelung, so wie ich sie denke, eigentlich gar nicht gibt, sondern dass wir immer schon eingebunden sind im Miteinander und dass dieses Miteinander auch kultiviert werden kann.
Die Kultivierung von Emergent Dialogue ist in diesem Sinne eine Fortsetzung der Achtsamkeitsbewegung in eine kollektive Kultur von Anwesenheit mit einem Sinn für das Wunderbare, aber auch mit einem Sinn für die Emergenz. Emergenz bedeutet, dass zwischen uns etwas aus dem Nichts entstehen kann, einfach aus der Kraft unserer Gemeinsamkeit. Diese Emergenz ist genuin menschlich, sie kann praktiziert werden, und darin entsteht in unserer Gegenwärtigkeit eine neue Intelligenz aus dem Miteinander – mit dem Menschlichen, dem Mehr-als-Menschlichen und mit dem Mysterium.