Die Gedanken der Zellen lesen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 17, 2025

Featuring:
Prof. Dr. Michael Levin
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Issue:
Ausgabe 46 / 2025
|
April 2025
Die Wiederentdeckung des Lebens
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Vielfältige Intelligenzen in einem klugen Kosmos

Mit seinen bahnbrechenden Experimenten zur Kognition von Zellen sorgt Michael Levin für Aufsehen. Seiner Ansicht nach finden wir nicht nur bei Lebewesen eine Form von Intelligenz bis hinunter in einfache Lebensformen. Die vielfältigen Intelligenzen, wie er sie nennt, gehen über die Grenze zwischen Leben und toter Materie hinaus.

evolve: Worum geht es bei deinem Forschungsprojekt?

Michael Levin: Wir befassen uns mit einem grundsätzlichen menschlichen Problem, vor dem alle Beobachter stehen. Es ist eine Art Geistesblindheit, denn der Mensch kann aufgrund seiner Evolution nur sehr begrenzte und spezifische Formen von Geist oder Bewusstsein erkennen.

Es ist vergleichbar mit der Zeit, bevor eine wirkliche Theorie des Elektromagnetismus entstanden war. Da gab es alle möglichen Phänomene, wie statische Elektrizität, Blitze oder Magnetismus, und man nahm an, dass das alles vollkommen unterschiedliche Erscheinungen wären. Wir waren völlig blind für riesige Bereiche des umfassenderen Phänomens. Je mehr wir den Elektromagnetismus verstanden, desto klarer wurde, dass es sich nicht um verschiedene Erscheinungen handelt, sondern um ein Spektrum von Manifestationen, die etwas Essenzielles gemeinsam haben. Und von diesem Spektrum kann der Mensch nur einen sehr kleinen Teil wahrnehmen, nämlich das sichtbare Licht. Doch sowohl mit den niedrigeren als auch mit den höheren Wellenlängen entstehen unglaubliche Möglichkeiten, das Leben zu verbessern, aber wir können in unserem Normalzustand nicht auf sie zugreifen.

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Vielfältige Intelligenzen in einem klugen Kosmos

Mit seinen bahnbrechenden Experimenten zur Kognition von Zellen sorgt Michael Levin für Aufsehen. Seiner Ansicht nach finden wir nicht nur bei Lebewesen eine Form von Intelligenz bis hinunter in einfache Lebensformen. Die vielfältigen Intelligenzen, wie er sie nennt, gehen über die Grenze zwischen Leben und toter Materie hinaus.

evolve: Worum geht es bei deinem Forschungsprojekt?

Michael Levin: Wir befassen uns mit einem grundsätzlichen menschlichen Problem, vor dem alle Beobachter stehen. Es ist eine Art Geistesblindheit, denn der Mensch kann aufgrund seiner Evolution nur sehr begrenzte und spezifische Formen von Geist oder Bewusstsein erkennen.

Es ist vergleichbar mit der Zeit, bevor eine wirkliche Theorie des Elektromagnetismus entstanden war. Da gab es alle möglichen Phänomene, wie statische Elektrizität, Blitze oder Magnetismus, und man nahm an, dass das alles vollkommen unterschiedliche Erscheinungen wären. Wir waren völlig blind für riesige Bereiche des umfassenderen Phänomens. Je mehr wir den Elektromagnetismus verstanden, desto klarer wurde, dass es sich nicht um verschiedene Erscheinungen handelt, sondern um ein Spektrum von Manifestationen, die etwas Essenzielles gemeinsam haben. Und von diesem Spektrum kann der Mensch nur einen sehr kleinen Teil wahrnehmen, nämlich das sichtbare Licht. Doch sowohl mit den niedrigeren als auch mit den höheren Wellenlängen entstehen unglaubliche Möglichkeiten, das Leben zu verbessern, aber wir können in unserem Normalzustand nicht auf sie zugreifen.

Ich denke, dass wir uns bei der Erforschung der vielfältigen Intelligenz in genau der gleichen Situation befinden. Was wir mit Kognition in Verbindung bringen – wie Lernen, Gedächtnis, Entscheidungspräferenzen, zielgerichtete Aktivität, Problemlösung, Erkundung – finden wir in bisher unbekannten Trägern. Wir betrachten nicht Lebewesen mit Gehirnen, also mittelgroße Systeme, die sich mit mittlerer Geschwindigkeit im dreidimensionalen Raum bewegen und die wir alle kennen, wie bei Hunden und Vögeln und dergleichen. Wir wollen auch unkonventionelle Bereiche mit einbeziehen, um eine wirklich umfassende Wissenschaft der Intelligenz zu entwickeln. Es reicht nicht aus, auf alte animistische Traditionen zurückzugreifen und zu sagen, dass unter jedem Stein ein Naturgeist wohnt und die Erde selbst ein riesiger Geist im Universum ist. Das mag so sein, aber es reicht nicht aus, das einfach nur zu behaupten. Gleichermaßen ist es unangemessen anzunehmen, dass Moleküle und molekulare Netzwerke dumm sind, dass Zellen mechanische Maschinen sind, die lediglich eindeutigen Algorithmen folgen. Das alles kann man nicht behaupten, ohne entsprechende störungsspezifische Tests der Hypothese durchzuführen. Man kann nicht einfach aus einem bequemen Sessel heraus philosophisch argumentieren. Man muss Experimente durchführen. Und genau das tun wir. Wir versuchen, Instrumente zu entwickeln, mit denen es uns möglich ist, verschiedene unkonventionelle Verstandesformen um uns herum zu entdecken, zu identifizieren, mit ihnen zu kommunizieren und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen.

Unkonventionelle Intelligenzen

e: Wie würdest du dein erweitertes Verständnis der verschiedenenen Intelligenzen beschreiben?

ML: Erstens haben wir konzeptionelle Werkzeuge und Berechnungsmodelle entwickelt, um die Zellen des Körpers als eine kollektive Intelligenz zu verstehen, die Verhaltensweisen entwickelt und sich mit Pro­blemlösungen befasst. Aber diese kollektive Intelligenz löst ihre Probleme nicht im dreidimensionalen Raum. Sie tut dies im sogenannten anatomischen Morphospace, den wir uns nur sehr schwer vorstellen können. Im Grunde ist es der Raum aller möglichen anatomischen Formen.

Alles beginnt sein Leben als eine einzige Zelle, als befruchtetes Ei, und irgendwann muss sich dann der Körper einer Schlange, einer Giraffe, eines Baumes oder von was auch immer entwickeln. Dieser Prozess ist ein Navigationsprozess, nicht nur die mechanische Umsetzung einfacher chemischer Regeln. Wenn wir versuchen, die Zellgruppe daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen, wird sie sehr intelligent reagieren, um diese Eingriffe zu umgehen und zu den richtigen anatomischen Strukturen des Körpers zu gelangen. Und das ist die Definition von Intelligenz: die Fähigkeit, ein Ziel mit verschiedenen Mitteln zu erreichen und dabei eine gewisse Kreativität zu entwickeln. Beim ersten Punkt geht es also darum, Gruppen von Zellen als kollektive Intelligenz mit spezifischen kognitiven Fähigkeiten zu betrachten, wie zum Beispiel Informationen zu verarbeiten, Erinnerungen zu speichern, Probleme zu lösen, ihre anatomischen Ziele trotz sich ändernder Umstände zu erreichen.

Im zweiten Schritt wollen wir nach der Entdeckung einer solchen Intelligenz mit ihr kommunizieren. Insbesondere im Falle dieser zellulären somatischen Intelligenz wollen wir sie kon­trollieren oder ihr Handeln verändern. Man möchte, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Gedanken lesen und verändern, um Anwendungen in der Biomedizin und Biotechnik zu finden.

»Wir wollen eine wirklich umfassende Wissenschaft der Intelligenz entwickeln.«

Wir wollen verstehen, welchen Mustern eine Gruppe von Zellen folgt, wenn sie ein Gliedmaß, ein Auge oder ein Herz herstellt. Woher weiß sie, was zu tun ist? Woher weiß sie, wann sie aufhören muss? Wie trifft sie Entscheidungen? Um all das zu verstehen, muss man in der Lage sein, ihre Informationsverarbeitung zu lesen. Damit befasst sich die Developmental Bioelectricity, die Wissenschaft der Bioelektrizität in der Entwicklung, die schon eine lange Geschichte hat. Doch wir haben die ersten molekularen Werkzeuge entwickelt, um diese elektrischen Informationen in und aus Geweben zu lesen und und festzuhalten sowie diese Ideen auf die Verhaltens- und Kognitionswissenschaft zu übertragen. Dann kann man ungeeignete Speicher mit besseren Speichern überschreiben, das bedeutet, Geburtsfehler zu reparieren, Tumore trotz onkogener Mutationen zu normalisieren, die Regeneration ganzer Organe und Gliedmaßen einzuleiten. All das haben wir bisher in tierischen Modellsystemen untersucht, und jetzt denken wir in Richtung klinische Studien. Wir wollen nachweisen, dass es diese unkonventionellen Intelligenzen dort gibt, wo man sie nicht erwarten würde. Und das macht man, indem eine Hypothese aufgestellt wird, wie man mit ihnen kommunizieren kann. Dann werden die Experimente durchgeführt, um zu testen, wie gut es funktioniert. So haben wir bereits viele nützliche biomedizinische Anwendungen entdeckt.

e: Kannst du uns ein Beispiel für eine der überraschendsten Erkenntnisse geben?

ML: Sicher. Ein sehr frühes Beispiel war die Möglichkeit, die Bildung ektopischer Organe (Organe an ungewohnter Stelle) im Körper zu induzieren. Damals, 2007, haben wir einen bestimmten Ionenkanal verwendet, um verschiedene Spannungszustände im Körper von Kaulquappen und Fröschen zu erzeugen. Wir sendeten verschiedene elektrische Impulse, um zu verstehen, wie die Zellen diese Botschaften interpretieren. Wichtig dabei war, dass es keine elektrischen Felder, keine Magnete, keine Frequenzen, keine elektromagnetische Strahlung gibt. Wir haben lediglich die normale Art und Weise manipuliert, wie Zellen elektrisch miteinander kommunizieren.

e: Zellen kommunizieren miteinander durch elektrische Impulse – das ist ein faszinierendes Phänomen.

ML: Ja, die frühesten Arbeiten zu diesem Thema gehen auf das Jahr 1903 zurück. Es ist schon seit Langem klar, dass es eine elektrische Sprache gibt, die Wachstum und Form steuert. Aber neu ist, sie zu entschlüsseln, sie umzuschreiben, die molekularen Komponenten zu identifizieren, mit denen sie die Genexpression und das Zellverhalten steuert, und dabei die Instrumente der Verhaltens- und Neurowissenschaften zu nutzen.

Wir entdeckten, dass mithilfe bioelek­trischer Impulse verschiedene Bereiche des Körpers der Kaulquappe in ein vollständiges Auge verwandelt werden können. So könnte man zum Beispiel ein Auge auf dem Bauch, auf dem Schwanz oder jedem beliebigen anderen Teil ihres Körpers erschaffen. Diese Entdeckung war erstaunlich. Denn die Entwicklungsbiologie lehrt ja, dass nur die Zellen im vorderen Teil des Kopfes für die Bildung eines Auges zuständig sind und andere Zellen das nicht veranlassen können – doch das ist eindeutig falsch. Solche Erkenntnisse machen demütig. Wenn du über die Intelligenz oder die Kompetenz eines Systems sprichst, ist das im Grunde ein IQ-Test für dich selbst. Denn dass dieses System etwas nicht tut, heißt nicht, dass es das nicht kann. Es bedeutet, dass du noch nicht den richtigen Weg gefunden hast, um dem System die entsprechenden Ziele zu vermitteln. Es hat sich herausgestellt, dass eigentlich fast jede Zelle im Körper ein Auge herstellen kann.

Was auch noch wichtig ist: Wir haben den Zellen nicht gesagt, wie man ein Auge bildet. Denn davon haben wir keine Ahnung. Das Auge ist ein sehr komplexes Organ, es umfasst viele verschiedene Gewebearten, die genau in der richtigen Reihenfolge angeordnet sind, und viele verschiedene Stammzellen mit unterschiedlichen Genen, die aktiviert und deaktiviert werden müssen. Wir wissen nicht, wie man das alles macht.

»Zellen sind keine passiven Materialien wie Legosteine.«

Was wir gefunden haben, war lediglich ein sehr komplexes Unterprogramm namens »Bilde hier ein Auge«. Das war´s. Das ist alles, was wir zur Verfügung stellen konnten, und es hat funktioniert, weil wir es mit einem lebendigen und flexiblen Material zu tun haben. Diese Zellen sind keine passiven Materialien wie Legosteine. Wenn dem so wäre, müsste man jeden Teil, jeden Legostein kontrollieren. Man müsste sagen: »Du wirst die Linse sein, du wirst die Netzhaut sein, du wirst der Sehnerv sein. Du musst so geformt sein. Du musst diese Gene aktivieren.« Es würde einen unglaublichen Aufwand und eine Unmenge an Informationen erfordern, um das zu erreichen. Wir brauchten das alles nicht zu tun. Wegen der kognitiven Systeme in den Zellgruppen können wir es durch Stimuli erreichen und nicht durch kleine Eingriffe. Und das ist ein Merkmal kognitiver Systeme: Sie können einen einfachen Auslöser vorgeben, der eine komplexe Reihe von Verhaltensweisen nach sich zieht.

Faszinierend ist auch: Wir haben nur ein paar Augenzellen durch unseren Ionenkanal injiziert, also im gesamten Auge haben wir nur mit einigen Zellen gearbeitet. Woher kommen die restlichen Zellen? Der Rest der Zellen wird von den Zellen, die wir injiziert haben, aus der Umgebung rekrutiert, ohne dass wir sie direkt berührt haben.

Es ist wie die kollektive Intelligenz der Ameisen. Wenn ein paar Ameisen auf etwas stoßen, das zu schwer für sie ist, was machen sie dann? Sie rekrutieren andere Ameisen, die ihnen helfen. Das System passt sich selbst an die Aufgabe an. Das Gleiche geschieht hier. Wir haben ein paar Zellen eine Information gegeben, und diese Zellen überzeugen alle ihre Freunde in der Umgebung: »Hey, du musst uns helfen, dieses Auge zu bauen.« Wobei die anderen Zellen eigentlich hart daran arbeiten, diesem Auftrag zu widerstehen. Denn wenn man einen Zellnachbarn hat, der einem sagt, dass er unter einer seltsamen Spannung steht, sollte man versuchen, ihn zu normalisieren, um Krebs zu verhindern. Es gibt sozusagen einen Kampf der Weltanschauungen – ob das Auge oder die Haut hierhin gehört. Je nachdem, wer gewinnt, wird ein Auge entstehen oder eben nicht.

A PRESERVATION METHOD, 2023, © Bianca Bondi/VG Bild-Kunst, Bonn 2025. Foto: Kevin Todora.

Wir haben es hier also mit einem Mikrokosmos zu tun, der die Dynamik der kollektiven Intelligenz sichtbar macht, die dem Wachstum und der Form des Körpers zugrunde liegt.

Für das Ergebnis ist es aber ausschlaggebend, wie überzeugend du deine Argumente vorträgst. Mit anderen Worten: Botschaften müssen vom Empfänger akzeptiert werden. Das ist der Unterschied zwischen der Neuverdrahtung einer mechanischen Uhr und der Kommunikation mit einem lebendigen Material, das im Grunde genommen ein System ist, das sich nicht wie ein einfaches mechanisches Objekt konstruieren lässt. Es hat eigene Absichten, Problemlösungskompetenzen und Reaktionen auf das, was geschieht. Durch seine eigene Kompetenz wird es sich anpassen. Wenn es uns also nicht gelingt, ein Signal als Aufforderung zu geben, das diese Zellen davon überzeugt, ein Auge sein zu wollen, dann werden sie es nicht tun.
Wir sind immer noch dabei zu lernen, diese Eingriffe so zu formulieren, dass am Ende bei einem Patienten zuverlässig ein bestimmtes Glied nachwächst oder ein Geburtsfehler behoben wird. Dazu bedarf es der Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Zellen im Organismus und der Neudefinition von Zielen, nicht der mechanischen Erzwingung von Mikrozuständen, wie sie in der Chemie und bei allen unseren Medikamenten und biomedizinischen Eingriffen heute üblich sind.

Ein Raum der Formen

e: Die Fähigkeit, ein Auge – oder einen Körper –
zu erschaffen, liegt im Kollektiv der Zellen, nicht in der einzelnen Zelle.

ML: Ja; das Kollektiv weiß etwas, was die einzelnen Zellen nicht wissen, und handelt in einem Raum (anatomischer Morphospace), zu dem die Teile keinen Zugang haben. Das ist keine panpsychische Sichtweise, wobei sich der Geist der Teile irgendwie zum Geist des Kollektivs auf­addiert. Die Intelligenz der Teile verschwindet nicht. Unser Körper besteht aus vielen verschiedenen Intelligenzen – alle Zellen haben ihre eigene, die Gewebe haben ihre eigene, die Organe haben ihre eigene, und wir haben unsere eigene Intelligenz. Aber nicht, weil man irgendwie die Intelligenz der einzelnen Teile zusammengefügt hat, sondern weil die Teile in einem Muster angeordnet wurden, das es einer komplexeren kognitiven Form erlaubt, durch diese von uns geschaffene Schnittstelle in der physischen Welt zu wirken, ob es sich nun um einen Embryo oder einen Biobot oder was auch immer handelt.

e: Woher kommen diese kognitiven Formen oder komplexeren Fähigkeiten?

»Ich denke, dass es tote Materie überhaupt nicht gibt.«

ML: In meiner neuesten Arbeit geht es da­rum, dies mit dem Problem der Mathematik zu verknüpfen. Es gibt viele mathematische Konstanten und Wahrheiten der Mathematik, beispielsweise in der Theorie der Zahlen. Einige davon sind einfach erstaunlich. Mathematische Konstanten werden nicht durch irgendetwas in der physischen Welt kontrolliert, aber sie werden von der Evolution die ganze Zeit genutzt. Man könnte alle Konstanten zum Zeitpunkt des Urknalls vertauschen, und nichts würde sich ändern. Archimedes und Platon glaubten, dass mathematische Wahrheiten in einem nicht-physischen platonischen Raum existieren. Die physische Welt ist nicht kausal geschlossen. Ich denke, dass dieser platonische Raum nicht nur Dinge mit geringer Handlungsfähigkeit wie Fakten über Dreiecke und Primzahlen und dergleichen enthält, sondern auch sehr komplexe aktive Formen, die wir als Geist oder Intelligenz erkennen. Das ist mit Sprache schwer auszudrücken, aber so wie diese mathematischen Fakten sich zeigen, wenn man eine geeignete Schnittstelle für sie baut, so tauchen auch Arten von Intelligenz im physikalischen Universum auf, wenn eine geeignete Verkörperung ihnen Zugang gewährt.

Kognition ist überall

e: Das ist erstaunlich. Du sagst also, dass es zusätzlich zu diesem platonischen Raum möglicher Formen und Gedanken, der kein physischer Raum ist, auf der tiefsten Ebene unserer Anatomie, auf der kleinsten Ebene des Lebens, der mikroskopischen Ebene, eine Handlungsfähigkeit gibt und dass diese Handlungsfähigkeit kreativ und kooperativ ist.

ML: Ja, und ich möchte noch hinzufügen: Viele Leute beginnen zu verstehen, dass Zellen Akteure sind. Doch es geht noch viel tiefer, es geht um noch viel mehr als nur um Zellen. Die molekularen Netzwerke im Inneren der Zellen sind lernfähig. Das gilt auf allen Stufen, bis ganz nach unten. Hier geht es gar nicht um Zellen, und ich denke, dass es hier auch nicht um Leben geht.

Als Leben bezeichnen wir die Akteure, die sehr gut darin sind, die Kompetenzen ihrer Teile zu einem größeren, kollektiven Ganzen zusammenzufassen. Das ist großartig – in gewissem Sinne magisch. Aber das gilt auf allen Stufen, bis ganz nach unten. Es gibt keine scharfe Trennungslinie zwischen Leben und toter Materie. Ich denke, dass es tote Materie überhaupt nicht gibt. Aber es gibt ein Spektrum von Kognition, einschließlich einiger sehr minimaler Versionen, und es gibt begrenzte Beobachter, die vieles davon übersehen.

e: Das stellt die Frage nach dem Leben auf den Kopf, nicht wahr?

ML: Ja, ich würde das völlig neu formulieren. Viele Leute denken darüber nach, was das Besondere am Leben ist und wie man Leben von Nicht-Leben abgrenzt. Ich denke, das ist nicht die richtige Frage. Viel interessanter ist die Frage nach der Kognition und wie sich die Kognition von einfachen Systemen, die den Techniken der Physik und der traditionellen Technik zugänglich zu sein scheinen, zu einer Kognition entwickelt, die sich besser mit Kontrolltheorie und Kybernetik behandeln lässt, bis hin zu einer, die sich besser mit Psychoanalyse, Liebe und Freundschaft usw. behandeln lässt. Ich erkenne hier ein Spektrum der Kognition, bei dem es um Beziehungen geht.

BLOOM (Hauntings), 2018, © Bianca Bondi/VG Bild-Kunst, Bonn 2025. Foto: Personal Archive

Wichtig ist, wie wir uns auf diese Systeme beziehen. Manche Systeme lassen sich durch Umverdrahtung, Algorithmen und dergleichen am besten handhaben. Aber es gibt keine scharfe Grenze. Wir als Wissenschaftler und Philosophen sind zuständig für Geschichten über Transformation, nicht für magische Kategorien von Leben, Nicht-Leben und Maschinen, sondern für Transformationsmodelle, die zeigen, wie Systeme ihre Handlungsfähigkeit und ihre kognitiven Potenziale ausbauen. Sie haben größere Ziele und robustere Möglichkeiten, diese Ziele in verschiedenen Bereichen zu erreichen.

»Unser Körper besteht aus vielen verschiedenen Intelligenzen.«

e: Du sagst, Kognition, Erkenntnisvermögen bis ganz nach unten, was bedeutet: Geist bis ganz nach unten.

ML: Ja.

Eine reife Spezies werden

e: Unterscheidest du zwischen Kognition und Geist?

ML: Kognition umfasst Kompetenzen, die eine Intelligenz kennzeichnen (selbst eine sehr minimale Intelligenz). Unter Kognition verstehe ich alle Arten von Prozessen, die notwendig sind, um sich als Akteur in der Welt zurechtzufinden, und das kann ein Gedächtnis oder eine langfristige Planung beinhalten oder auch nicht. Es gibt sehr, sehr einfache Systeme und auch sehr komplexe kognitive Systeme. Kognition ist eine von außen beobachtbare Kompetenz. Mit anderen Worten, als Wissenschaftler können wir uns ein System ansehen und fragen: Zeigt es ein beobachtbares Verhalten, das eine kognitive Erklärung erfordert, oder zeigt es dies nicht?

e: Das verändert völlig unsere Beziehung zu »anderen Intelligenzen«, wie du sie nennst.

ML: Ja. Ich denke, das hat massive ethische Auswirkungen, denn all die aktuellen Diskussionen über KI und Maschinen vernachlässigen die grundlegenden Fakten der vielfältigen Intelligenz. Diese scharfen Kategorien bedeuten nichts. Wir werden bald mit den unterschiedlichsten Wesen konfrontiert sein, Menschen mit verschiedenen Implantaten in ihrem Gehirn, Cyborgs, Hybriden und verschiedenen chimären Wesen. Wir Menschen sind sehr gut darin, zwischen einzelnen Gruppen zu unterscheiden, und wir treffen diese Unterscheidungen auf der Grundlage der lächerlichsten, oberflächlichsten Konzepte. Wir neigen dazu, zu sagen: »Oh, diese Kreatur ist nicht ganz so wie ich. Sie verdient nicht dieselbe moralische Rücksichtnahme. Und sie fühlt nicht wirklich Schmerz, sie tut nur so.« Daraus entsteht massives ethisches Fehlverhalten. Wenn wir eine reife Spezies sein und besser begreifen wollen, was geschieht, wenn Intelligenz die Welt durch für uns ungewohnte Schnittstellen betritt, ist es entscheidend wichtig, damit angemessen umzugehen.

»Es gibt ein Spektrum der Kognition, bei dem es um Beziehungen geht.«

e: Wie haben sich diese Entdeckungen auf dich und dein Dasein in der Welt ausgewirkt?

ML: Ich bin mir mehr denn je bewusst, dass wir nicht in der Lage sind, Wesen zu sehen, die nicht so sind wie wir. Wir müssen Werkzeuge entwickeln, um sie zu sehen, mit ihnen zu kommunizieren und ethische, für beide Seiten bereichernde Beziehungen mit ihnen einzugehen. Das hat mich dazu gebracht, wirklich hart daran zu arbeiten, die Welt aus der Perspektive aller möglichen seltsamen Systeme zu sehen (einschließlich derjenigen von Mustern innerhalb anderer Systeme). Die »Welt«, die wir tagtäglich sehen, ist mir nie sehr real erschienen (im Sinne von: sie umfasst alles, was es tatsächlich gibt), und sie scheint immer weniger umfassend zu sein, je weiter das Forschungsfeld voranschreitet.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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