Von der Wiederentdeckung der »Ältesten«
Die Ältesten nehmen in indigenen Kulturen einen zentralen Platz im sozialen Gefüge ein. In den alternden westlichen Gesellschaften zeigt sich für ältere Menschen solch eine sinngebende Rolle erst in Anfängen. Wie könnte es heute aussehen, eine Älteste zu sein und dadurch beim Wandel unserer Kultur mitzuwirken?
Es geschah im Herzen des Zulu-Landes am Mhulhuwe-Fluss. Es ist noch gar nicht so lange her. Und die Ältesten, die am Rande des südafrikanischen Umfolozi-Wildparks vor ihren Dorf-Hütten sitzen, nicken lächelnd, wenn die Rede auf die Geschichte von den wilden jungen Elefanten kommt, die alles kurz und klein gehauen, Touristenautos angegriffen, Bäume ausgerissen, Zäune niedergetrampelt und sogar ein paar Nashörner getötet hatten – einfach so, keiner wusste warum. Begonnen hatte es so: Die Touristen wollten Elefanten beobachten, obwohl es im Umfolozi-Park keine gab. Also fing man junge Elefanten ein, weiter oben im Norden des Landes, brachte sie hinunter in die Region an der Grenze zu Mosambik und ließ sie im Park wieder laufen. Doch sie wussten sich nicht zu benehmen. Als die Sache gefährlich wurde und die Wildhüter sich ernstlich sorgten, fragte einer von ihnen die Ältesten im Dorf, was zu tun sei. Ihre Antwort war kurz und knapp: »Da fehlt ein Ältester!«, sagten sie. Der Mann verstand, und eine Woche später wurde ein alter Elefantenbulle im Park freigelassen. Innerhalb kürzester Zeit beruhigte sich die Lage. Nicht weil der alte Bulle den jungen Rowdies eins übergezogen hatte, sondern einfach weil er da war, sagen die Ältesten von Umunywana, die es nicht anders kennen: »Ein Ältester ist jemand, der versteht und verstanden wird, nicht nur durch das, was er sagt, sondern besonders durch das, was er tut und wie er lebt. Ein Ältester gibt das, was er weiß und als wichtig verstanden hat, an die Menschen weiter, damit das Leben weiterläuft und einfacher wird. Er muss akzeptieren können und akzeptiert werden. Das geschieht, wenn er sein Leben richtig lebt. Dann sieht man ihn als eine Person, die Samen in die Herzen der Jüngeren pflanzt.«
Von der Wiederentdeckung der »Ältesten«
Die Ältesten nehmen in indigenen Kulturen einen zentralen Platz im sozialen Gefüge ein. In den alternden westlichen Gesellschaften zeigt sich für ältere Menschen solch eine sinngebende Rolle erst in Anfängen. Wie könnte es heute aussehen, eine Älteste zu sein und dadurch beim Wandel unserer Kultur mitzuwirken?
Es geschah im Herzen des Zulu-Landes am Mhulhuwe-Fluss. Es ist noch gar nicht so lange her. Und die Ältesten, die am Rande des südafrikanischen Umfolozi-Wildparks vor ihren Dorf-Hütten sitzen, nicken lächelnd, wenn die Rede auf die Geschichte von den wilden jungen Elefanten kommt, die alles kurz und klein gehauen, Touristenautos angegriffen, Bäume ausgerissen, Zäune niedergetrampelt und sogar ein paar Nashörner getötet hatten – einfach so, keiner wusste warum. Begonnen hatte es so: Die Touristen wollten Elefanten beobachten, obwohl es im Umfolozi-Park keine gab. Also fing man junge Elefanten ein, weiter oben im Norden des Landes, brachte sie hinunter in die Region an der Grenze zu Mosambik und ließ sie im Park wieder laufen. Doch sie wussten sich nicht zu benehmen. Als die Sache gefährlich wurde und die Wildhüter sich ernstlich sorgten, fragte einer von ihnen die Ältesten im Dorf, was zu tun sei. Ihre Antwort war kurz und knapp: »Da fehlt ein Ältester!«, sagten sie. Der Mann verstand, und eine Woche später wurde ein alter Elefantenbulle im Park freigelassen. Innerhalb kürzester Zeit beruhigte sich die Lage. Nicht weil der alte Bulle den jungen Rowdies eins übergezogen hatte, sondern einfach weil er da war, sagen die Ältesten von Umunywana, die es nicht anders kennen: »Ein Ältester ist jemand, der versteht und verstanden wird, nicht nur durch das, was er sagt, sondern besonders durch das, was er tut und wie er lebt. Ein Ältester gibt das, was er weiß und als wichtig verstanden hat, an die Menschen weiter, damit das Leben weiterläuft und einfacher wird. Er muss akzeptieren können und akzeptiert werden. Das geschieht, wenn er sein Leben richtig lebt. Dann sieht man ihn als eine Person, die Samen in die Herzen der Jüngeren pflanzt.«
Die Institution der Ältesten
Eine Geschichte, die weit weg ist, geographisch. Und doch eine, die uns berührt, weil da etwas in Resonanz gerät, von dem wir eigentlich noch wissen. Denn überall auf der Welt haben die Ältesten immer eine besondere Rolle gespielt. Bei den Elefanten, wie bei den Menschen. Jetzt sind sie scheinbar nicht mehr da. Ein Loch ist entstanden, eine Sehnsucht glimmt noch in unserer Erin nerung. Als gäbe es da ein Naturgesetz, was nicht einfach auszuhebeln ist, sagt der bald 80-jährige Haiko Nitschke, der viele Jahre lang als Mentor für Menschen in Lebensübergängen tätig war: »Wenn ich mal davon ausgehe, dass wir sozial lebende Säugetiere sind, dann glaube ich, dass wir im Inneren wirklich ruhig sind, wenn wir drei Generationen am Werk sehen: Großeltern, Eltern und Kinder. Wenn man sich eine dieser Generationen wegdenkt, dann ist sofort alles in Gefahr. In den modernen Lebensverhältnissen wird das Fehlen des Mitwirkens der Älteren besonders stark empfunden.«
»In einer Welt, die ziemlich aus dem Lot geraten ist, haben wir zwar Alte, aber kaum mehr ›Älteste‹.«
In einer Welt, die ziemlich aus dem Lot geraten ist, haben wir zwar Alte, aber kaum mehr »Älteste«. Bislang hat man die demografischen Verschiebungen, die durch die Verlängerung der Lebenserwartung und abnehmende Geburtenraten entstehen, nur als finanzielle Zeitbombe gesehen. Denn eine Minderheit der Jungen kann nicht die Mehrheit der Alten finanzieren und versorgen. Doch es ist auch sozial eine ungeheure Herausforderung, die da auf uns zukommt. Man kann die künftige Mehrheit nicht länger wie eine Minderheit behandeln und ausgrenzen. Man kann sie nicht abschieben in Altersheime oder Pflegestationen.
Aus der Sicht jener Kulturen, die wir gerne primitiv nennen, ist unser Umgang mit den Alten ein Ausdruck von Kulturlosigkeit, sagt der mongolische Älteste und Schriftsteller Galsan Tschinag: »Zum Wissen gehört Lebenskultur. Die Liebe zur Nachwelt. Achtung vor der Vorwelt, im Klartext: Achtung vor den alternden Menschen. Europa ist ein Kontinent, wo der Mensch wie jeder andere Gegenstand, zum Beispiel wie ein Auto, an Werten verliert. Und ein ganz alter Mensch ist ein ganz wertloser Mensch. Das ist bei uns genau das Gegenteil. Jeder Mensch nimmt mit jedem Jahr, das er verlebt, an Werten zu. Ein alter Mensch, ein weißköpfiger Mensch ist bei uns immer ein sehr teurer ehrwürdiger Mensch. So hat der Mensch noch seine Würde.«
In der Mongolei ist es so, dass man jeden Jüngeren duzen kann und jeden Älteren siezt, die Begrüßungsformel lautet: »Ich verehre Dich!« Und das war bis vor Kurzem auch im Rest der Welt keine Ausnahme, sagt der Münchner Ethnologe Alexander Knorr: »Man kann sagen, dass in sehr vielen sogenannten traditionellen Gesellschaften die Gruppe der Ältesten existiert, die auch einen besonderen Status innehat, ein besonderes Vertrauen, man spricht ihnen Kompetenz und Erfahrung zu. Und deswegen haben sie eine Berater- oder Entscheidertätigkeit. Wenn in einer Gesellschaft so eine Institution wie die Gruppe der Ältesten existiert, dann ist diese Gruppe komplett in das Sozialsystem, in das politische und meistens auch in das wirtschaftliche System der jeweiligen Gesellschaft integriert. Sie haben eine absolut notwenige und unabdingbare Funktion innerhalb der Gesellschaft.«
Von einer »Institution der Ältesten« spricht der Ethnologe. Zwar haben hierzulande Tagungen mit traditionellen Ältesten aus Asien, Afrika und Amerika eine Art Hochkultur. Man pilgert hin, um sich belehren zu lassen. Doch können wir von ihnen wirklich lernen, was es heute heißt, ein Ältester zu sein? Ältester in einer Welt, in der Traditionen scheinbar »out« sind und sich das Wissen alle paar Monate verdoppelt? Nein, meint die Psychotherapeutin Irmtraut Schäfer: »Es geht darum, sie neu zu entdecken: Was ist eigentlich diese Rolle, die sicher anders aussehen wird und muss als die Rolle der Ältesten in Stammesgesellschaften? Wir haben einen völlig anderen Bewusstseinsstand und sind in unserer Entwicklung woanders. Und das ist natürlich auch der Reiz dieser Rolle, auszuprobieren: Ja, was heißt bei uns nun ›Älteste‹ sein?!«
Vom Leisten zum Sein
Im Alter verschieben sich die Werte, sie gehen vom »Leisten« zum »Sein«. Doch im Mittelpunkt dieses Wachstums ins Ältestensein steht die Selbsterkenntnis, sagt Micheline Rampe, Autorin des Buches »Alter als Herausforderung«: »Und in diesem Reifeprozess, in dieser Bewusstwerdung liegt unglaublich viel Potenzial. Ich glaube, dass die Natur uns das Alter schenkt, damit wir uns in gewisser Weise vervollkommnen, damit wir die werden, die wir sind. Damit wir uns erkennen und begreifen und immer mehr uns gemäß werden. Und das weiterzugeben ist eine ganz kraftvolle Geschichte, die gesucht und angenommen wird.«
»Im Mittelpunkt dieses Wachstums ins Ältestensein steht die Selbsterkenntnis.«
Da scheint es durch, das neue Bild eines Ältesten, der aus seinem authentischen Wesen heraus Erfahrungswissen weitergeben kann. Micheline Rampe hat daraus sieben mögliche Rollen für einen zeitgenössischen Ältesten entwickelt, die alle Eigenschaften beschreiben, die uns in der Leistungsgesellschaft meist fehlen: den Visionär, den Netzwerker, den Querdenker, den Mentor, den Künstler, den Unterstützer und den verbindenden Kommunikator. Es gibt auch jene, die ganz im Sinne uralter Traditionen die Jüngeren durch die Umbrüche der Biografie begleiten, weil sie aus Erfahrung wissen, worum es geht, wenn man auf dem unsicheren Weg in die eigene Kraft ist.
Der Archetyp des Ältesten
Werden sie also wiederentdeckt, die Ältesten? C. G. Jung sprach vom »Archetyp des Ältesten«. Heidegger umschrieb dieses uralte Bild als den »Hüter des Seins«. Die Institution des »Ältesten« mag der Vergangenheit angehören, der Archetyp aber wirkt wie ein kollektives Muster in unserer Psyche weiter, sagt der knapp 80-jährige Psychotherapeut Wernher Sachon: »Es ist im Moment so, dass es die soziale Position ›Der Älteste‹, nicht mehr gibt, von so ein paar Randerscheinungen abgesehen. Wovon wir wirklich reden sollten, ist der Archetyp des Ältesten. Und es geht entscheidend darum, diese archetypische Struktur wiederzubeleben. Die Frage ist dann natürlich: Wie komme ich in Kontakt mit diesem Archetyp? Der Punkt ist, mit dieser Figur in Kontakt zu kommen und dann von daher ganz persönlich für sich die Qualitäten herauszufinden, die da drin stecken. Wir dürfen nie vergessen, die Qualität dessen, was mit ›Ältester‹ gemeint ist, hat nichts zu tun mit mir als Person. Das ist ein Archetyp und bin nicht ich als Mensch. Und wenn das klar ist, dann kann dieser Archetyp des Ältesten an ganz vielen Stellen wirklich gute Dienste leisten.«
Der Archetyp also ist zeitlos. Er scheint wie eingeprägt in die Kulturen der Welt und mag sogar bei Mensch und Tier gleichermaßen wirken. Also gilt es, ihn immer wieder neu zu füllen, wenn wir seinen Ruf hören, egal in welchem Alter wir uns befinden. Alte brauchen Jüngere, um für sie Älteste zu werden. Junge brauchen Älteste, um zu werden, was sie sind und nicht wie die afrikanischen Elefanten ihre Kraft zu verpulvern.
Deshalb liegt im vielfach beschworenen Gespenst der alternden Gesellschaft auch eine Chance: Wird die verlängerte Lebenszeit als Entwicklungsaufgabe begriffen und für persönliche Reifung genutzt, dann könnten wir in zwei Jahrzehnten mit vielen Ältesten und gereiften Werten rechnen. Nicht ohne Reiz, sich vorzustellen, wie eine solche Mehrheit dann die Welt verändern könnte. Damit es so weit kommen kann, sollten sich die Alten heute schon mal auf den Weg machen.