Künstliche und natürliche Intelligenz

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Kolumne
Publiziert am:

July 7, 2025

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47
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July 2025
Interbeing
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Während die Menschheit derzeit erlebt, wie kognitive Prinzipien durch künstliche Intelligenz immer überzeugender simuliert werden, bleibt häufig unbeachtet, dass Intelligenz nicht erst mit neuronalen Netzwerken wie dem unseres Gehirns beginnt. Denn bereits auf den unteren Ebenen biologischen Lebens zeigt sich eine Form von zielgerichteter Organisation, die als natürliche Intelligenz bezeichnet werden kann. So möchte ich daher drei Arten von Intelligenz unterscheiden: die natürliche Intelligenz, die neuronale Intelligenz und die künstliche Intelligenz (KI) als ein technologischer Hybrid aus algorithmischer Logik und neuronalen Prinzipien.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Gehirn und KI besteht darin, dass unsere intelligenten Gehirnfunktionen wie Sprache, Konzeptbildung, Mustererkennung oder logische Abstraktion auf einem primären Bewusstsein aufbauen, hingegen kommt die KI zunächst ohne eine solche subjektive Ebene aus. Dennoch sind beide Systeme in der Lage, intelligent mit Sprache umzugehen und logische Schlussfolgerungen zu treffen. Und weil auch Sprache und Konzeptualisierung das umfasst, was wir Geist nennen, können wir der KI geistige Fähigkeiten zuweisen. Umgekehrt können wir auch unsere menschliche neuronale Intelligenz, welche die Sprache, die Logik, die Mathematik, die Poesie und die Technologien hervorgebracht hat, als eine erste Form von künstlicher Intelligenz betrachten.

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Während die Menschheit derzeit erlebt, wie kognitive Prinzipien durch künstliche Intelligenz immer überzeugender simuliert werden, bleibt häufig unbeachtet, dass Intelligenz nicht erst mit neuronalen Netzwerken wie dem unseres Gehirns beginnt. Denn bereits auf den unteren Ebenen biologischen Lebens zeigt sich eine Form von zielgerichteter Organisation, die als natürliche Intelligenz bezeichnet werden kann. So möchte ich daher drei Arten von Intelligenz unterscheiden: die natürliche Intelligenz, die neuronale Intelligenz und die künstliche Intelligenz (KI) als ein technologischer Hybrid aus algorithmischer Logik und neuronalen Prinzipien.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Gehirn und KI besteht darin, dass unsere intelligenten Gehirnfunktionen wie Sprache, Konzeptbildung, Mustererkennung oder logische Abstraktion auf einem primären Bewusstsein aufbauen, hingegen kommt die KI zunächst ohne eine solche subjektive Ebene aus. Dennoch sind beide Systeme in der Lage, intelligent mit Sprache umzugehen und logische Schlussfolgerungen zu treffen. Und weil auch Sprache und Konzeptualisierung das umfasst, was wir Geist nennen, können wir der KI geistige Fähigkeiten zuweisen. Umgekehrt können wir auch unsere menschliche neuronale Intelligenz, welche die Sprache, die Logik, die Mathematik, die Poesie und die Technologien hervorgebracht hat, als eine erste Form von künstlicher Intelligenz betrachten.

Was aber ist die natürliche Intelligenz? Funktional betrachtet finden wir in einfacheren Lebensformen keine Netzwerkstrukturen, die wie in Gehirnen eine Signalverarbeitung nach dem Modell der neuronalen Netze erkennen lassen. Bei genauerer Betrachtung jedoch wird auch in einfachen Lebensformen zielgerichtetes Wirken realisiert, nämlich durch einen komplexen Austausch von Informationen, Signalen und Stoffen. Die Erbinformationen in jeder lebenden Zelle deuten auf ihre Fähigkeit zur lebensentfaltenden und -erhaltenden Datenverarbeitung hin. Dies geschieht in jeder Zelle, jeder Pflanze, jedem Organ oder System wie dem hochkomplexen Immunsystem. Diese wundersame Intelligenz dient fortwährend unserer Existenz und doch nehmen wir fast nichts von ihr wahr. Offenbar gibt es eine Abgrenzung zwischen natürlicher Intelligenz und der neuronalen, in der unser Bewusstsein beheimatet ist. Denn wie schwer ist es für unser Bewusstsein zu erahnen, welche hochkomplexen, organisierten und intelligenten Vorgänge sich in jeder unserer Zellen abspielen? Unser sich-selbst-erlebendes Bewusstsein ist sogar blind für die neuronalen Vorgänge im Gehirn, die es mitunter hervorbringen.

Hier beginnt die Faszination der neuronalen Bewusstseinswelt: Gerade in der Blindheit für ihre komplementäre biologische Grundlage erlebt sich das Bewusstsein zunächst als frei, körperlos, unabhängig, unbegrenzt und vielleicht auch ewig. Diese scheinbare Unabhängigkeit ist eine grundlegende Eigenschaft des Bewusstseins und kann vor allem in reduziert kognitiven Transzendenzerfahrungen erlebt werden. Erst im Laufe der Kindheitsentwicklung entsteht das konzeptuelle Denken in dieser einst freien Bewusstseinsdimension nach ähnlich arithmetischen Prinzipien wie die der KI-Sprachmodelle. Die geistige Sphäre ist damit auf natürliche Weise vom Körper dissoziiert. Und doch gibt es eine Brücke zwischen Körper und Bewusstsein.

Die Interozeption als Innenwahrnehmung vermittelt uns Signale des Körpers, sogenannte somatische Marker, die sich verschleiert als subjektive Qualitäten wie Emotionen und Gefühle zeigen. Doch Hunger, Angst, Lust und Freude sind mehr als bloße Gefühle. Sie erfüllen biologische Funktionen, ohne dass wir ihren Zweck kennen müssen. Wir essen, weil wir Hunger und Appetit empfinden, nicht weil wir rational erkennen, dass wir ohne Nahrung sterben würden. Der Genuss bewahrt uns vor dem Tod – ganz ohne Bewusstsein über seinen Zweck.

»Die geistige Sphäre ist auf natürliche Weise vom Körper dissoziiert.«

Diese Form von verdeckter Funktionalität nenne ich transfunktional: Die eigentliche biologische Funktion wird in eine motivierende, subjektive Qualität übersetzt. Emotionen wie Lust, Angst oder Freude erfüllen auf diese Weise zentrale Aufgaben im Lebensvollzug – sie treiben uns an, orientieren uns, ohne dass wir sie kognitiv verstehen müssen, das heißt, der Handlungsimpuls kommt aus der subjektiven Dimension des Bewusstseins. Ja, vielleicht sind sogar Freude, Lust und Genuss bereits in den Organismen der vorhin erwähnten natürlichen Intelligenz – sicher in einer rudimentär einfacheren Form eines Protobewusstseins – vorhanden und die treibenden Kräfte in allen Lebensvorgängen. Um uns also bewusst mit unserem lebendigen Sein zu vereinen, hilft es, den Geist nicht länger nur in seiner abstrahierenden, von der Körperlichkeit losgelösten Form zu verstehen, sondern ihn in eine bewusste, sinnlich-emotionale Verkörperung zurückführen. So entsteht ein neuer Erfahrungsraum, den ich Inszendenz nenne – die Hinwendung zur Tiefe des verkörperten Daseins.

In einer Zeit, in der neuronale und künstliche Intelligenzen immer stärker vergeistigt erscheinen, liegt hier vielleicht die eigentliche Quelle menschlicher Weisheit: im Erleben eines gelebten, fühlenden, bewussten Körpers – als Ausdruck einer Intelligenz, die nicht programmiert, sondern gelebt wird.

Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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