Das Gefühl, lebendig zu sein

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Buch/Filmbesprechung
Published On:

April 17, 2025

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Ausgabe 46 / 2025
|
April 2025
Die Wiederentdeckung des Lebens
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Eine Rezension des Buches »Verkörperte Gefühle« von Thomas Fuchs

Leben erforschen, indem man es leblos macht? Klingt paradox, war aber lange Zeit das wissenschaftliche Paradigma. Basierend auf einem mechanistischen Weltbild zerteilte man die Elemente des Lebendigen, zertrennte und zerschnitt. Der Gedanke dahinter: Wenn wir die Erscheinungsformen des Lebens wie Objekte betrachten, getrennt von der Person der Forschenden, dann entsteht objektive, wahre Erkenntnis. Ein Konzept, das mittlerweile vielfach widerlegt wurde und selbst in der Physik gescheitert ist, wie die Abhängigkeit des Quantenverhaltens vom Beobachtenden zeigt. Dennoch halten sich hartnäckig Denkmuster, die Körper, Geist, Gefühl und Handeln als separate Akteure verstehen wollen. Hier die menschliche Physiologie, dort das irgendwie (aber wie?) entstehende Bewusstsein.

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Eine Rezension des Buches »Verkörperte Gefühle« von Thomas Fuchs

Leben erforschen, indem man es leblos macht? Klingt paradox, war aber lange Zeit das wissenschaftliche Paradigma. Basierend auf einem mechanistischen Weltbild zerteilte man die Elemente des Lebendigen, zertrennte und zerschnitt. Der Gedanke dahinter: Wenn wir die Erscheinungsformen des Lebens wie Objekte betrachten, getrennt von der Person der Forschenden, dann entsteht objektive, wahre Erkenntnis. Ein Konzept, das mittlerweile vielfach widerlegt wurde und selbst in der Physik gescheitert ist, wie die Abhängigkeit des Quantenverhaltens vom Beobachtenden zeigt. Dennoch halten sich hartnäckig Denkmuster, die Körper, Geist, Gefühl und Handeln als separate Akteure verstehen wollen. Hier die menschliche Physiologie, dort das irgendwie (aber wie?) entstehende Bewusstsein.

Mit diesem spalterischen Denken räumt das Buch »Verkörperte Gefühle« des Philosophen, Psychologen und Psychotherapeuten Thomas Fuchs auf. Der Inhaber des Karl-­Jaspers-Lehrstuhls an der Universität Heidelberg fordert: »Um Lebendes zu erforschen, muss man am Leben teilnehmen.« Sein ganzheitliches Verständnis von Lebendigkeit basiert auf dem Begriff des Leibes. Der klingt altmodisch, ist aber zentral für die von Fuchs vertretene philosophische Richtung der Phänomenologie. Er unterscheidet ihn vom Körper. Den kann man als ein Objekt betrachten, der aus Materie besteht; es ist der Körper, den wir zum Arzt bringen, wenn wir uns krank fühlen. Unter Leib versteht Fuchs dagegen, wie wir unser In-der-Welt-Sein empfinden, wie wir emotional angesprochen werden und emotional darauf reagieren. Er schreibt: »Der Leib ist buchstäblich der ›Resonanzkörper‹ der Gefühle.«

Das Gefühl, lebendig zu sein, geht allen Gefühlen und Gedanken voraus. Gerade weil es sich so normal anfühlt und immer im Hintergrund präsent ist, ist es schwer zu beschreiben. Fuchs nennt diese grundlegende Schicht des Erlebens Befinden. Es wird getönt von Behagen oder Unbehagen, Enge oder Weite, Frische oder Müdigkeit. Mit dem Hinweis auf Resonanz wird klar: Befinden ist nicht auf eine Innenwelt begrenzt, sozusagen keine Privatangelegenheit. Vielmehr ist es reflexiv mit der Um-Welt verbunden, nimmt Eindrücke auf und übersetzt die Antworten in Ausdrücke: Gefühle, Gesten, Blicke, Körperhaltungen. »Alles ist mit allem verbunden«: Was wie ein abgedroschener Kalenderspruch klingt, füllt Fuchs mit Bezügen zur Psychologie, Kognitionswissenschaft und Hirnforschung. Seine eigenen Erfahrungen als Psychotherapeut und Meditierender zeichnen ihn als einen der wenigen Wissenschaftler aus, die tatsächlich erleben, was sie erforschen.

Mit »Interaffektivität« bezeichnet er einen Kreislauf emotionaler Reaktionen zwischen Menschen. In diesem zwischenleiblichen Dialog zeigt sich auch unsere Allverbundenheit. Sie wird allerdings nur im Zustand der Gegenwärtigkeit spürbar. Man stelle sich das Ich als Haus vor. Wenn niemand zuhause ist, wenn wir also in Gedanken ganz woanders sind als in diesem Moment, kann uns niemand besuchen. Wenn Begegnung gelingen soll, die nach dem Religionsphilosophen Martin Buber das »wirkliche Leben« ist, dann ist Präsenz unabdingbar. Das Gegenteil, die Vergegnung, ist im Alltag leider fast die Regel. Die Postmoderne verführt zur Abwesenheit, weil ihre technischen Möglichkeiten mit Allgegenwart werben. Hinter der unaufhörlichen Beschleunigung von Produktion und Konsum, von physischer Mobilität und Online-Kommunikation, von weniger Face-to-Face und mehr Metaverse steht das Versprechen, unbegrenzt Leben in begrenzte Lebenszeit zu pressen. Was natürlich scheitert.

Ein interessantes Beispiel, wie der Körper manipuliert und leibliches Spüren verhindert wird, sind Botox-Behandlungen. Um mimische Falten zu glätten, werden Gesichtsmuskeln gelähmt. Mit unerwartetem Effekt: Normalerweise reagieren wir auf das Lächeln eines Menschen mit einem Lächeln, und unsere Mimik signalisiert dem Gehirn Gefühle wie Freude oder Freundlichkeit. Doch das starre Gesicht kann nicht lächeln, die Kette der sozialen Ansteckung ist unterbrochen, die Resonanz verstummt.

Für die Entstehung von Empathie ist die zwischenleibliche Resonanz von zentraler Bedeutung. Die Entwicklungspsychologie konnte immer besser nachweisen, dass bereits Säuglinge lernen, den Gesichtsausdruck der Mutter zu lesen und darauf zu reagieren. So entsteht ein intuitives Verstehen von Gefühlen und eine intuitive Reaktion darauf. Lächeln lässt lächeln. In späteren Entwicklungsphasen erwerben wir weitergehende Fähigkeiten: Wir können uns nicht nur in andere hineinversetzen, sondern auch Vermutungen anstellen, warum sie sich so fühlen, wie sie sich fühlen. Auf einer weiteren Stufe ist es möglich, sich von anderen als empathisch wahrgenommen zu erleben: Du fühlst, wie ich mich fühle.

Empathie – eine zivilisatorische Höchstleistung? Fuchs beleuchtet auch ihre dunkle Seite. Sie zeigt sich, wenn Empathie und Mitgefühl auf die eigene Gruppe beschränkt bleiben und »den Anderen« verweigert werden. Wir gegen Nicht-wir. Diese Anderen werden entmenschlicht, dämonisiert, als Bedrohung imaginiert. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, wie Gruppendynamik und Massenhysterie, geschürt durch Befehlsgehorsam, dazu führen, dass sich Menschen ihre Empathie komplett abspalten. Der britische Historiker Christopher Browning hat den Fall eines deutschen Reserve-Polizeibataillons im Zweiten Weltkrieg eindrücklich beschrieben. »Ganz normale Männer« – so der Titel des Buches – wurden innerhalb kurzer Zeit von zögerlichen zu routinierten und schließlich übereifrigen Massenmördern. Und das, obwohl ihnen der Kommandant die Teilnahme an den Judenerschießungen ohne Strafandrohung freigestellt hatte. Als sie in britischen Internierungslagern verhört wurden, gaben die meisten als Grund für ihr Mitmachen bei den Massakern an: »Ich wollte meine Kameraden nicht bei der Drecksarbeit im Stich lassen.« Die Schattenseite des sozialen Wesens Homo sapiens (und der Doppelcharakter der Interaffektivität) zeigt sich an solchen grausamen Beispielen. Menschen gehen tatsächlich über Leichen, um dazuzugehören.

Mit »Verkörperte Gefühle« weitet Thomas Fuchs den Horizont unseres Verständnisses von Lebendigkeit. Das Buch ist für Philosophie-Laien nicht immer leicht zu lesen, weil es viele Fachbegriffe aus Philosophie und Psychologie verwendet. Aber es besticht durch einen klaren Aufbau, der das Verständnis erleichtert, und durch eine leidenschaftliche Präzision, mit der Fuchs leibliche und körperliche Vorgänge analysiert, etwa in dem Buchteil über Gefühle wie Angst, Scham und Trauer – und schließlich auch Glück. Gefühle geben uns Orientierung, denn sie verbinden uns mit dem, was für uns bedeutsam und wertvoll ist. Körper und Leib sind unsere Navigatoren durchs Leben. Ein Kernsatz des Buches lautet: »Ohne Gefühle wäre die Welt ein Ort ohne Sinn.«

Author:
Michael Gleich
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