Eine integrale Bewusstseinskultur

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 7, 2025

Featuring:
Ken Wilber
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Issue:
47
|
July 2025
Interbeing
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Transindividuation als Integration von Ich-Kraft und Ganzheit

Die Ausprägung unserer Individualität ist eine wichtige Errungenschaft unserer modernen Kultur – die aber heute an ihre Grenzen kommt. Wie ist es möglich, die in uns gewachsene Ich-Kraft mit dem Ganzen des Lebensprozesses zu verbinden?

Der integrale Philosoph Ken ­Wilber spricht von einer Entwicklung von prärationalen über rationale zu transrationalen Bewusstseinsformen. Es gibt also eine ursprüngliche Weltwahrnehmung der Einheit, bevor wir unsere rationale Verstandesfähigkeit in der Weise ausgeprägt haben, wie es für unsere moderne rationale Kultur prägend geworden ist. Es gibt aber auch den Schritt über die Ratio hinaus, der kein Rückschritt ist, sondern das Eröffnen eines transrationalen Bewusstseinsraumes. Angelehnt an diese Unterscheidung kann man auch von einer Entfaltung von präindividuellem über individuelles zu transindividuellem Bewusstsein sprechen. Dieser evolutionäre Kontext erhellt auch das Anliegen der dialogischen Praxis von Emergent Dialogue, in der wir uns in einer gemeinsamen kollektiven Gegenwärtigkeit für das Heilige öffnen. Ein Aspekt dieser Praxis als spirituelle Entfaltung ist eine Transformation der Identität, also des Ich, die ich gern als Transindividuation anspreche.

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Transindividuation als Integration von Ich-Kraft und Ganzheit

Die Ausprägung unserer Individualität ist eine wichtige Errungenschaft unserer modernen Kultur – die aber heute an ihre Grenzen kommt. Wie ist es möglich, die in uns gewachsene Ich-Kraft mit dem Ganzen des Lebensprozesses zu verbinden?

Der integrale Philosoph Ken ­Wilber spricht von einer Entwicklung von prärationalen über rationale zu transrationalen Bewusstseinsformen. Es gibt also eine ursprüngliche Weltwahrnehmung der Einheit, bevor wir unsere rationale Verstandesfähigkeit in der Weise ausgeprägt haben, wie es für unsere moderne rationale Kultur prägend geworden ist. Es gibt aber auch den Schritt über die Ratio hinaus, der kein Rückschritt ist, sondern das Eröffnen eines transrationalen Bewusstseinsraumes. Angelehnt an diese Unterscheidung kann man auch von einer Entfaltung von präindividuellem über individuelles zu transindividuellem Bewusstsein sprechen. Dieser evolutionäre Kontext erhellt auch das Anliegen der dialogischen Praxis von Emergent Dialogue, in der wir uns in einer gemeinsamen kollektiven Gegenwärtigkeit für das Heilige öffnen. Ein Aspekt dieser Praxis als spirituelle Entfaltung ist eine Transformation der Identität, also des Ich, die ich gern als Transindividuation anspreche.

Transindividuation hat mit dem Gegenpol der Wir-Räume zu tun, nämlich mit dem Ich-Raum, der Fähigkeit unserer Ich-Wahrnehmung. Das ist insofern wichtig, weil es bei den Wir-Räumen, die wir experimentell erfahren und erarbeiten, einen grundlegenden Unterschied gibt, den ich hier gern herausarbeiten möchte: Es gibt einen präindividuellen Wir-Raum, einen individuellen Wir-Raum und einen transindividuellen Wir-Raum. Es ist wichtig, diese Unterschiede zu erkennen.

Eins mit dem Stamm

Als Menschheit kommen wir aus präindividuellen Wir-Räumen. Wir haben bewusstseinsgeschichtlich nicht als Individuen angefangen, sondern lebten primär in unseren tribalen Natur-Zusammenhängen. Wir waren ein gemeinsamer Stamm, bevor wir ein getrenntes Individuum wurden. Unsere Identität war also zuerst kollektiv geprägt, bevor wir eine individuelle Identität ausbildeten. Viele unserer romantischen Sehnsüchte nach Nicht-Getrenntheit beziehen sich auf diese tribale Einheit.

Wir können viel von indigenen Völkern lernen, die noch nicht in der gleichen Art und Weise durch diesen Prozess gegangen sind. Indigene Völker leben in einer primären Nicht-Getrenntheit miteinander und mit der Natur und erfahren Bewusstseinsräume, die uns nicht mehr zugänglich sind. Von dieser Weltwahrnehmung können wir viel lernen, aber gleichzeitig auch sehen, dass in diesen primären Bewusstseinsräumen der Einheit etwas nicht so stark ausgeprägt ist, das ich Freiheit nennen möchte.

Freiheit und Verantwortlichkeit

In einer indigenen Kultur ist es mir nicht möglich, aus meinem Clan herauszutreten. Ich kann nicht sagen: Heute bin ich nicht mehr dabei, denn mein Clan und ich sind nahezu identisch. Das geht so weit, dass Clan-Mitglieder, die man aus dem Clan herausnimmt, nicht überleben können, weil sie in ihrer Identität nicht außerhalb ihrer Clan-Identität leben können. Die Individuation, die wir uns über die Jahrtausende und Jahrhunderte erschlossen haben, ist also etwas sehr Wertvolles. Unsere westliche abendländische Kultur ist in ihrer Individuationsgeschichte einen besonderen Weg gegangen, wo diese Ich-Kraft in besonderer Weise entwickelt wurde. Vieles in unserer kulturellen und auch spirituellen Geschichte hat mit dieser Ich-Kraft zu tun.

»Wir waren ein gemeinsamer Stamm, bevor wir ein getrenntes Individuum wurden.«

Die christliche Spiritualität beruht auf der Beziehung des Einzelnen zum Absoluten. Die Ich-Du-Beziehung zum Absoluten setzt ein Individuum voraus, das diese Beziehung eingeht. Das ist im Christentum immer schon angelegt, wurde durch ­Martin Luther radikalisiert und verlor dann in der Aufklärung die spirituelle Dimension, aber die Ich-Kraft, die sich im Laufe der Zeit ausbildete, hatte weiterhin Bestand. Das heißt, ich bin nicht einfach nur Teil von Gemeinschaft, von Tradition, sondern kann aus mir heraus eine freie Verantwortlichkeit übernehmen. Das ist eine wichtige kulturelle Leistung. Es gibt auch spirituelle Traditionen wie die Anthroposophie, die diese Ich-Kraft in den Mittelpunkt stellen, die als Christus-Kraft verstanden zum Zentrum der Spiritualität wird. Diese Sichtweise ist kraftvoll, denn die Fähigkeit, aus meiner Ich-Haftigkeit heraus verantwortlich da zu sein, verändert die Wirklichkeit radikal. Natürlich hat diese Individualisierung auch ihre Schattenseiten wie Vereinzelung und Getrenntheit. Aber es ist auch wichtig zu sehen, dass Individuation eine kraftvolle Errungenschaft unserer Kulturgeschichte ist.

Achsenzeit

Dabei wird meines Erachtens oftmals übersehen, dass die Entwicklung der Individuation nicht nur eine westliche Geschichte ist, sondern auch im Osten erkennbar ist. Interessanterweise kann man das gerade im Buddhismus sehen als einer paradigmatischen östlichen Spiritualität. Im Buddhismus geht es eigentlich um das Loslassen der Illusion des Ichs. Interessant ist aber, dass die Zeit, in der Buddha Gautama die Kultivierung von Ich-Losigkeit entwickelt hat, auch der Moment war, als in unserer europäisch griechischen Geschichte die Fokussierung auf die Ich-Haftigkeit begründet wurde. Es ist die Achsenzeit, die der Philosoph Karl Jaspers ungefähr von 800 bis 200 vor Christus angesiedelt hat, in der die großen Traditionen entstanden: die antike griechische Philosophie, das talmudische Judentum, der Taoismus, der Konfuzianismus, der Zoroastrismus, der Hinduismus, der Buddhismus.

All diese großen religiösen Traditionen sind in dieser Zeit entstanden, das ist an sich ein spannendes Phänomen. Ich möchte aber ansprechen, dass hier etwas in die Erfahrung gekommen ist, auf das unterschiedliche Kulturen verschieden geantwortet haben. Die Entdeckung von Ich-Haftigkeit ist im europäischen Kontext in der griechischen Antike vor allem mit der Entwicklung des Helden-Mythos verbunden. Im Mittelpunkt der griechischen Mythologie steht die heldenhafte Kraft des Ichs. Ungefähr zur gleichen Zeit haben sich Buddha Gautama oder Shankara darauf fokussiert, dass man das Ich loslassen muss, wenn man Erlösung finden möchte. Aber wenn man genauer hinschaut, muss sich das Ich erst gefunden haben, um überhaupt auf die Idee kommen zu können, dass es losgelassen werden muss.

Die alten vedantischen Religionen wie auch die archaischen Religionen im Westen waren Opfer-Religionen, in denen die Frage von Individualität und Nicht-Individualität noch gar keine Rolle gespielt hat. Der Osten hat das Ich entdeckt und gleichzeitig auch die Notwendigkeit, dass Freiheit erst aus der Kultivierung von Ich-Losigkeit entsteht, wie es im Buddhismus oder Taoismus entwickelt wurde. Der Westen ist geprägt vom Heldenmythos der Griechen. Das Christentum führt in gewissem Sinne diese Heldenhaftigkeit weiter, weil damit auch die Wahrnehmung von Verantwortlichkeit entsteht und damit auch die Wahrnehmung von Schuld. Insofern kann man die christliche Kultur als eine Antwort auf die schuldhafte Verstrickung der heldischen Kultur im klassischen Griechentum verstehen. Wir sehen also, dass wir in allen Kulturen die Ich-Haftigkeit entwickelt haben, aber verschieden darauf reagierten. Dominant geworden ist unsere westlich-abendländische Kultur mit der Moderne, mit der Subjekt-Objekt-Trennung und mit der instrumentellen Wahrnehmung der Welt.

Mehr Individuation

Transindividuation ist also kein Regress in vorindividuelle Welten, sondern der Versuch der Integration der Ich-Kraft und der Wahrnehmung von Ganzheitlichkeit in der Erfahrung von Gegenwärtigkeit, die im Sich-Ereignen-Lassen von Gegenwart möglich wird. Emergent Dialogueund andere Wir-Raum-Experimente sind Versuche, Individualität und Ganzheitlichkeit in der Form einer neuen transindividuellen Wir-Kultur experimentell auszuloten: Wie können wir ganz Individuum sein und gleichzeitig unsere Getrenntheit loslassen, um aus unserer Verantwortlichkeit heraus die Gegenwart zwischen uns ganz da sein zu lassen?

»Die Ich-Du-Beziehung zum Absoluten setzt ein Individuum voraus, das diese Beziehung eingeht.«

Das ist eine integrale Bewusstseinskultur, die in verschiedenen Wir-Raum-Experimenten erforscht wird. Diese Wir-Räume haben gewisse Ähnlichkeiten mit den Wir-Räumen vor unserem Prozess der Individuation, den wir kulturell in den letzten 3000 Jahren durchlaufen haben, aber darin ist auch etwas radikal anders. Transindividuelle Wir-Räume beruhen auf der Freiheit des individuellen Einzelnen, aus Eigenverantwortlichkeit zu einem Wir-Raum Ja sagen zu können. Das heißt, dieser Wir-Raum gründet auf der Freiheit der individuellen Entscheidungsfähigkeit, sich auf die Gegenwart ganz einzulassen. Insofern haben sie eine völlig andere Qualität als präindividuelle Wir-Räume.

Transindividuation braucht nicht weniger Individuation, sondern mehr Individuation, weil wir unsere Eigenverantwortlichkeit in die Offenheit der nicht-getrennten Gegenwart einbringen, wie sie sich in einem dialogischen Ganzen entwickelt und gemeinsam gelebt werden kann. Es ist die Integration von Ganzheitlichkeit und Ich-Kraft, die Integration unserer Individualität, wie wir sie vor allem im Westen entwickelt haben. Daraus kann sich eine neue integrale Bewusstseinskultur entwickeln, die man als einen notwendigen evolutionären Schritt verstehen kann. Die dialogische Praxis von Emergent ­Dialogue ist ein Experimentierfeld unter vielen, die versuchen, diese Öffnung gemeinsam auszuloten.

Ein Wahrnehmungsorgan für Ganzheit

Zentral für Emergent Dialogue ist die Kultivierung von Gegenwärtigkeit. Wenn wir uns begegnen, sind wir in einer dialogischen Gegenwart miteinander. Es ist ein lebendiger Begegnungsraum, der beantwortet werden möchte. Dabei achte ich darauf, wie sich das Feld zwischen uns gestaltet, indem ich die Anwesenden in ihrer Jeweiligkeit und in der sich bildenden Ganzheit in der Wahrnehmung halte.

Dieser Emergent Dialogue ist deshalb primär ein Wahrnehmungstraining. Wenn wir Wir-Räume wahrnehmen, erfahren wir sie meistens aus unserer Ich-Per­spektive. Es ist herausfordernd, aus dieser Ich-Perspektive herauszutreten und das Bewusstseinsfeld als Ganzes wahrzunehmen und ein Wahrnehmungsorgan dafür zu entwickeln. Es ist einer der ersten entscheidenden Schritte in der Entfaltung eines neuen Wir-Raumes, wenn eine gemeinsame Wahrnehmung dieses Feldes zwischen uns entsteht. Es verändert sich etwas im Gespräch, wenn eine kritische Masse von uns in diese Wahrnehmung kommt. Die Dynamik im Raum wandelt sich und entsteht nicht aus Getrenntheit und Fragmentierung, sondern aus Ganzheitlichkeit und Gegenwärtigkeit, die gemeinsam gehalten werden.

»Transindividuelle Wir-Räume beruhen auf der Freiheit des individuellen Einzelnen.«

Das wird nur möglich aus einer gemeinsamen Wahrnehmung des Bewusstseinsfeldes. Dann sehe ich nicht nur durch meine Thomas-Augen, sondern durch die Augen des Feldes selbst in seiner Ganzheitlichkeit. Ich nehme die Gesprächssituation, in der ich gerade bin, nicht nur aus der Thomas-Perspektive wahr, sondern aus der Perspektive des Feldes. Wenn sich die gemeinsame Wahrnehmung auf diese Weise verändert, dann kann man gemeinsam untersuchen, was sich hier neu zeigt. Was ist dieses Neue? Es ist so, als würde man sich aus einem Gravitationsfeld befreien und in ein anderes gemeinsames Gravitationsfeld eintreten. Dann kann man gemeinsam schauen, was sich darin zeigt, was emergiert, was sich ereignet. Die Grundlage und Voraussetzung liegt im Entwickeln eines Wahrnehmungsorgans, das man als eine transindividuelle Fähigkeit ansprechen kann.

Transindividuelle Gegenwärtigkeit

Eine transindividuelle Gegenwärtigkeit ist eine gemeinsame Anwesenheit von allem, was anwesend ist. Wenn ich im Gespräch bin, kann ich das Gespräch ganz aus meiner Thomas-Perspektive wahrnehmen und darauf rückbeziehen, auf meine Motivation des Hierseins, meine Ideen, mein Wollen. Daraus entsteht eine bestimmte Wahrnehmung der Gegenwart, die auch ihre Legitimität hat. Wenn ich aber in einem Gespräch anwesend bin und die Beteiligten sich individuell einbringen, dabei aber die gemeinsame Gegenwärtigkeit mit in der Wahrnehmung halten, kann sich darin etwas Ganzes weben. Es entsteht das organische Ganze eines gemeinsamen Bewusstseinsraums. Dann geht es nicht nur um mich, sondern um das gemeinsame Potenzial, das ich nicht von außen aus meiner ­Thomas-Perspektive betrachte. Es zeigt sich in einer gemeinsamen Innenper­spektive, einem gemeinsamen Innenraum.

Durch die Entwicklung des Wahrnehmungsorgans für die Ganzheit der Gegenwart wird mir dieser gemeinsame Innenraum überhaupt erst zugänglich. In dem Maße, in dem er mir und uns zugänglich wird, erweitert sich die Wahrnehmung von Gegenwart, weil sie nicht in der individuellen Thomas-Blickrichtung isoliert ist. Natürlich ist sie nie ganz unabhängig von meiner Perspektive, denn ich bin immer auch Thomas und nicht Klaus. Aber gleichzeitig können Klaus und ­Thomas und alle Anwesenden eine gemeinsame Innenwahrnehmung des Bewusstseinsraumes erschließen, in dem wir uns gemeinsam bewegen. Es ist eine höhere Integration, wenn das Potenzial dessen, was zwischen uns gerade möglich ist, in die Sichtbarkeit kommt.

Diese transindividuelle Gegenwärtigkeit wird aus unserer Freiheit getragen. Wir lassen uns nicht in ein präindividuelles Wir fallen und schwingen dann jeweils mit dem mit, was das Gruppen-Wir sagt. Diese Regression im Wir ist in der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus ausgenutzt worden, mit schrecklichen Folgen. Es geht also nicht um das Zurückfallen in ein präindividuelles Wir, wo die Eigenverantwortlichkeit und Freiheit nicht mehr das Tragende sind. Ein transindividuelles Wir entsteht, wenn wir gemeinsam aus unserer freien Entscheidung für diesen offenen Raum zwischen uns eine Ganzheit bilden.

Transindividuation kann man in diesem Sinne auch als eine Evolution der Liebe verstehen. Die Liebe öffnet sich und geht über eine nur persönliche Liebe hinaus, sie wird zu einer Liebe zur Ganzheit, die zwischen uns entsteht. Wenn sich der Raum zwischen uns öffnet, können wir uns liebend dieser Öffnung zuwenden. Erst wenn ich die Öffnung wahrnehme, kann ich mich ihr liebend zuwenden. Es ist ein Prozess der Liebe für das, was zwischen uns als Ganzes entsteht.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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