Über Elementarwesen und Flüsse, die zu Personen werden
Der Glaube an Naturgeister und die Erkenntnisse der neuen Biologie scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. Dabei deuten beide – in ganz verschiedener Weise – auf das Innere der lebendigen Welt.
Vor einiger Zeit war ich das zweite Mal in meinem Leben in Irland. Die grüne Insel fasziniert mich schon lange wegen der kraftvollen Natur, der schroffen Küsten und grünen Weiten, aber auch wegen der mythischen Aura, die die Landschaft erfüllt. Zu diesem mythischen Erfahrungsraum gehört auch, dass Irland als ein Land gilt, in dem die Anwesenheit der Naturgeister wie Elfen und Feen und Elementargeister wie Salamander (Feuer), Sylphen (Luft), Undinen (Wasser) und Gnome (Erde) besonders spürbar sei. In Irland hat der Umgang mit diesen Naturgeistern eine lange Tradition, die in die keltische Zeit zurückreicht. Von Irland aus gelangten diese mythischen Bilder auch nach Island, wo es bei neuen Bauprojekten die Auflage gibt, kulturelle Güter zu schützen, wozu auch »Places of Natural Spirits« zählen, meist Steine oder Felsformationen, an denen der Überlieferung nach Elfen anwesend sind.
Als ich in Irland unterwegs war, schien es mir gar nicht so abwegig, Landschaften, Steine, Pflanzen oder Berge als Wesen wahrzunehmen. In der irischen Landschaft spürte ich oft eine Atmosphäre von Anwesenheit der Kräfte und Dynamiken des Lebendigen, die imaginative Bilder von Naturgeistern nahelegt. Tatsächlich werden in indigenen Traditionen überall auf der Welt Pflanzen, Tiere, Flüsse, Seen und Berge, Landschaften oder die Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft als geistige Wesenheiten imaginiert. Und es gab und gibt eine verfeinerte Praxis, wie man mit diesen Wesen kommunizieren kann, sei es durch Rituale, durch Gebet, durch Imagination oder psychoaktive Substanzen.
»Die Vorstellung von Naturgeistern hat eine wechselvolle Geschichte durchlebt.«
Die Naturwissenschaft hat solche wesenhaften Bezüge zur Natur natürlich als Aberglaube verworfen. Aber Naturwesen regen bis heute die Vorstellungskraft von Dichtern, Malerinnen und Komponisten an – denken wir nur an »Herr der Ringe« oder »Harry Potter«. Goethe und die Dichter der Romantik nahmen diese Wesenheiten als poetische Bilder für die beseelte Natur. Sie ermöglichten ihnen die Wahrnehmung der lebendigen Welt und ihrer Wesen aus der Verbundenheit des Gesprächs und Gesangs und nicht aus der getrennten Analyse der damals aufsteigenden Naturwissenschaft.
Spirituelle Denker haben diese Impulse aufgenommen und ihrer Aussage nach auch Wege gefunden, unmittelbar durch geistige Anschauung mit Naturgeistern in Kontakt zu treten. Vor allem Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, dessen 100. Todestag in diesem Jahr begangen wird, hat ausführlich über Naturwesen als geistig-seelische Dimension der Lebewesen und Elemente geschrieben und auch Hinweise gegeben, wie man mit ihnen in Kontakt kommt. In den vielen Büchern und Seminarangeboten zu Naturspiritualität gibt es heute zahlreiche Empfehlungen, wie wir wieder mit den Geistern der Natur in Kommunikation treten können.
Die Zähmung der Feen
Dabei hat die Vorstellung von Naturgeistern eine wechselvolle Geschichte durchlebt, wie der Skandinavist und Religionswissenschaftler Matthias Egeler in seinem Buch »Elfen und Feen« darlegt. In der ländlichen Vorstellung Irlands oder Islands waren Naturgeister mit bestimmten Orten verbunden. Wenn der Mensch diese Orte verändern wollte, musste er die Elfen um Erlaubnis bitten. Wenn dies nicht geschah, würden sie zornig und könnten zum Beispiel ein gebautes Haus zerstören. Im 19. Jahrhundert, im Zuge und in der Nachfolge der Romantik, kamen Elfen in die Städte. Es entstand eine Vorstellung, die von Orten losgelöst ist, und die Elfen wurden immer niedlicher, bis hin zu den kleinen hübschen, weiblichen Wesen mit Flügeln. Im 20. und 21. Jahrhundert wurden Naturgeister angesichts der ökologischen Katastrophe als »Öko-Feen« umgedeutet. Bei Protesten gegen Straßenbaumaßnahmen im England der 1990er-Jahre spielten die Naturgeister als Verbündete eine große Rolle, und einige der Protestierenden berichteten über eigene Begegnungen mit Elfen.
Für Egeler sind die Vorstellungen von Naturgeistern eine Reflexion der Sehnsüchte einer Gesellschaft: »Jede Zeit (und jede Gesellschaftsschicht) hat ihre Anderwelt, die auf ihre Ängste, Sehnsüchte und Bedürfnisse antwortet. Die traditionellen Elfen der isländischen Volkssage antworteten auf die erdrückende Leere des Landes, und die Naturgeister der städtischen Moderne antworten auf die Sehnsucht des vom Land entfremdeten Menschen nach ›Natur‹. Auf einer Ebene sind Elfen und Feen ein Mittel, Sehnsüchte zu artikulieren, die ansonsten vielleicht halb unbewusst bleiben. Damit sind sie Indikatoren dafür, was eine Gesellschaft bewegt.«
Dass die Vorstellung von Naturgeistern etwas in uns anrührt, zeigte der Trubel um Erla Stefánsdóttir in der deutschsprachigen Presse. Als Medium wurde sie bei Bauvorhaben in Island als »Dolmetscherin« für das Huldufólk (»Verborgenes Volk«) zu Rate gezogen. »Elfen-Lobby stoppt Bauprojekt« oder »Ein Land nimmt Rücksicht auf Elfen« waren Schlagzeilen im Jahre 2013, als der Journalist Wolfgang Müller ein Interview mit Erla Stefánsdóttir führte. Er dachte sich den Begriff »Elfenbeauftragte« aus, um das Phänomen den Lesern verständlich zu machen. Obwohl es diese Position in Island gar nicht gab, wurde Erla Stefánsdóttir in der Folge damit identifiziert. Sie selbst sah die Existenz von Naturwesen als Aufruf für einen anderen Umgang mit der Natur, wenn sie schreibt: »Wir Menschen glauben, dass uns die Erde gehört, aber das ist nicht so. Den Wesen der Natur gehören die Länder und Meere, wir sind hier nur Gäste, denn die Elfen und diese unsichtbaren, verborgenen Naturwesen waren schon lange vor den Menschen hier. Wir sollen diese Welt erhalten, wir sollen die Erdenmutter und die Natur achten, nicht zerstören, vergiften und andere Arten ausrotten.«
Wirklichkeit der Imagination
Existieren Naturwesen wirklich, so dass wir mit ihnen kommunizieren können? Sind es Projektionen unserer Sehnsüchte nach einer Verzauberung der Natur? Ein Bild für geistig-seelische Präsenz im Lebendigen? Wie immer wir zur Existenz solcher Naturwesen stehen, man kann sie als imaginative Bilder für eine Erfahrung verstehen, die wir als Menschen in allen Kulturen gemacht haben: Die lebendige Welt ist belebt und beseelt. Für Rudolf Steiner sind Elementargeister die »Veranschaulichungen einer geistigen Wirklichkeit, die sich eben nur auf diese Art, durch Gleichnisse, darstellen lässt.« Da wir selbst lebendige Wesen sind, ist es ganz verständlich, dass wir ein anderes Leben, dessen Anwesenheit und Wirkung wir spüren aber nicht sinnlich erfassen können, im Bild eines Wesens wahrnehmen. So wird die Pflanze, der Berg, die Quelle zu einem lebendigen
Wesen, mit dem ich in einen Dialog treten kann. In der Kunst ermöglicht diese wesenhafte Vorstellung einen poetischen Bezug, ein Gespräch mit dem lebendigen Wesen.
»Wir empfangen nicht nur passiv die Wirklichkeit, sondern gestalten sie mit.«
Die Naturwissenschaft sieht solche imaginativen Wirklichkeiten als nicht real. Dabei arbeitet die Wissenschaft selbst ständig mit imaginativen Bildern und Beschreibungen, denn viele der Erkenntnisse können ansonsten gar nicht in Sprache gebracht werden. Darauf weist der Philosoph Richard Rorty hin, wenn er schreibt: »Es ist nicht so, dass wir zuerst eine Sprache sprachen, die einfach berichtete, was um uns herum geschah, und wir diese Sprache später durch imaginative Beschreibung erweitert haben. Vielmehr reicht die Imagination bis ganz nach unten. Die Begriffe ›rot‹ und ›rund‹ sind ebenso Schöpfungen der Imagination wie die Begriffe ›Gott‹, ›Positron‹ und ›rechtsstaatliche Demokratie‹.« Wir empfangen eben nicht nur passiv die Wirklichkeit, sondern gestalten sie durch unser bewusstes Erkennen, unser Denken und unseren sprachlichen Ausdruck immer auch mit. Und je nach der Art dieser Mitschöpfung der Wirklichkeit erscheint uns eine Pflanze als biologischer Automatismus ohne eigene Sensibilität oder aber als eine wesenhafte Gestalt, die ihre eigene Ausstrahlung, ihre eigenen Vorlieben, eine Intelligenz und vielleicht sogar geistige Qualitäten hat. Beide Perspektiven schaffen eine eigene Wirklichkeit.
Der Philosoph Markus Gabriel spricht von Sinnfeldern, die je einen eigenen Sinnhorizont eröffnen. In solch einem größeren Möglichkeitsraum verschiedener Perspektiven auf die Wirklichkeit gibt es nicht die allein richtige Sicht auf die Dinge. Man kann vielmehr eher fragen, welche Perspektive dem Leben angemessener ist. Denn ethisch betrachtet ist die Sicht auf die lebendige Welt und ihre Wesen als seelenlose Bio-Automaten mehr als bedenklich. Das merken wir heute inmitten der ökologischen Katastrophe. Lebewesen und Ökosysteme als Wesen oder gar als eine Art Person zu verstehen, die eigene Bedürfnisse, Ansprüche und vielleicht sogar Rechte haben, führt zu einem fürsorglicheren Umgang mit der Natur.
Lebewesen als Personen
Deshalb gibt es weltweit zahlreiche Initiativen, um Flüsse oder Biotope in den Stand einer juristischen Person zu versetzen. Beispiele dafür sind der Whanganui in Neuseeland, der Klamath in Kalifornien oder der Amazonas in Kolumbien. In Polen gibt es eine Initiative, der Oder dieses Recht zuzugestehen, und in Deutschland verfolgt der Verein »Rechte für die Natur« verschiedene solcher Projekte.
Auch das ist ein imaginativer Akt, denn indem wir einen Fluss als ein lebendiges Wesen wahrnehmen und verstehen, verändern wir unsere Wirklichkeit und unseren Bezug zu ihr. Genauso wäre es ein Akt der Imagination, wenn wir im Grundgesetz nicht nur sagen würden: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, sondern »Die Würde des Lebendigen ist unantastbar«, wie es der ökologische Denker Claus Eurich vorschlägt. In der Schweizer Verfassung gibt es sogar einen Passus der »die Würde der Kreatur« als Faktor bei politischen Entscheidungen berücksichtigen soll. Das würde in der Konsequenz auch bedeuten, dass Lebewesen oder die lebendige Welt eine repräsentative Stimme in Parlamenten und politischen Verhandlungen erhalten müssten. In diese Richtungen gehen auch Überlegungen von Denkern wie dem Soziologen Bruno Latour, der Lebewesen nicht als passive Dinge, sondern als Akteure versteht.
Das Innere der Lebewesen
Interessant an den neuen Erkenntnissen der Biologie ist, dass auf allen Ebenen des Lebendigen von Tieren über Pflanzen bis zu Zellen verschiedene Formen von subjektiver Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit, Autonomie, Eigenaktivität, intelligentem, kommunikativem und mitgestaltendem Verhalten entdeckt werden. Hier scheinen zwei Strömungen des Weltbezugs in eine Resonanz zu kommen: die biologischen Erkenntnisse von scheinbar intelligentem Verhalten bei Tieren, Pflanzen und Zellen und die imaginative Vorstellung von Naturwesen.
Was die Wissenschaft als Subjektivität und Intelligenz in den Lebewesen anerkennt, könnte bildhaft oder im Gleichnis als der Geist oder das seelische Innere dieses Lebewesens erfasst werden. Viele der Wissenschaftlerinnen und Autoren, die über die Intelligenz des Lebens berichten, scheinen dieser Resonanz zu folgen und betreiben eine Art poetischer Forschung. Goethe nannte es »zarte Empirie«, eine Form der Naturbetrachtung, die nicht nur von außen analysieren, sondern auch von innen wesenhaft mitempfinden will. Als Naturforscher suchte Goethe nach der Urpflanze, und als Dichter fasste er die Kräfte der Natur häufig in das Bild von Naturgeistern. Geistesverwandt schreibt der Biologe Merlin Sheldrake: »Wissenschaft ist keine Übung in leidenschaftsloser Rationalität. Wissenschaftler sind – und waren immer – emotionale, kreative, intuitive Menschen, und sie stellen Fragen nach einer Welt, die nie nur dazu da war, katalogisiert und systematisiert zu werden.« Sheldrake unternimmt bahnbrechende Forschungen über das Verhalten von Pilzen und bezieht gleichzeitig die innere Wirkung von Pilzen mit ein, indem er an Experimenten mit Psilocybin teilnimmt. Diese einfühlende Forschung findet man auch bei der Biologin Robin Wall Kimmerer, die in ihrer Forschung über Pflanzen das indigene Wissen ihrer Tradition einbringt, oder der Ökologin Monica Gaglinao, die viele überraschende Experimente zur Intelligenz der Pflanzen veröffentlicht hat und sich gleichzeitig in indigenes Wissen und Rituale vertieft. Weitere Beispiele eines solchen poetischen Forschertyps sind der Biologe Andreas Weber, der Anthropologe David Abram, die Dichterin und Autorin von »Wir Tiere« Melanie Challenger, die Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard, die Chemikerin und Künstlerin Florianne
Koechlin, der Biologe Stefano Mancuso oder Zoë Schlanger, die Autorin von »Die Lichtwandler«.
Machtvolle Wesen
In den Erkenntnissen der neuen Biologie zeigt sich die Natur als durchdrungen von Fähigkeiten, die auf ein absichtsvolles intelligentes Verhalten hindeuten. Deshalb ist es ein natürlicher Schritt, ihnen eine gewisse Autonomie, ein Selbstsein, eine eigene Würde, eine »Persönlichkeit« zuzugestehen. Robin Wall-Kimmerer vertieft sich in ihren Büchern in das Wesen bestimmter Pflanzen wie Süßgras, Moos oder die Felsenbirne und befragt sie nach ihren Qualitäten, die auch für uns Menschen wichtig sein können. Ihre »Vision ist eine verwandtschaftsorientierte Gleichberechtigung, die das Personsein aller Wesen anerkennt.« Das wäre eine radikale Neuordnung unserer gesellschaftlichen aber auch unserer geistig-seelischen Welt. Die Natur und ihre Partner sind dann nicht mehr nur Objekte oder Lebewesen, die zu unserer Ausbeutung zur Verfügung stehen, sondern dialogische Wesen, eigenständige Akteure und Mitgestaltende der Welt.
»Die Natur und ihre Wesen sind dann dialogische Partner und Mitgestaltende der Welt.«
In seiner historischen Betrachtung der Naturwesen ist Martin Egeler »in einer Zeit wachsender Umweltsorgen« über die »nach wie vor zu beobachtende Zähmung und Verniedlichung von Elfen und Feen« erstaunt, »die auch als moderne ›Öko-Feen‹ erstaunlich ungefährlich bleiben.« Diese machtlose verniedlichte Vorstellung von Naturwesen spiegelt wohl auch die Domestizierung und Kontrolle der Natur und eine Verdrängung der ökologischen Katastrophe wider. Aber gerade im Zuge der Klimaerwärmung werden wir in Wirbelstürmen, Überflutungen, Erdrutschen, Feuern oder Dürren mit der Macht der Elemente und Naturphänomene konfrontiert. Wie der ökologische Autor und Filmemacher Rüdiger Sünner bemerkt, ist es hierbei interessant, dass Wirbelstürmen Namen wie »Katrina« gegeben und sie damit quasi personifiziert werden.
Vielleicht zeigt sich angesichts der ökologischen Zerstörung, der Grenzen eines rein mechanistischen Verständnisses der Natur ohne geistig-seelische Präsenz und der Erkenntnisse der aktuellen Biologie eine neue Vorstellung der Naturwesen – eine Sichtweise, in der sie wieder Macht erhalten als das Bild einer geistig-seelischen Anwesenheit unserer Mitwesen, mit denen wir in einen Dialog treten, vor denen wir Respekt und Ehrfurcht empfinden, die wir um Unterstützung bitten, für deren Geschenke wir dankbar sind, die wir behüten und mit denen zusammen wir die Erde gestalten.