Rebellion und Fürsorge
Bart Weetjens’ Suche nach der Harmonie zwischen den Gegensätzen
April 17, 2025
Wir hören die Dinge nicht, wie sie sind. Sondern so, wie wir sind. Das liegt an eingebauten Filtern und Modulatoren, an Mechanismen des Über- und Weghörens, die alle Menschen betreffen. Viele dieser Wahrnehmungsverzerrungen haben ihren Ursprung in Prägungen der Kindheit: Wo mussten wir uns taub stellen, um die Angriffe auf unsere kindliche Seele ertragen zu können? Wo haben wir uns innerlich die Ohren zugehalten, um an Abwertung oder Mobbing nicht zu verzweifeln? Für dieses Set früh entwickelter Überlebenstechniken gibt es Begriffe wie Konditionierung oder Inneres Kind. Der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen nennt es Tiefengeschichte.
Wir hören die Dinge nicht, wie sie sind. Sondern so, wie wir sind. Das liegt an eingebauten Filtern und Modulatoren, an Mechanismen des Über- und Weghörens, die alle Menschen betreffen. Viele dieser Wahrnehmungsverzerrungen haben ihren Ursprung in Prägungen der Kindheit: Wo mussten wir uns taub stellen, um die Angriffe auf unsere kindliche Seele ertragen zu können? Wo haben wir uns innerlich die Ohren zugehalten, um an Abwertung oder Mobbing nicht zu verzweifeln? Für dieses Set früh entwickelter Überlebenstechniken gibt es Begriffe wie Konditionierung oder Inneres Kind. Der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen nennt es Tiefengeschichte.
Viele Wissenschaftler verschanzen sich hinter akademischer Gelehrsamkeit, analysieren alle anderen, nur sich selbst nicht. Nicht so Pörksen. Er offenbart seine eigene Tiefengeschichte, indem er schildert, warum auch er nicht zuhörte, als ehemalige Schüler*innen der reformpädagogischen Odenwaldschule von pädokriminellen Machenschaften und seelischen Grausamkeiten berichteten.
Bei ihm waren es unverarbeitete Erfahrungen mit sadistischen Lehrern in der Kindheit, die ihn nicht zuhören ließen. Pörksen untersucht am Beispiel dieser in linken Kreisen gehypten Schule, wie Verdrängungssysteme funktionieren. Die gefeierten Reformpädagogen als gewalttätige Pädophile? Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die Reaktionen reichten von Abwiegelung (gab es bei den antiken Philosophen keine Knabenliebe?), Schuldumkehr (haben die Schüler den Lehrer verführt?) bis zur Verunglimpfung der Opfer (alles nur Rache für schlechte Noten).
Dem Autor geht es um gesellschaftliche Kommunikation – gelingende, misslingende. Warum wurden amerikanische Kriegsverbrechen im Irak überhört? Hinweise auf Manipulation von Abgaswerten bei VW? Weltweite Ausspähungen durch den Geheimdienst NSA? In allen Fällen gab es Wortmeldungen und Warnungen, die jedoch in der allgemeinen Kommunikationskakophonie untergingen. Oder von interessierter Seite zum Schweigen gebracht wurden. Indem der Autor exemplarisch Geschichten akribisch recherchiert und analytisch seziert, nähert er sich den Dingen journalistisch und als fesselnder Erzähler, um dann als Philosoph und Medienkritiker die Metaebene zu betreten und »die Kunst, sich der Welt zu öffnen« zu beschreiben.
»Die Fähigkeit zuzuhören wird in der Aufmerksamkeitsökonomie zur knappsten Ressource.«
Nie zuvor waren so viele Informationen zugänglich, nie zuvor konnten so viele Menschen – statt passive Medienkonsumenten zu sein – selbst publizieren und posten. Gleichzeitig aber wird die Fähigkeit zuzuhören zur knappsten Ressource in der Aufmerksamkeitsökonomie. Millionen Sender, Milliarden Botschaften, zu wenig Zuhörer. Wer dringt noch in die globalen Gehörgänge? Skandalisierer, Populisten und digitale Oligarchen wie Elon Musk, die ihre Medienmacht zur Massenmanipulation nutzen.
Auch auf individueller Ebene gibt es kognitive Irrtümer, die wirkliches Zuhören verhindern. Der vielleicht wirkungsvollste ist der wissenschaftlich gut erforschte Confirmation Bias: Weil das Gehirn nach Kohärenz strebt, nehmen wir bereitwillig Informationen auf, die unser bisheriges Weltbild bestätigen. Und verdrängen Nachrichten, die uns widersprechen; notfalls werden sie so umgedeutet, dass sie wieder passen. Pörksen nennt den Homo sapiens ein bestätigungssüchtiges Wesen. Er bleibt aber nicht bei der Analyse der Hindernisse stehen, sondern denkt und fragt konstruktiv weiter: Was können wir tun, um die Bestätigungssucht zu unterlaufen? Wie kann gesellschaftlicher Dialog und politische Kommunikation trotz aller systemischen Hindernisse gelingen?
Pörksen widersteht der Versuchung, allgemeingültige Rezepte zu geben. Aber er benennt kommunikative Haltungen, die förderlich wären: »Sich dem anderen erst einmal zuzuwenden, fasziniert von seiner unvermeidlichen Fremdheit, voller Neugier und Vorfreude auf das, was sich zeigen und im Gespräch offenbaren könnte.« In der politischen Arena mit ihren vorgefertigten Statements und dem allgegenwärtigen Machtwillen, so meint Pörksen am Ende des Buches fast resignativ, sei wirkliches Zuhören kaum möglich.
Aber vielleicht können Politiker*innen den Menschen dennoch zuhören: in persönlichen Gesprächen, im Blickkontakt auf Augenhöhe, ohne beobachtende Kameras. Demokratischer Dialog im Kleinen. Um (frei nach Rudolf Augstein) »zu hören, was ist«.