July 7, 2025
.jpeg)
Polarisierung und Fragmentierung scheinen unsere Gesellschaft immer instabiler zu machen. Wie können wir einen verbindenden Grund finden, der aus der Tiefe unseres Menschseins kommt?
Eine Gesellschaft braucht gemeinsame Sinnhorizonte, auf die sie sich als Gesellschaft verständigt. Diese Sinnperspektiven müssen nicht identisch, aber verbindbar sein. Wenn sie nicht verbindbar sind, zerreißt eine Gesellschaft. Wir scheinen gerade in einer Situation zu sein, in der diese Gefahr zunimmt. Die Frage ist also: Wie können wir uns gemeinsam einen Sinnhorizont erarbeiten, der wesentlich ist und eine gesellschaftliche Verbindlichkeit für uns hat? Keine Verbindlichkeit in einem juristischen Sinn, sondern in einem kulturellen Sinn, damit es in unseren kulturellen Handlungen eine gewisse Basis und Standfestigkeit gibt.
Polarisierung und Fragmentierung scheinen unsere Gesellschaft immer instabiler zu machen. Wie können wir einen verbindenden Grund finden, der aus der Tiefe unseres Menschseins kommt?
Eine Gesellschaft braucht gemeinsame Sinnhorizonte, auf die sie sich als Gesellschaft verständigt. Diese Sinnperspektiven müssen nicht identisch, aber verbindbar sein. Wenn sie nicht verbindbar sind, zerreißt eine Gesellschaft. Wir scheinen gerade in einer Situation zu sein, in der diese Gefahr zunimmt. Die Frage ist also: Wie können wir uns gemeinsam einen Sinnhorizont erarbeiten, der wesentlich ist und eine gesellschaftliche Verbindlichkeit für uns hat? Keine Verbindlichkeit in einem juristischen Sinn, sondern in einem kulturellen Sinn, damit es in unseren kulturellen Handlungen eine gewisse Basis und Standfestigkeit gibt.
Eine Verständigungspraxis über Sinnhorizonte
Emergent Dialogue kann man als Verständigungspraxis über Sinnhorizonte verstehen. Im Kleinen und im Großen können wir uns mit einem Verständigungsinteresse aufeinander einlassen und einander authentisch begegnen. Die Kraft von Emergent Dialogue besteht darin, das Gewahrsein meines authentischen Hierseins von einem unauthentischen Hiersein unterscheiden zu können. Authentisches Hiersein bedeutet in diesem Kontext, an dem Gegenüber und der gemeinsamen Gegenwart interessiert zu sein und dieses Interesse miteinander zu praktizieren. Das klingt trivial. Aber um wirklich am anderen interessiert zu sein, ist eine existenzielle Haltung der Offenheit nötig, in der ich mich darauf einlasse, dass der andere auch fremd ist. Ich besitze den anderen nicht bereits in meinem Wissen, sondern er ist mir fremd, und ich kann ihm nur durch Offenheit begegnen. Was heißt das überhaupt, mich von dem anderen so berühren zu lassen, dass ich mich auch auf seine Fremdheit einlasse? Und mich dann als zweiten gemeinsamen Schritt auf seine Fremdheit in einer Weise einlasse, dass ich sie in einer gemeinsamen Einheit wahrnehme, die mir vielleicht unbekannt ist. Der andere ist mir vielleicht zu einem Teil unbekannt. Vielleicht ist mir seine Fremdheit so fremd, dass ich hier zunächst keine Einheit wahrnehmen kann, in der wir gemeinsam anwesend sind.
»In der Verständigung sehe ich die politische Relevanz spiritueller Praxis.«
Wenn es mir gelingt, mich nicht nur kognitiv, sondern vor allem existenziell auf die Vielheit der Gegenwart in der Andersartigkeit und die Einheit der Gegenwart, in der wir zusammen sind, einzulassen, und wenn ich darin einen gemeinsamen Sinnhorizont wahrnehmen kann, ereignet sich Verständigung. Wenn wir uns darauf verständigen können, dass es nicht nur meine Wahrnehmung, sondern eine beiderseitig geteilte Wahrnehmung ist, dann entwickeln wir einen gemeinsamen Sinnhorizont. Dann ist Verständigung möglich. Das gibt unserem Zusammensein, sei es in einem Gespräch oder in einem größeren gesellschaftlichen Kontext, einen Sinn.
In dem Maße, in dem das gelingt, schaffen wir die Saat einer Gesellschaft, die sich aus einer offenen Begegnung heraus einen gemeinsamen Sinnhorizont erarbeitet. Niemand – keine zehn Gebote, kein Papst, kein Gesetz, kein moralisches Gebot – hat uns diktiert, dass es in einer bestimmten Weise zu sein hat, sondern aus einem Verständigungsprozess haben wir uns gefunden. Die Basis besteht darin, dass wir unseren gemeinsamen Sinnhorizont als offene Gesellschaft aus Freiheit miteinander immer wieder neu gewinnen.
Dabei ist der Sinnhorizont einfach das, was für uns als Sinn erfahrbar ist. Das umfasst einen kognitiven Sinn, aber vor allem einen existenziellen Sinn. Das bedeutet, dass in einer bestimmten Situation wie einem Gespräch das jeweilige Zusammensein von mir als sinnhaft empfunden und wahrgenommen wird. Wenn ich es nicht so wahrnehmen würde, wäre es vielleicht besser zu gehen. Der Zusammenhalt entsteht dadurch, dass wir motiviert sind, hier zu sein – nicht, weil wir dazu gezwungen sind, sondern aus Sympathie und weil das Zusammensein sinnvoll ist. Es könnte ja sein, dass wir uns sehr sympathisch sind, aber es macht überhaupt keinen Sinn, dass wir zusammen sind.
Insofern ist das Ausschlaggebende der Sinnhorizont.
Begegnung im Namenlosen
Damit Fremdheit nicht zu Fragmentierung wird oder auseinanderfällt, ist es wichtig, dass wir uns in Freiheit darauf verständigen, dass wir etwas Gemeinsames wahrnehmen, wir uns frei darauf einigen: Oh ja, du nimmst das auch so wahr.
Ein Beispiel aus dem spirituellen Bereich ist die Meditation, die auch gesellschaftliche Bedeutung haben kann. Meditation können wir verstehen als ein Einlassen auf die Offenheit, ohne sich auf jeweilige Einzelheiten zu fokussieren. Frei von Inhalten, die Offenheit oder die Leere selbst. In der Meditation kann die Erfahrung dieser Offenheit kultiviert werden, in der wir als Subjekt nicht getrennt sind. Diese Erfahrung kann ich als heilige Erfahrung wahrnehmen, weil sie zutiefst sinngebend ist, aber mich gleichzeitig übersteigt.
»Die Verständigung im Kontext der offenen Gesellschaft kann nicht erzwungen werden.«
Diese Erfahrung ist als Lebenspraxis wichtig, weil sie mich mit dem Wahren, Schönen und Guten verbindet. Es ist die Erfahrung von Nichtgetrenntheit oder Einheit, die oft als Erfahrung von Licht wahrgenommen wird. Wenn mir solche Erfahrungen existenziell wichtig sind, begegnen wir uns vielleicht in der Praxis. Ich merke, dass du in die gleiche Offenheit eintauchst und ähnliche Schlussfolgerungen ziehst. Ich sehe aber, dass du mit dieser Erfahrung ein anderes Narrativ verbindest. Zum Beispiel, dass es keine Allah-Erfahrung ist mit dem ganzen kulturellen Kontext von Allah, sondern dass du ein meditierender Atheist bist, für den es mit den Werten des Humanismus zu tun hat. Du kannst mit dem Gottesbegriff überhaupt nichts anfangen und empfindest meinen kulturellen Kontext als Muslim als fremd. Aber wir können wahrnehmen, dass wir in unserer Erfahrung, die uns gemeinsam vielleicht sogar die wichtigste Erfahrung ist, treffen. Es ist ein Treffen im Namenlosen, frei von Narrativen. Dadurch kann sich eine Brücke bilden zwischen den Narrativen. Es kann ein Dialog darüber beginnen, wie die Narrative Verständigungsebenen miteinander entwickeln können und sich nicht nur fremd oder gar feindlich gegenüberstehen.
Ringen um Verständigung
Was in dem Beispiel, das ich geschildert habe, die verbindende Dynamik auslöst, ist eine tiefe Einheitserfahrung. Bei unterschiedlichen politischen Einstellungen besteht die Schwierigkeit darin, dass es so etwas im Politischen normalerweise nicht gibt. Der Identifikationsprozess setzt sich im Getrennten fest, in der Idee eines marktliberalen Individualisten oder eines heimatverbundenen Patrioten. Die beiden Narrative stehen sich unversöhnlich gegenüber. Aber genau das ist meines Erachtens ein Argument, Menschen verschiedener Weltanschauungen zu motivieren, ihr Menschsein aus einer größeren Tiefe wahrzunehmen. Sie sind vielleicht weiterhin identitäre Patrioten oder marktliberale Individualisten, aber es könnte sich eine Ebene eröffnen, wo sie sich in ihrem gemeinsamen Menschsein finden können. Daraus können sie Handlungsoptionen finden, die nicht in verbale oder denkende Gewalttätigkeit, sondern in ein Ringen um Verständigung münden.
In der Verständigung sehe ich die politische Relevanz spiritueller Praxis im Allgemeinen und der spirituellen Praxis von Emergent Dialogue im Besonderen. Verständigung nicht in Nebensächlichkeiten, sondern in etwas existenziell Wesentlichem. Vielleicht ist Verständigung politisch nicht möglich, aber im gemeinsamen Verständnis, Mensch zu sein oder vielleicht sogar lebendiges Leben zu sein, kann sie zugänglich werden. Die Wahrnehmung von Verständigung eröffnet die Möglichkeit, sie zu vertiefen oder um diese Vertiefung zu ringen.
Es geht hier allerdings nicht um eine alles lösende Methode, sondern um eine Möglichkeit, neben der es noch viele andere Ansätze braucht, um Verständigungsebenen aufzubauen. Doch es ist ein möglicher Zugang durch die Erfahrung von lebendigen Wir-Räumen, die sowohl die Einheit als auch die Vielheit in einer dialektisch widersprüchlichen Weise halten können. Dadurch können wir Gemeinschaft über unsere Unterschiede hinweg leben. Es kann eine gemeinsame kulturelle Praxis, gesellschaftliche Praxis, spirituelle Praxis, eine Begegnungs- und Bewusstseinspraxis sein.
Die Verständigung im Kontext der offenen Gesellschaft kann nicht erzwungen werden, sondern nur aus Einwilligung geschehen. Die Einwilligung entsteht aus der Wahrnehmung von etwas, das als Verständigungsbasis erkannt wird. In der Praxis merke ich: Da ist etwas von dir, das mir verständlich erscheint. Indem ich es nicht als theoretische Möglichkeit wahrnehme, sondern ganz praktisch und lebensnah, entsteht eine Vertrauensbasis zwischen uns. Es gibt zumindest etwas, wo Vertrauen wachsen könnte, wodurch wir uns verständigen könnten. Es bedeutet auch, dass du vertrauenswürdig bist. Die gemeinsame Gegenwart und ihre Entfaltung werden als das Wesentliche erkannt. Es geht nicht vordergründig um meine individuellen Interessen, sondern darum, inwieweit ich für ein Größeres da sein kann.
Wenn Traditionen sich begegnen
Die Praxis im Emergent Interbeing hat wie jede tiefe spirituelle Praxis eine Ausrichtung auf das Eine. Wir nehmen wahr, dass die Gegenwart, in der wir uns gerade begegnen, das Eine als eine Ganzheit ist und ich für diese Ganzheit da sein kann. Das ist ein permanenter Lernprozess, und die Ausrichtung besteht darin, die Gegenwart so umfassend wie möglich wahrzunehmen. Auf einer existenziellen Ebene ist es eine tiefe Liebe zur Nichtgetrenntheit von Gegenwart. In einem anderen Narrativ könnte man es übersetzen als die Liebe zu Gott. Man kann es mit Aussagen aus der Bibel unterlegen, wenn Jesus sagt: »Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!« (Matthäus 25,40) Hier wird die Art, wie wir miteinander umgehen, auf Gott selbst rückbezogen. In dem Sinne spricht hier die Stimme Gottes.
Die Gottesbezeichnung findet sich hauptsächlich im abrahamitischen Verständnis, sei es jüdisch, islamisch oder christlich. Im Taoismus gibt es mit der Harmonie von Himmel und Erde ein anderes Narrativ, das ein eigenes Verständnis eröffnet. Das kann man mit dem Narrativ eines Bodhisattva-Gelübdes im Buddhismus verbinden, in dem die Befreiung aller Lebewesen vom Leid auch darauf hinweist, wie man für die Gegenwart da sein kann. Es ist eine andere Interpretation spiritueller Erfahrung, die zu Konflikten – oder aber zu einem spannenden Dialog – führen kann. Im Dialog kann man schauen, wie die Interpretationen miteinander vereinbar oder nicht vereinbar sind. Am interessantesten ist ein Lerngespräch, in dem die Traditionen voneinander lernen.
»Das Heilige der Begegnung ist eine Antwort auf die berechnende Welt.«
Die Traditionen müssen sich dabei nicht aufgeben. Im Gegenteil, sie können ganz authentisch anwesend sein, aber sie können in Offenheit den anderen Traditionen, die auch Jahrhunderte von Lernerfahrungen durchlaufen haben, begegnen. Die Traditionen haben eine jeweilige Perspektive entwickelt, die Stärken und Schwächen aufweist. Die christliche Perspektive, die alles auf das Personale orientiert – die personale Erfahrung des Absoluten als Gott und die personale Reifung des Heiligen als Person –, hat gewisse Stärken. Die Bodhisattva-Praxis oder die Praxis des Tao haben andere Schwerpunkte, obwohl es auch viele Berührungspunkte gibt. Daraus könnte man im Sinne von Hermann Hesse ein wunderbares »Glasperlenspiel« gestalten.
Das Unfassbare
Für diese Annäherung im Dialog finde ich den Begriff des Heiligen fruchtbar, weil er sich nicht notwendigerweise mit dem Narrativ verfängt, aber konkreter ist als der Begriff der Leere, des Offenen oder des Nichts. Das Heilige ist eine Grundqualität, und sie kann deshalb mit unterschiedlichen Narrativen des Verständnisses des Heiligen verknüpft werden. Dadurch hat es die Kraft, sowohl zu verbinden als auch zu differenzieren, weil das Heilige aus verschiedenen Narrativen anders wahrgenommen werden kann.
Das Heilige kann ich verstehen als das, was zutiefst sinnvoll ist, so dass es mich auf die Knie zwingt. Zur Dimension des Heiligen gehört auch, dass sie das Verständnis meines Sinnfeldes nicht nur ausschöpft, sondern es sprengt. Zu dem, was ich als mein Sinnfeld fassen kann, kommt noch die Dimension der Unfassbarkeit dazu. Ich kann mit dem Heiligen nicht nur all das, was ich als sinnvoll empfinde, zusammenfassen, sondern ich muss es sprengen und mich dem Unfassbaren öffnen, ohne dass es sinnlos wird. Ganz im Gegenteil: Es ist eine wesentliche Dimension des Heiligen, dass es das Unfassbare miteinschließt.
Das Unfassbare ist aber nicht identisch mit dem Heiligen. Der Ökozid ist unfassbar, aber das macht ihn nicht heilig. In der technischen Bewältigbarkeit von allem sehen wir eine kulturelle Verdrängung des Unfassbaren. Unsere technische Weltwahrnehmung hat den Anspruch, alles Unfassbare ins Anfassbare zu verwandeln, um es dann manipulieren zu können. Das Unfassbare zwingt uns, das Leben außerhalb dieser Machbarkeitsillusion wahrnehmen zu können und macht uns die Machbarkeitsillusion unseres technischen Weltverständnisses offensichtlich. Es eröffnet uns nicht nur den Horror, sondern auch das Heilige in neuer Weise, denn wenn alles anfassbar, machbar und kontrollierbar ist, dann ist uns das Heilige entgangen. Die Unfassbarkeit unserer Katastrophen zwingt uns dazu, die Heiligkeit des Lebens neu wahrzunehmen. Das Leben kann nicht als heilig wahrgenommen werden, wenn wir nur das Verfügbare sehen.
Das Heilige der Begegnung
Das Heilige der Begegnung ist eine Antwort auf die berechnende Welt. Das macht es so wichtig, uns gegenüber dem Heiligen wieder zu öffnen, seine Bedeutung neu zu erkennen. Die spirituellen Traditionen der Welt eröffnen uns einen großen Erfahrungsschatz des Heiligen. Aber es entsteht gerade auch etwas Neues. Wir erleben weltweit das Aufblühen dezentraler Netzwerke für eine neue Ökologie spiritueller Praktiken. Das Neue dieser Netzwerke liegt vielleicht gerade darin, dass sie einander bewusst sind, dass sie miteinander in einer lernenden Beziehung stehen. Es gibt ein Bestreben, sich in einem integralen Netzwerk von Netzwerken zu verbinden. Es entstehen Anfänge einer holografischen Landschaft unterschiedlicher Praktiken und Communities, die sich aufeinander beziehen und voneinander lernen, durchaus auch miteinander streiten, aber eben oft mit dem Bemühen um Verständigung. Wir erleben eine erstaunliche Gleichzeitigkeit von Vielheit, Unterschiedlichkeit, Einheit und Bezogenheit.
Vielleicht entsteht hier die neue spirituelle Landschaft einer offenen Gesellschaft und im Zentrum all dessen vielleicht auch eine neue spirituelle Kunst. Es ist eine Begegnungskunst, in der wir sowohl die Wurzeln unserer eigenen Herkunft neu würdigen als auch versuchen, die Komplexität unserer globalen Welt, soweit es möglich ist, zu halten und zu verstehen. Aber im Zentrum all dessen ist es eine sich neu formende Kunst der Begegnung, eine neue Kunst gemeinsamer Gegenwärtigkeit, in der Menschen lernen, miteinander anwesend zu sein, einander zu hören, sich voneinander berühren, vielleicht auch erschüttern zu lassen und wahrzunehmen, dass sich in jeder echten Begegnung die Welt neu findet. Das mag in der Begegnung zweier oder mehrerer Menschen sein. Das mag in der Begegnung zweier Kulturen sein. Das Heilige zeigt sich heute mehr denn je in unseren Begegnungen. Vielleicht ist die Kultivierung dieses kreativen Beziehungsraumes so etwas wie die spirituelle Praxis der offenen Gesellschaft.