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Über das Buch »Zukunft denken« von David Christian
Die globalen, ökologischen, politischen, sozialen und technologischen Entwicklungen führen uns gerade in diesen Jahren zu einer essenziellen Erkenntnis: Wir als Menschheit dieses Jahrhunderts leben in einer ganz besonderen Zeit der Erdgeschichte. Einer Zeit, in der die so machtvolle Gestaltungskraft unserer technisch-industrialisierten Kultur unseren Planeten auf neuartige Weise irreversibel umzugestalten vermag und dabei so viel unkontrollierbare Instabilität schafft, dass es höchst fragwürdig ist, ob bei fortwährendem Wohlstand das Überleben der über Jahrmillionen entstandenen Menschheit und Natur in naher Zukunft möglich sein wird.
Gleichzeitig sind wir wie nie zuvor in der Lage, diese Situation mit unserem Bewusstsein in vielschichtiger Weise zu erfassen und zu verstehen. So ist die Frage nach der Zukunft aus der Perspektive der großen Geschichte dieser Erde vor allem in dieser Zeit so richtig spannend geworden, weshalb derzeit immer mehr Bücher auftauchen, die sich dieser Herausforderung annehmen. Beispiele hierfür sind »Hybris – Die Reise der Menschheit« von J. Krause und T. Trappe oder »Planetar denken« von F. Hanusch, C. Leggewie und E. Meyer. Oder eben das hier vorgestellte Buch »Zukunft denken« von David Christian, dem Autor des Bestsellers »Big History«, in dem er ebenfalls die große Geschichte der Menschheit mit viel Detailsinn ausbreitet. In seinem Buch »Zukunft denken« geht es nunmehr noch um die Frage, wie diese große Geschichte weitergehen könnte. Damit führen uns diese Bücher an die Essenz der Menschheitsgeschichte und ein Stück weit an das Wesentliche des Menschseins an sich. Das Buch »Zukunft denken« ist also beides: einerseits eine tiefgreifende Reflexion über die Art und Weise, wie Menschen jeweils imstande sind oder waren, ihr Leben zeitlich einzuordnen, und andererseits wagt der Autor selbst den Blick in die nahe und ferne Zukunft der Menschheit.
Dieser Blick in die Zukunft unterscheidet sich jedoch deutlich von dem, wie sich Menschen früher das Kommende erdachten. In vergangenen Generationen konnten sie noch glauben, dass ihre Nachkommen in einer ähnlichen Welt leben werden wie sie selbst. Das Unbekannte der Zukunftsaussichten bezog sich auf Umstände wie Krieg oder Frieden, Wohlstand oder Armut, Gesundheit oder Krankheit, und all das war vorstellbar. Heute ist das anders. Wir haben zwar einen gigantischen Wissensschatz für Prognosen zukünftiger Ereignisse, aber dennoch bleibt unsere Zukunft so ungewiss, fraglich und sogar unvorstellbar, dass wir mit unserem Wissen und unserer Intelligenz scheitern.
¬ IN WELCHER ZUKUNFT WOLLEN MENSCHEN GERNE LEBEN? ¬
Vor weniger als hundert Jahren begannen die Zukunftsvisionen, um die Industrialisierung und Technologisierung weiterzudenken, und es entstanden zahlreiche Science-Fiction-Romane und -Filme. Heute sind wir teilweise bereits in deren erdachter Zukunft angekommen und müssen feststellen, dass einiges eingetroffen ist und manches sogar übertroffen wurde. Ein schönes Beispiel ist die Serie »Flash Gordon: Trip to Mars« der 1930er-Jahre, deren Raumschiffe weitgehend den damaligen technischen Vorstellungen entsprachen. Und vor rund 100 Jahren konnten sich die Menschen noch nicht ansatzweise unsere computerisierte Hochtechnologie vorstellen. Aus dieser Rückschau wissen wir heute: Zukunft kann unvorstellbar sein. Anders gesagt: Wir sind plötzlich (aus Sicht der Menschheitsentwicklung) in hohem Maße zu Emergenz-bildenden Wesen geworden – wir bringen das Neue, auch das unvorstellbar Neue in die Welt. Vielleicht ist diese Dynamik das Besondere an unserer Zeit, wodurch der über lange Zeit gültige Satz, dass es nichts Neues unter der Sonne gäbe, abgelöst wird.
Aber gerade das macht Zukunftsdenken für die nächsten 100 oder 1.000 Jahre zum Problem, und das merkt man beim Lesen: Auch die von David Christian beschriebenen Vorstellungen sind Zukunftsvisionen aus den Augen eines heutigen technologisch zivilisierten Menschen. Vor allem gegen Ende skizziert er mannigfache Ideen einer technisch weit entwickelten Zukunft der Menschheit, wie es die derzeitigen Fortschritte und Trends in der Biotechnologie, Computerisierung, Energienutzung, Nanotechnologie und schließlich die in kaum einem Science-Fiction-Film ausbleibende Weltraumtechnologie erahnen lassen. Ja, in der Fortführung der Science-Fiction-Fantasien erdenkt der Autor für die nächsten 100 und 1.000 Jahre entsprechend eine vor allem technische Zukunft.
Damit soll vielleicht auch deutlich werden, dass die menschlichen Fähigkeiten zu kollektivem Lernen, welches er als Schlüsselkompetenz zum wissenschaftlich-technischen Erfolg identifiziert, noch lange nicht ausgeschöpft sind. Gleichzeitig geht er aber auch davon aus, dass die Menschheit weiterhin wesentliche Gestalterin des Planeten sein wird und dies nur dadurch nachhaltig sichern können wird, indem sie zum erfolgreichen Planetenmanager wird. Und doch zeigt Christian auch die vielfachen Möglichkeiten des Scheiterns auf, wodurch es durchaus fraglich erscheint, ob wir diesem nach heutigen Entwicklungstrends extrapolierten Verlauf tatsächlich folgen werden.
Interessant scheinen hierbei auch die sozialen und politischen Betrachtungen, beispielsweise, dass ein erfolgreiches Planetenmanagement Einschränkungen in einer freiheitlich selbstbestimmten Lebensgestaltung erfordern könnte. Und hier kommen wir ganz nahe an die Gegenwart heran: Wir wissen, dass wir diese unbekannte Zukunft heute bereits in grandiosem Maße gestalten. Dadurch wird ein Verantwortungsappell laut, dem man nur schwer gerecht werden kann. Hier braucht es ein globales Bewusstsein, global nicht nur im Sinne eines planetaren, sozio-ökologischen Bewusstseins, sondern auch eines, welches die Zeiten integrieren kann. Hierdurch erhalten Begriffe wie Nachhaltigkeit oder Planetenmanagement ihre Wichtigkeit. Das könnte bereits die Welle der 2020er-Jahre werden – die Zukunft beginnt jetzt.
Bei all dem drängte sich mir beim Lesen nicht nur die Frage auf, wie ich selbst mir die Zukunft denke, sondern vor allem: In welcher Zukunft wollen Menschen gerne leben? Auch fragte ich mich: Wird die Zukunft der Menschheit tatsächlich eine technologische sein? Muss Zukunft derart steril sein? Was, wenn möglicherweise nach einer zerstörenden Katastrophe die Menschheit zur Einsicht kommt, dass auf die Frage nach dem, was ein menschliches Leben lebenswert macht, ganz andere Antworten gefunden werden können, die vielleicht in einer Art Verbundenheit mit der übriggebliebenen Natur jegliche technologische Überhöhung des Lebensstils ablehnen würde? Ist auch eine minimaltechnische Zukunft möglich? Eine Zukunft, in der Menschen wieder zu einer vielleicht neuen Art von Wildheit zurückfinden? Wissen wir nicht heute schon, wie wichtig Artenreichtum für ein funktionierendes Ökosystem ist? Und dass funktionierende Ökosysteme nicht durch Menschenhand kontrolliert werden müssen, sondern sich natürlich von selbst entwickeln können?
Vielleicht wird es für uns Menschen tatsächlich nur eine Zukunft geben, wenn wir uns zukünftig etwas zurücknehmen mit unseren Eingriffen und uns neu einfinden in eine mehr partizipative Rolle innerhalb eines autopoietischen, sich selbst regulierenden Ökosystems. Wird die Menschheit diese Veränderung verstehen? Hier bleibt noch viel Raum für eigene Zukunftsfantasien. Ja, es ist nicht leicht, sich die Zukunft der Menschheit angesichts der heutigen Trends lebendiger und wieder natürlicher vorzustellen. Hatten wir noch vor hundert Jahren an eine mechanische Zukunft geglaubt, in der das Produzieren von nützlichen Gegenständen, die den Menschen die schwere Handarbeit abnehmen, entwicklungsweisend war, so hat sich heute ein Trend entwickelt, in dem die Möglichkeiten zur Kommunikation die Richtung vorgeben. Vielleicht werden wir schon in naher Zukunft wieder eine andere Ausrichtung finden, die vielleicht andere Formen der Lebensgestaltung so zentral werden lassen, dass unsere kommunikativen Möglichkeiten nur noch peripheren Charakter haben.
Jedenfalls lädt dieses Buch hervorragend dazu ein, sich selbst Gedanken über unsere mögliche Zukunft zu machen und bringt seine Leser:innen damit an die derzeit so wesentliche Frage: Für welche Zukunft stellen wir gerade die Weichen, mit der unsere nachfolgenden Generationen ihr Menschsein erleben werden? Hier braucht es Visionen, starke Visionen, Realutopien und möglichst viele Menschen, deren Bewusstsein nicht nur räumlich global, sondern auch zeitlich global ist. Und das bietet dieses Buch in hervorragender Weise. Vielleicht ist gerade jetzt die Zeit, um möglichst viele Menschen zum Zukunft-Denken anzuregen.
Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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