Lauschen auf das, was werden will

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Essay
Publiziert am:

July 7, 2025

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47
|
July 2025
Interbeing
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Ereignis als spirituelle Praxis

Unser Bezug zur Welt kommt meist aus einer Haltung des Machens, die Kontrolle und Wissen umfasst. Aber was ist, wenn wir den Raum freigeben, damit sich das Leben aus sich selbst heraus entfalten kann? Dann wird das Geschehen zum Ereignis.

In dem Wort Ereignis liegt eine Bedeutung, die oft übersehen wird, nämlich Ereignen in dem Sinne, dass etwas zu sich selber kommen kann. Die Gegenwart – und zwar immer die Gegenwart, in der wir gerade sind – kann zu sich selber kommen, darf sich ereignen. Das wird klarer, wenn man es mit einer Haltung vergleicht, in der ich etwas machen will.

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Ereignis als spirituelle Praxis

Unser Bezug zur Welt kommt meist aus einer Haltung des Machens, die Kontrolle und Wissen umfasst. Aber was ist, wenn wir den Raum freigeben, damit sich das Leben aus sich selbst heraus entfalten kann? Dann wird das Geschehen zum Ereignis.

In dem Wort Ereignis liegt eine Bedeutung, die oft übersehen wird, nämlich Ereignen in dem Sinne, dass etwas zu sich selber kommen kann. Die Gegenwart – und zwar immer die Gegenwart, in der wir gerade sind – kann zu sich selber kommen, darf sich ereignen. Das wird klarer, wenn man es mit einer Haltung vergleicht, in der ich etwas machen will.

Wenn ich etwas machen möchte, zum Beispiel einen guten Dialog führen, dann habe ich eine Vorstellung von etwas, das ich gern möchte. Es klingt plausibel, einen guten Dialog führen zu wollen. Aber indem ich etwas machen möchte, projiziere ich schon eine Vorstellung von einem Ergebnis auf unsere Begegnung. Ich sehe das, was zwischen uns heute entstehen kann, schon durch den Filter meiner Vorstellungen. Das ist eine Verhaltensweise, mit der wir im Alltag oft unterwegs sind, und das ist auch in Ordnung. Aber es ist spannend, den Gegensatz zwischen einer Haltung zu sehen, in der ich etwas machen möchte, und einer, in der ich sich etwas ereignen lasse. Dann kann ich diese besondere Gegenwart, dieses dialogische Zusammenkommen sich ereignen lassen. Es darf zu sich selber kommen.

Radikale Offenheit

Das verlangt von mir eine radikale Offenheit, weil ich nie ganz wissen kann, was die Gegenwart ist. Ich habe meine Thomas-Perspektive darauf. Wir halten, wie alle Anwesenden, bestimmte Aspekte dieser Gegenwart unserer Zusammenkunft. Wie diese Ganzheit zu sich selber findet, hängt davon ab, wie alle Teile der Ganzheit in Zusammenklang kommen. Ich kann einen Anstoß geben, um auf Resonanz zu hoffen. Um zu sehen, wie sich durch das, was ich gesagt habe, und die Beiträge der anderen ein Resonanzfeld aufbaut, durch welches sich das Potenzial unserer Zusammenkunft ereignet. Ich lausche, was dieses Potenzial sein könnte, und bringe meine Sicht und Wahrnehmung ein. Gleichzeitig höre ich, was die anderen wahrnehmen und wie ihre und meine Wahrnehmungen in Resonanz sind. Dadurch ergibt sich ein permanentes Feedbackfeld. Darin kann die Gegenwart durch unsere Vielheit sich selber finden.

»Was will hier eigentlich zwischen uns geschehen?«

Ein Begriff, der hier hilfreich ist, kommt aus dem Taoismus: Wu-Wei. Wu-Wei, das Tun des Nichttuns, liegt zwischen Passivität und Aktivität, zwischen Tun und Nicht-Tun. Das bedeutet, die Gegenwart sich ereignen lassen: Es ist kein passives Zurücklehnen, auch kein aktives Machen, sondern die Synthese von beiden. Das erfordert Achtsamkeit für die Gegenwart, füreinander, für Resonanz und Synergie. Es muss nicht perfekt sein, aber in dem Maße, in dem es gelingt, ereignet sich das Ereignis. Das Potenzial von Gegenwart führt, es zeigt uns, wo es hinmöchte. Es ist nicht so, dass ich den Ton angebe, sondern ich bin ein Lauschender und Folgender. Wenn ich offen und wach genug bin, dann kann ich ein Katalysator, eine Hebamme der Gegenwart sein, die durch uns, durch unsere aktive/passive Wu-Wei-Anwesenheit zu sich selber kommen kann. Eine Hebamme hilft, damit etwas geboren wird, damit etwas zur Welt kommt.

Gelassenheit

Wenn wir die Gegenwart sich ereignen lassen, praktizieren wir eine Form von Gelassenheit. Gelassenheit ist die Fähigkeit, die Gegenwart sich ereignen zu lassen. Es ist eine Fürsorge für die Gegenwart, damit sie durch uns zu sich selber kommt – aber nicht in einem machenden Sinn, sondern in einem lassenden Sinn. Diese gelassene Haltung erfordert eine subtile Wahrnehmung von uns, weil es sehr leicht ist, in die Passivität oder in die Aktivität zu rutschen. Das Wuwei als Dazwischen oder Synthese davon zu halten, ist eine spirituelle Herausforderung.

Es gibt etwas, das sich nicht nur in dir ereignen will, sondern sich durch dich ereignen will. Die Gegenwart geht über dich hinaus. Das verlangt ein interessiertes Horchen: Was will hier eigentlich zwischen uns geschehen? Da ist ein Wollen, aber es ist nicht mein Wollen. Ich muss so ehrlich sein, dass ich mein Nichtwissen zulasse. Sobald ich glaube, dass ich etwas weiß, pfropfe ich meine Ideen darauf. Wichtig ist die Offenheit, die Neugier dafür, was sich zwischen uns ereignen möchte. Dieses Nichtwissen ist ein unangenehmer Platz. Wissen kann sich wie eine Erleichterung anfühlen, weil ich mich dann sicher fühle. Wenn ich im Nichtwissen bleibe, kann ich zuhören, wie sich mit all dem, was jeder und jede sagt, das Ganze immer mehr zeigt. Damit zeigt sich auch so etwas wie der Wille dieses Ganzen.

Dabei ist die Versuchung groß, die Gegenwart im Rahmen des von mir Gewussten bereits kristallisieren zu lassen. Vielleicht ist das gar nicht ganz vermeidbar – aber die Anstrengung, es nicht zu tun, ist entscheidend. Ich stehe in der Spannung, die Gegenwart im Intuitiven, im Offenen zu halten, das bedeutet, den Moment im Fluss zu halten, damit sich etwas Ungeahntes ereignen darf, das ich nicht schon mit meiner Gedankenwelt vorproduziert habe.

Das ist eine Haltung, die Sensibilität erfordert. Hierbei ist die Meditationspraxis eine Unterstützung, um in dieser Offenheit überhaupt stehen zu können und nicht permanent das Gewusste zu kristallisieren. Denn dann ist es nur mein Mentales, nicht die sich formende Gegenwart. Im Spirituellen kann man sagen, dass Nichtwissen die höchste Form des Wissens ist. Insofern ist Emergent Dialogue eine zutiefst reale kollektive spirituelle Praxis.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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