Gutes Leben in einer krisenhaften Zeit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 7, 2025

Featuring:
Bernhard Possert
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Issue:
47
|
July 2025
Interbeing
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Wege zur Verbindung

Als Organisationsberater stellt Bernhard Possert persönliche und gemeinschaftliche Veränderungsprozesse in den größeren Kontext kollektiver Zukunftsfragen. Wie kann solch ein umfassender Blick unser Leben und unsere Beziehungen verändern?

evolve: Bernhard, du hast ein Modell entwickelt, das du »Das Neue Gute Leben« nennst. Worum geht es dabei?

Bernhard Possert: Ich habe vor einigen Jahren begonnen, mich als Organisationsberater mit größeren Zukunftsfragen zu beschäftigen. Was als Suche nach Antworten auf wirtschaftliche Krisen begann, führte mich dazu, »7+1 globale Schatten« zusammenzustellen: planetare Grenzen, ungeklärte Energie- und Ressourcenfragen, fragile Finanzmärkte, Wertedivergenz, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, das Ende der globalisierten Ordnung und Demografie. »+1« steht für all das, was sich nicht so leicht einordnen lässt: psychische Folgen von Pandemien, Atomkriege, kollektive Traumata.

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Wege zur Verbindung

Als Organisationsberater stellt Bernhard Possert persönliche und gemeinschaftliche Veränderungsprozesse in den größeren Kontext kollektiver Zukunftsfragen. Wie kann solch ein umfassender Blick unser Leben und unsere Beziehungen verändern?

evolve: Bernhard, du hast ein Modell entwickelt, das du »Das Neue Gute Leben« nennst. Worum geht es dabei?

Bernhard Possert: Ich habe vor einigen Jahren begonnen, mich als Organisationsberater mit größeren Zukunftsfragen zu beschäftigen. Was als Suche nach Antworten auf wirtschaftliche Krisen begann, führte mich dazu, »7+1 globale Schatten« zusammenzustellen: planetare Grenzen, ungeklärte Energie- und Ressourcenfragen, fragile Finanzmärkte, Wertedivergenz, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, das Ende der globalisierten Ordnung und Demografie. »+1« steht für all das, was sich nicht so leicht einordnen lässt: psychische Folgen von Pandemien, Atomkriege, kollektive Traumata.

e: Du sprichst von globalen Schatten. Wie bist du von dieser Diagnose zu einer positiven Vision gekommen?

BP: Nach zwei Jahren intensiver Auseinandersetzung mit diesen Furchtbarkeiten sagten mir viele, das täte mir nicht gut. Ich habe das selbst gemerkt, manche nennen es Klimadepression, ich nannte es meine »Europadepression«. Daraus entstand die Überzeugung: Wir brauchen eine neue positive Erzählung. Eine, die zeigt, dass ein gutes Leben möglich ist – nicht über mehr Konsum, mehr Quadratmeter oder weniger Arbeitszeit, sondern über innere Qualitäten. Das ist keine neue Idee; die Stoiker und andere haben das seit Jahrhunderten vertreten. Aber ich wollte das in unsere Zeit und unsere Realität übersetzen. Daraus ist die Formel vom »Neuen Guten Leben« entstanden. Der Kern davon ist: Auch wenn sich Dinge ändern, kann und wird es weiterhin ein gutes Leben geben, wenn wir selbst uns auf die Suche machen, was dieses gute Leben ausmacht. Was ist dann unser Beitrag,nicht nur für das Kollektiv, sondern auch im eigenen Bereich? Wie kann ich für mich persönlich, für meine Familie, für meine Organisation und für das Feld, in dem ich tätig bin, wie kann ich da gemeinsam schauen, was das gute Leben ausmacht, und wie können wir es gestalten?

e: Und was ist daraus entstanden – wie sieht deine Antwort auf diese Zukunftsfragen konkret aus?

BP: Ich habe mich mit Spiral Dynamics, einem Modell über die Entwicklung von kollektiven Weltanschauungen, das von Don Beck auf der Basis der Arbeit von Clare W. Graves entwickelt wurde, und anderen insbesondere kognitiven, sozial-emotionalen und spirituellen Entwicklungsmodellen beschäftigt, aber diese stufenbasierten Logiken stoßen schnell an Grenzen. Sie erzeugen oft Missverständnisse und Abwehr. Ich wollte besonders, dass die benannten Qualitäten zu Energiequellen und Orientierungspunkten werden. Also habe ich die vertikalen Ebenen horizontal gelegt und daraus neun Elemente geformt: Erde, Luft, Metall, Baum, Stein, Feuer, Wasser, Kristall und Lotus. Sie sind nicht an klassische Elementlehren angelehnt, aber in Farben und Bedeutung den Spiral-Dynamics-Logiken angenähert. Alle diese Elemente leisten einen Beitrag zum neuen guten Leben, bringen eine Qualität und eine Botschaft mit. Zum Beispiel steht Erde für die Botschaft: »Wir sind Natur, wir werden Natur und werden Natur sein«. Der Baum steht für das Erleben unseres kollektiven Wir. Wasser für Beweglichkeit. Metall für gesunde Kraft. Ich nenne das gern eine Art »Kochmetapher«: Wir brauchen Salz, aber nicht zu viel. Wir brauchen die Elemente in gesundem Verhältnis.

»Wir brauchen eine neue positive Erzählung.«

e: Diese neun Elemente – wie genau arbeitest du damit in deinem Alltag als Berater?

BP: Meistens sehr unauffällig. Ich halte keine Vorträge mit »Achtung, hier kommt das Neue Gute Leben«, sondern lasse mich im Hintergrund davon informieren. Wenn ich mit Multiplikatoren arbeite, mache ich die Modelle sichtbarer. Aber oft arbeite ich einfach mit Methoden, mit denen ich mich auf die Elemente beziehen kann, wie dem Wertequadrat von Friedemann Schulz von Thun oder dem Tetralemma aus der systemischen Strukturaufstellung von Insa Sparrer und Mathias Varga von Kibéd.

Ich habe lange gebraucht, um meine Versuchung zu überwinden, immer der Schlaueste im Raum sein zu wollen. Ich erkläre nicht mehr jedes Modell in Gänze. Damit bin ich hilfreicher geworden. Es ist für mich ein Lernprozess, mich nicht über mein Wissen zu definieren, sondern durch das, was wirklich hilft. Mein eigenes Ego zurückzustellen, ohne mich zu verleugnen. Das braucht Mut und Verbundenheit.

e: Du sprichst oft von Verbundensein und Verbindung. Kannst du das genauer erklären?

BP: Ich arbeite mit dem Konzept der vierfachen Verbindung. Erstens: Verbindung mit mir selbst und meinem Körper. Das war für mich lange Fremdland. Zweitens: Verbindung mit anderen, basal und alltäglich. Drittens: Verbindung mit der Natur – auch mit den unangenehmen Seiten wie Sterblichkeit. Und viertens: Verbindung mit dem Größeren, wie immer wir das nennen. Wenn wir nur aus unserer kleinen Batterie heraus auf die großen Pro­bleme reagieren, brennen wir aus. Deshalb brauchen wir Verbindung zur »himmlischen Starkstromleitung«. Und wenn eine dieser Verbindungen fehlt, landen wir in Überforderung. Aber jede kann eine Eingangstür für die anderen sein.

e: Und was ist deine Verbindung mit dem Thema? Deine persönliche Motivation?

BP: Ich glaube, manche Menschen haben diesen inneren Drang, eigene Modelle zu entwickeln. Die Gefahr besteht dann, sich zu sehr mit der »Speisekarte« zu beschäftigen, statt mit dem Kochen. Oder überheblich zu werden gegenüber Menschen, die diese Landkarten nicht kennen. Oder sich selbst zu überfordern.

Ein Schlüsselmoment war, als unser jüngster Sohn vor zehn Jahren fast gestorben wäre. Ich erinnere mich, wie ich ihn mit einer Hand festhalten wollte und mit der anderen losgelassen habe. Beide Bewegungen waren gleichzeitig wahr. Diese Erfahrung hat mich Demut gelehrt. Und sie hat mich gelehrt, dass nicht alles »aufgehen« muss. Auch mein Modell nicht.

Ähnlich ist es mit meinem Verständnis vom Neuen Guten Leben: Mit einer Hand will ich, dass es wirkt. Mit der anderen lasse ich los. Ich entwickle Spiele, Lehrgänge, Unterlagen. Aber wenn es nie fliegt, ist das auch gut. Wie ein Nussbaum, der Nüsse bildet – ob die zu Bäumen werden oder verrotten, ist nicht das Entscheidende. Ich entwickle einfach.

e: Was hast du aus dieser Arbeit gelernt, was du noch mitteilen möchtest?

BP: Ich glaube, wir brauchen nicht immer die größte Metatheorie. Wir brauchen »Dolmetschfähigkeit«. Die Fähigkeit, mit dem zu kochen, was im Kühlschrank ist. Ich hoffe, ich bin wie der verwandlungsfähige, freundliche Barbapapa aus der alten französischen Kinderserie: anpassungsfähig, unaufdringlich, hilfreich. Ich will Systeme nicht von mir abhängig machen, sondern möglichst leise wirken.

Und noch etwas: Ich glaube, wir SIND Natur. Nicht getrennt davon. Das ist keine romantische Idee, sondern eine Realität. Ich bin ein Tier unter Tieren, mit Mundgeruch und Sterblichkeit. Und gleichzeitig trage ich Geist und Bewusstsein in mir. Beides zu integrieren – das ist für mich ein Weg zu innerem Frieden.

Author:
Kaa Faensen
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