Wir schaffen das

Our Emotional Participation in the World
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July 7, 2025

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47
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July 2025
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Design für eine neue Demokratie

Eine Verfassung ist kein Naturgesetz. Demokratie ist ein Entwurf – und ein Versprechen.

Es gibt wohl zwei große existenzielle Fragen: ob wir es schaffen diesen Planeten als unsere Lebensgrundlage zu erhalten, und ob wir weiterhin in freien, demokratischen Gesellschaften leben, die ich als einzige politische Systeme sehe, um uns Antworten auf die erste Frage zu geben. Demokratie und ein lebendiger Planet gehören zusammen. Das heißt aber nicht unbedingt, dass es sich um die jetzigen Demokratien handeln muss. Wahrscheinlicher ist, dass auch die jetzigen Demokratien nicht mehr ausreichen, um die große Transformation und die folgende große Ko-Kreation zu bewältigen. Aber derzeit entwickeln sich unsere Demokratien nicht weiter. Sie stehen unter Druck. Weltweit geraten demokratische Systeme ins Wanken – nicht nur durch äußere Krisen, sondern gerade auch von innen heraus, durch die gezielte Aushöhlung rechtsstaatlicher Institutionen. Was in Ungarn, den USA oder der Türkei geschieht, ist keine ferne Bedrohung. Sie sitzt mit über 25 Prozent in unseren eigenen Parlamenten.

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Design für eine neue Demokratie

Eine Verfassung ist kein Naturgesetz. Demokratie ist ein Entwurf – und ein Versprechen.

Es gibt wohl zwei große existenzielle Fragen: ob wir es schaffen diesen Planeten als unsere Lebensgrundlage zu erhalten, und ob wir weiterhin in freien, demokratischen Gesellschaften leben, die ich als einzige politische Systeme sehe, um uns Antworten auf die erste Frage zu geben. Demokratie und ein lebendiger Planet gehören zusammen. Das heißt aber nicht unbedingt, dass es sich um die jetzigen Demokratien handeln muss. Wahrscheinlicher ist, dass auch die jetzigen Demokratien nicht mehr ausreichen, um die große Transformation und die folgende große Ko-Kreation zu bewältigen. Aber derzeit entwickeln sich unsere Demokratien nicht weiter. Sie stehen unter Druck. Weltweit geraten demokratische Systeme ins Wanken – nicht nur durch äußere Krisen, sondern gerade auch von innen heraus, durch die gezielte Aushöhlung rechtsstaatlicher Institutionen. Was in Ungarn, den USA oder der Türkei geschieht, ist keine ferne Bedrohung. Sie sitzt mit über 25 Prozent in unseren eigenen Parlamenten.

Doch anstatt mit Resignation zu reagieren, schaue ich auf meine eigene Transformationstheorie und begreife, dass vor der Neuerfindung, vor der Emergenz eben immer eine transformierende Krise kommt. Der Druck zwingt uns, die Demokratie zu erneuern, um den kommenden Herausforderungen gerecht werden zu können. Und theoretisch kann die Demokratie das auch: eine lernende, sich entwickelnde Demokratie sein.

Wenn Demokratie kein Denkmal ist, das bewahrt werden muss, sondern ein lebendiger, lernender Organismus, dann können und müssen wir als Souveräne durch unsere eigene Reflexion des uns regulierenden Systems diesen lebendigen Prozess vorantreiben. Seit über 75 Jahren leben wir in Deutschland mit einem politischen System, das auf den Erfahrungen der Nachkriegszeit basiert. Diese Ordnung hat Stabilität, Freiheit und Sicherheit geschaffen. Doch sind ihre Strukturen noch zeitgemäß in einer Welt der digitalen Kommunikation, multiplen Krisen und global agierender Tech-Oligarchen und Autokraten? Die Frage ist daher für mich nicht: Wie können wir unsere Demokratie gegen Angriffe schützen? Sondern: Wie können wir sie so weiterentwickeln, dass sie gerade jetzt, durch Anpassung und Entwicklung, durch Lernen resilienter wird?

Vom Betriebssystem zum Governance Design

Demokratie als Design zu verstehen, heißt, sie nicht nur als rechtliches Regelwerk zu betrachten, sondern sie als kulturelle, soziale und technologische Infrastruktur unseres Zusammenlebens entwerfen zu können. Ihre Architektur besteht nicht nur aus Verfassungsartikeln, sondern auch aus ungeschriebenen Regeln, Institutionen, Haltungen und Gewohnheiten. Sie ist – wie jede komplexe Ordnung – immer auch ein Produkt ihrer Zeit und eines Weltverständnisses. Und unser Verständnis von unserer Welt hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Entstehung der globalen Weltordnung, in der wir jetzt leben, selbstverständlich weiterentwickelt. Unser demokratisches Betriebssystem, wenn diese technische Metapher erlaubt ist, braucht längst ein Update und eine neue kulturelle Praxis gelebter Demokratie, die der heutigen Zeit und unserem heutigen Bewusstsein von Demokratie und gesellschaftlicher Regulierung angemessen ist.

Staaten, Gesellschaften, ja ganze Zivilisationen wurden immer schon gestaltet. Oft von Eliten, selten durch die Bevölkerung. Heute stehen wir vor der Herausforderung, diese Gestaltung selbst wiederum demokratisch zu organisieren: Dazu braucht es Menschen, die nicht nur Expert:innen in Politik oder Recht sind, sondern die sich als Künstler:innen und Gestalter:innen von gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Kultur von Demokratie auskennen und diese in ko-kreativen Prozessen organisieren. Menschen, die politische Systeme als gestaltbare Prozesse begreifen. Ich nenne sie Governance Designer:innen. Und auch wenn es diesen Beruf offiziell nicht gibt – die Praxis existiert längst. Sie findet statt in Zivilgesellschaft, Aktivismus, Wissenschaft, Kunst und Verwaltung. Genau solche Menschen habe ich eingeladen, am Demokratieprojekt mitzuwirken, das schließlich in dem Buch Ein Update für unsere Demokratie mündete.

Die Bundeswerkstatt »Demokratie Update Deutschland«

Der Ausgangspunkt war ambitioniert: Wir wollten innerhalb eines größeren Konsortiums in Zusammenarbeit mit Bundesministerien partizipative Gesetzgebungsverfahren erproben – und damit dabei unterstützen, ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung einzulösen. Doch die Türen der Institutionen blieben uns trotz vielfältiger Gespräche verschlossen.

Wir entwickelten stattdessen die Bundeswerkstatt Demokratie Update: ein kooperatives Werkstattverfahren zur Erstellung von Entwürfen für Demokratie-Innovationen. Es war ein Prozess, der Bürger:innen, Aktivist:innen, Expert:innen und Visionär:innen miteinander ins Gespräch und in die Zusammenarbeit brachte. Über mehrere Monate hinweg entstand ein partizipatives Experiment, das durch Workshops, Rückkopplungen und gemeinsames Schreiben einen Resonanzraum für Demokratie-Innovation eröffnete. Dazu brachten wir bewusst Bürger-Expert:innen und Demokratie-Expert:innen zusammen. Die einen brachten ihre Lebensrealität, Hoffnungen und Fragen ein, die anderen systemisches Wissen, langjährige Erfahrung und konkrete Entwürfe. Dieser Dialog war das Herzstück des Projekts.

»Vor der Neuerfindung kommt immer eine transformierende Krise.«

Die Bürger:innen wurden nicht repräsentativ gelost, aber gezielt nach Milieuzugehörigkeit, Geschlecht, Bildung und Alter ausgewählt – in einem Bewerbungsverfahren, das Diversität anstrebte und doch seine Grenzen offenbarte. Die Demokratie-Expert:innen kamen aus Netzwerken, Thinktanks, NGOs und politischen Initiativen. Sie alle reichten Ideen ein, diskutierten, überarbeiteten und vertieften sie. Entstanden ist ein Sammelband mit 26 Demokratie-Entwürfen – keinen fertigen Lösungen, aber Skizzen einer besseren Demokratie, wie zum Beispiel eine dritte Kammer für deliberative Entscheidungen, neue Verfahren jenseits parteipolitischer Konkurrenz, Reformen von Wahlrecht, Gesetzgebung und öffentlicher Kommunikation, die Demokratisierung der Bildung, der Arbeitswelt, der Kultur. Wichtiger noch als die Inhalte war mir jedoch die Haltung des Gesamtprojekts: Die Entwürfe zeigen, dass Demokratie nicht fertig ist. Dass sie von uns allen gemacht, verbessert und aktualisiert werden kann. Und dass diese Arbeit ein kollektiver, kultureller Prozess ist – getragen von Mut, Neugier und Verantwortungsgefühl. Demokratie ist nicht nur ein institutioneller Rahmen, sondern eine geistige Praxis. Sie beginnt in der Frage: Was ist ein gutes Leben für alle? Und sie entfaltet sich im Dialog darüber, wie wir es gestalten wollen.

Ich glaube: Diese Frage gehört nicht nur ins Parlament, sondern auch auf Wochenmärkte, in Kirchen, Moscheen, Theater, Schulen – und in Magazine wie die evolve. Sie gehört in die Mitte der Gesellschaft, nicht als Streitfrage, sondern als schöpferische Ko-Kreation. Eine lebendige Demokratie lebt von der Fähigkeit, sich zu hinterfragen, sich zu wandeln, sich zu erneuern.

Das Buch, das aus diesem Prozess hervorgegangen ist, ist nicht das Ende. Es ist ein Zwischenstand. Eine Einladung weiterzudenken. Zu handeln. Mitzugestalten. Ich würde zum Beispiel gerne eine Vollversammlung Deutschland initiieren – eine repräsentative Bürger:innenversammlung, die die Demokratie selbst verhandelt oder ein echtes partizipatives Gesetzgebungsverfahren umsetzt – gemeinsam mit mutigen Ministerien – und eine Bewegung von Demokratie-Gestalter:innen stärkt, in allen Bereichen der Gesellschaft.

Denn: Demokratie ist ein Projekt. Und wir sind alle Mitgestaltende.

Author:
Jascha Rohr
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