Aus Liebe zu meinem Land

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Publiziert am:

October 19, 2025

Mit:
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
48
|
October 2025
Die Flamme weitergeben
Diese Ausgabe erkunden

Über die Heilung des kollektiven Unbewussten

Ihr Leben lang erforschte die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin Barbara von Meibom die historischen Verletzungen, die es in Deutschland erschweren, sich der heilenden und verbindenden Kraft des Seelischen zuzuwenden.

Ich liebe mein Land. Es ist das Land meiner Kindheit, das Land meiner Sprache, die mich immer wieder begeistert und entzückt, es ist das Land meiner ersten Liebe, meiner ersten Schritte in ein selbständiges Leben, es ist das Land, in dem ich meine ersten Erfolge feiern durfte. Und zugleich ist es das Land meiner Schmerzen und meiner Trauer. Es ist das Land, in dem ich einen tiefen Riss erlebe, in dem sich die Menschen mit unverhohlener Aggressivität begegnen, in dem der graue Schleier der Resignation und der unverhohlenen Wut sich ausbreitet und in dem das Gefühl eines »schon wieder« immer mehr Menschen bedrückt.

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Über die Heilung des kollektiven Unbewussten

Ihr Leben lang erforschte die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin Barbara von Meibom die historischen Verletzungen, die es in Deutschland erschweren, sich der heilenden und verbindenden Kraft des Seelischen zuzuwenden.

Ich liebe mein Land. Es ist das Land meiner Kindheit, das Land meiner Sprache, die mich immer wieder begeistert und entzückt, es ist das Land meiner ersten Liebe, meiner ersten Schritte in ein selbständiges Leben, es ist das Land, in dem ich meine ersten Erfolge feiern durfte. Und zugleich ist es das Land meiner Schmerzen und meiner Trauer. Es ist das Land, in dem ich einen tiefen Riss erlebe, in dem sich die Menschen mit unverhohlener Aggressivität begegnen, in dem der graue Schleier der Resignation und der unverhohlenen Wut sich ausbreitet und in dem das Gefühl eines »schon wieder« immer mehr Menschen bedrückt.

Aufgewachsen im Kalten Krieg, bewusst geworden im Aufbegehren der 68er-­Generation, wurde mein Denken im universitären Diskurs geschult. Spätestens da hat mich der Schmerz am eigenen Land eingeholt. Heute kenne ich die Momente, in denen er entstand: Zuerst bei dem kriegstraumatisierten Vater, der gehalten wurde von meiner Mutter. Sie hatte gelernt, mit ihren eigenen Schmerzen niemandem zur Last fallen. Kein Wunder, wie die Wahl meines ersten Ehemannes ausfiel: Er war ein Kriegskind, das seine Wut über den missbräuchlichen Vater als Rebell lebte. Was lag für mich da näher, als die Wunden von Krieg und Machtmissbrauch professionell zu erforschen. Mental ließ sich dies nicht bewältigen. So sah ich mich irgendwann gezwungen, mich auch auf die Spuren der eigenen Verletzungen zu machen. Heute weiß ich: Seitdem gewann ich Boden unter meinen Füßen. Ich durfte mich an heilende Momente in meiner Kindheit erinnern. Im Pfarrhaus meines Großvaters hatte ich in den ersten Lebensjahren den Klang eines Lebens im Frieden erleben dürfen. Diesen unbewussten Schatz in mir wiederzufinden, wurde zu meiner Sehnsucht. Sie führte mich zu unzähligen Reisen in ein fernes Land, nach Indien. Es wurde für Jahrzehnte meine zweite Heimat. Dort durfte ich tief eintauchen in eine Spiritualität, die mir im eigenen Land als Tabu und im wissenschaftlichen Raum als absolutes »No-Go« begegnete. Spiritualität erlebe ich seitdem als ein inneres Wissen um Ganzheit, ein Wissen darum, dass wir – jenseits aller Verletzungen und Polaritäten – heil sind und heil bleiben und dass Einzigartigkeit und Verschiedenheit in einer existenziellen Einheit im wahrsten Sinne aufgehoben sind. Wir sind, wie die Veden lehren, DAS EINE OHNE EIN ZWEITES.

Rückblickend kann ich heute erkennen und erfühlen, dass ich lernte, zerbrochene Ganzheit wahrzunehmen, und alsbald versuchte, sie zu verstehen und Polaritäten wohlmöglich zu heilen. Es wurde ein Prozess der Bewusstwerdung, ein Dialog mit der Seele, der hinausging über den mentalen Weg, der in unserer verdinglichten Kultur zum neuen Glaubensbekenntnis geworden ist. Er ging auch hinaus über den psychologischen Weg, von dem ­Carolyn Myss sinngemäß sagte, wir hätten uns in der Sackgasse einer »Wundologie« verloren, einer permanenten Selbstdrehung, die letztlich einer Reifung der Persönlichkeit und des Bewusstseins entgegensteht. Meine Suche nach Ganzheit und der seelischen Dimension unserer Existenz konnte ich im Klima meines Landes und der Universität, an der ich lehrte, nicht finden. Ich suchte sie schließlich in anderen Ländern, in anderen Kulturen. Es waren Kulturen, in denen Menschen sich als »Bürger zweier Welten«, der diesseitigen und der jenseitigen, erleben und dies mit großer Selbstverständlichkeit in ihrem Alltag zum Ausdruck bringen. Während ich auf meinen Reisen immer wieder eintauchte in eine selbstverständlich gelebte Spiritualität, vermisste ich genau dies schmerzlich bei jeder Rückkehr.

Schließlich entdeckte ich, dass der Verlust des Seelischen etwas mit meinem Land, mit seiner Geschichte und den Erfahrungen zu tun hat, die sich über Generationen tief ins kollektive Unbewusste eingewurzelt haben. Sie reichen weit zurück und sie haben etwas zu tun damit, wie mit einer Grundkonstante menschlicher Existenz umgegangen wird – der Natur des Menschen als einem spirituellen Wesen, das im Leben Erfahrungen macht, die zu einem immer tieferen und umfassenderen Verstehen einladen. Menschliche Entwicklung geht von Wissen zu Weisheit, von der Sehnsucht nach Liebe und Verbundenheit zu Verstehen und einem gelebten Frieden innen wie außen. Eine solche Entwicklung kann nur geschehen, wenn die Manipulationen von Macht und Gewalt erkannt und ihnen ein gewaltfreier Widerstand entgegengesetzt wird. Wie schwierig dies ist, nicht nur in unserem Land, sondern überall, zeigt der Blick auch auf andere Länder und Kulturen. Sehen wir auf unser Land, so treten besondere Wegmarken hervor, an denen es zu einem traumatisierenden Umgang mit der spirituellen und religiösen Natur unserer Bewohner und Bewohnerinnen gekommen ist. So gibt es Stimmen, die davon ausgehen, dass der Dreißigjährige Krieg von 1618 –1648 seine Spuren bis heute im kollektiven Unbewussten hinterlassen hat – ein Krieg, in dem ein religiös ausgetragener Konflikt Millionen Menschen getötet oder in Not und Elend gestürzt hat.

»Verstehen kann nur geschehen mit Kopf und Herz.«

Derselbe Missbrauch des Religiösen geschah im Furor des Nationalsozialismus, in dem ein religiös inszeniertes Erlösungsversprechen mit »Sieg Heil« bestätigt und die Vernichtung von Juden als Verhinderung einer Apokalypse für die arische Rasse propagiert wurde. Die »politische Religion« des Nationalsozialismus führte zu einer tiefgreifenden Vergiftung des Verständnisses von Spiritualität in unserem Land.

Damit nicht genug: Zwischen 1945 und 1989 wurden die »Kinder des Kalten Krieges« gegeneinander sozialisiert: im Westen eher rational mentalisierend mit Betonung des Materiellen, im Osten eher idealisierend und die Realitäten leugnend mit Betonung des Solidarischen. So entwickelte sich der belastende Humus von Schmerz und Verdrängung in diesen Jahrzehnten sehr unterschiedlich. Ging er im Westen mit einer Tabuisierung des Spirituellen einher, so kam es im Osten zu einer religiösen Überhöhung der politischen Ideologie.

Was nach 1989 geschah, ist die Fortsetzung eines tiefen Bruchs im kollektiven Unbewussten. Statt dass hier »zusammenwächst, was zusammengehört«, kam es zu einem »Einigungsprozess«, bei dem die einen sich plötzlich als Fremde im eigenen Land und als Menschen zweiter Klasse erlebten, während die anderen für sich den Bonus der Stärkeren verbuchen konnten, mit dem vermeintlichen Recht, den anderen zu sagen, wo es »langzugehen« hat.

Bin ich heute, in unserem »Nie wieder-Land« an dem Punkt angelangt, mir einzugestehen, dass alle Versuche, die Risse im kollektiven Unbewussten zu heilen, vergeblich waren und sind? Müssen wir erneut in einem seelischen Sumpf des »Othering«, der Beschämung, der Exklusion, des Freund-Feind-Denkens landen? Oder gibt es im Raum des kollektiven Unbewussten wertvolle Kräfte und Potenziale, auf die wir uns rückbesinnen können? Sind es nicht zuletzt spirituelle Potenziale, die unsere Nachbarn – nur wir nicht – sehen und würdigen? Haben wir nicht die Chance zu einer aufgeklärten Spiritualität, die wir als machtvolle ­Mitte-­Macht im Herzen Europas leben können – in voller Verpflichtung für einen Frieden innen wie außen? Sind wir nicht das Land der Dichter und Denker, das Land des Idealismus, der eine Antwort suchte auf den blutigen Furor im Nachgang der Französischen Revolution von 1789? Ist es nicht an der Zeit, die besondere Qualität unseres kulturellen Erbes zu sehen und zu würdigen? Ist es nicht endlich Zeit, ein Denken und Handeln jenseits von Polaritäten im eigenen Alltag, im eigenen Land und im Dialog mit unseren Nachbarn zu leben? Angesichts der Kriegs-Rhetorik der Gegenwart scheinen solche Fragen vermessen. Doch Frieden im Innen wie im Außen geschieht im »Dazwischen«, in der Qualität der Beziehung und des Austausches. Kommunikation ist der Kunst des Verstehens verpflichtet. Verstehen kann nur geschehen mit Kopf und Herz. Verstehen bringt das Wissen mit sich, wa­rum das Gegenüber so und nicht anders handelt und wie er oder sie genau handelt. Und aus solchem Verstehen heraus können wir lernen, Wege zu finden und zu beschreiten, die dem Frieden dienen. Dass wir dorthin individuell und kollektiv kommen, ist mein tiefer Wunsch – aus Liebe zu meinem Land.

Author:
Prof. Dr. Barbara von Meibom
Teile diesen Artikel: