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Die Biologin Ursula Goodenough hat sich in ihren Forschungsprojekten intensiv mit der Frage beschäftigt, wie in der lebendigen Welt neue Fähigkeiten entstehen. Dieses Neuentstehen wird in der Biologie als Emergenz bezeichnet. Obwohl wir diese Prozesse erforschen können, bleibt es ein Geheimnis, was diese Emergenz bewirkt. Für Ursula Goodenough ist dieses Mysterium die Quelle einer religiösen Haltung, die sich »die Natur zu Herzen nimmt«.
evolve: Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis über das Leben?
Ursula Goodenough: Mein Verständnis von Biologie und Evolution ist tief in dem Konzept der Emergenz verwurzelt. Etwa fünf Prozent des Universums sind Materie, aus der wir bestehen und mit der wir interagieren. Materie verbindet sich zu Atomen, Atome verbinden sich zu Molekülen, und Moleküle interagieren auf eine Weise, die etwas Neues hervorbringt. Das Faszinierende an der Emergenz ist, dass sich diese Komponenten, wenn sie miteinander interagieren, gegenseitig beeinflussen und Beziehungen bilden, die neue Eigenschaften und Möglichkeiten schaffen.
Das ist nicht auf die Biologie beschränkt, sondern lässt sich auch in unbelebten Systemen beobachten. Wirbel in einem Strom sind beispielsweise strukturierte Muster im fließenden Wasser, die durch die Beschränkungen der Strömung entstehen. Das Leben hat sich dieses Prinzip der Interaktion zu eigen gemacht und es auf ein außergewöhnliches Niveau gehoben. Die Geschichte des Lebens ist eine Geschichte von Molekülen, die ihre Wechselwirkungen untereinander optimieren, so dass sie funktionale, sich selbst erhaltende Einheiten bilden.
Lebende Organismen sind nicht nur zufällige Ansammlungen von Molekülen. Sie entstehen durch tiefgreifende Wechselwirkungen – Proteinfaltungen folgen präzisen Strukturmustern, um bestimmte Funktionen zu erfüllen, Enzyme katalysieren chemische Reaktionen, die das Leben erhalten, und genetische Anweisungen steuern die Entwicklung komplexer Lebewesen. Was wir als ein Selbst – einen Organismus – erkennen, ist das Ergebnis solcher komplizierten, wechselseitigen Beeinflussungen, die das Leben zusammenhalten.
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Die Biologin Ursula Goodenough hat sich in ihren Forschungsprojekten intensiv mit der Frage beschäftigt, wie in der lebendigen Welt neue Fähigkeiten entstehen. Dieses Neuentstehen wird in der Biologie als Emergenz bezeichnet. Obwohl wir diese Prozesse erforschen können, bleibt es ein Geheimnis, was diese Emergenz bewirkt. Für Ursula Goodenough ist dieses Mysterium die Quelle einer religiösen Haltung, die sich »die Natur zu Herzen nimmt«.
evolve: Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis über das Leben?
Ursula Goodenough: Mein Verständnis von Biologie und Evolution ist tief in dem Konzept der Emergenz verwurzelt. Etwa fünf Prozent des Universums sind Materie, aus der wir bestehen und mit der wir interagieren. Materie verbindet sich zu Atomen, Atome verbinden sich zu Molekülen, und Moleküle interagieren auf eine Weise, die etwas Neues hervorbringt. Das Faszinierende an der Emergenz ist, dass sich diese Komponenten, wenn sie miteinander interagieren, gegenseitig beeinflussen und Beziehungen bilden, die neue Eigenschaften und Möglichkeiten schaffen.
Das ist nicht auf die Biologie beschränkt, sondern lässt sich auch in unbelebten Systemen beobachten. Wirbel in einem Strom sind beispielsweise strukturierte Muster im fließenden Wasser, die durch die Beschränkungen der Strömung entstehen. Das Leben hat sich dieses Prinzip der Interaktion zu eigen gemacht und es auf ein außergewöhnliches Niveau gehoben. Die Geschichte des Lebens ist eine Geschichte von Molekülen, die ihre Wechselwirkungen untereinander optimieren, so dass sie funktionale, sich selbst erhaltende Einheiten bilden.
Lebende Organismen sind nicht nur zufällige Ansammlungen von Molekülen. Sie entstehen durch tiefgreifende Wechselwirkungen – Proteinfaltungen folgen präzisen Strukturmustern, um bestimmte Funktionen zu erfüllen, Enzyme katalysieren chemische Reaktionen, die das Leben erhalten, und genetische Anweisungen steuern die Entwicklung komplexer Lebewesen. Was wir als ein Selbst – einen Organismus – erkennen, ist das Ergebnis solcher komplizierten, wechselseitigen Beeinflussungen, die das Leben zusammenhalten.
Die Entfaltung des Lebens
e: In Ihrem Buch sprechen Sie von der »Selbstwerdung« des Lebens. Was meinen Sie damit?
UG: Die erste Lebensform brauchte nur eines: sich selbst zu erhalten. Sie musste die Grenzbedingungen schaffen, innerhalb derer chemische Prozesse ablaufen konnten. Doch sobald sich die Umwelt veränderte – Temperaturschwankungen, Sauerstoffgehalt, Konkurrenz – entstanden neue Anpassungen, und das Leben wurde immer komplexer.
»Lebende Organismen sind nicht nur zufällige Ansammlungen von Molekülen.«
Ein Tier braucht zunächst Proteine, die Enzyme bilden und es dem Tier ermöglichen, sich selbst zu erhalten. Aber an der Basis von allem sind es Atome, bis hin zu den Anfängen. Ich gehe nicht weiter als bis zum Atom, aber ausgehend von den Atomen sind die Tiefen, die ich in der Wissenschaft zu erforschen versuche, die Tiefen, die wir erkennen, wenn wir uns Proteine, Zellen und Membranen ansehen. Wenn man an die frühe Zellbildung und dann an die modernen prokaryotischen und eukaryotischen Zellen denkt, woher kommt dann diese Ordnung? Sie entsteht aus dem, was funktioniert.
Die allererste Lebensform kann extrem einfach sein, sie muss nur Grenzbedingungen schaffen, die es ermöglichen, den Lebensprozess fortzusetzen. Man nimmt an, dass sich die Bausteine dafür in der Tiefsee und im interstellaren Staub gebildet haben. Es handelt sich um kleine Moleküle, aus denen größere entstehen können. Wenn man bedenkt, dass das allererste Leben im Vergleich dazu extrem einfach ist, erscheint eine Prokaryote ziemlich komplex. Ich betrachte dieses sehr einfache erste Wesen als ein Selbst. Es schützt und erhält sich selbst. Dann entwickelt sich das Selbst weiter.
Das Entscheidende ist, dass wir eine sehr vielfältige Umwelt haben – den unbelebten Teil unseres Planeten. Es ist heiß, kalt, nass und trocken. Wäre dies ein Planet, auf dem es genau nur eine Art von Umwelt gäbe, wäre der Planet zum Beispiel mit Eis bedeckt, würde sich jeder Organismus an diese eine Situation anpassen. Es gäbe vielleicht mehrere Versionen davon, aber er würde sich nicht zu etwas anderem entwickeln, weil er sich der Umgebung anpasst.
Glücklicherweise haben wir einen vielseitigen Planeten mit Vulkanen, Plattentektonik und einer Atmosphäre. Dieser Planet ist in seinen Ökosystemen sehr vielfältig. Wenn sich die entstehenden Organismen in einem stabilen Ökosystem befinden, gedeihen sie in dieser Situation. Wenn sich das Ökosystem verändert, entwickeln sich einige Organismen vielleicht weiter, weil sie sich an die neue Lebensweise anpassen können, während andere wiederum die Veränderung als toxisch erfahren und sterben. Im Sinne Darwins können diejenigen, die sich anpassen, ihre Gene in künftigen Populationen weiter verbreiten.
Emergenz ist überall
e: Wie wirkt die Emergenz in diesen Prozessen der Selbstwerdung?
UG: Bei der Emergenz geht es um Beziehungen, bei denen sich alle Komponenten gegenseitig beeinflussen. Proteine sind ein hervorragendes Beispiel dafür – sie falten sich zu komplexen Strukturen, die katalytische Taschen bilden, wodurch sie biochemische Reaktionen ermöglichen. DNA-Replikation, Zellteilung und sogar das Bewusstsein selbst sind Ergebnisse emergenter Prozesse.
Ein gutes Beispiel aus der unbelebten Welt ist das Wasser. Einzelne Wassermoleküle verhalten sich je nach ihrer Umgebung unterschiedlich. Wenn sie abkühlen, kristallisieren sie in einer bestimmten Gitterstruktur – und das Ergebnis ist Eis. Die neue Eigenschaft von Eis ist, dass es schwimmt, was für das Leben auf der Erde entscheidend ist. Nichts an einem einzelnen Wassermolekül deutet darauf hin, dass es eines Tages Teil einer Schneeflocke sein wird.
e: Gibt es Beispiele für Emergenz, die Sie besonders beeindruckt oder sogar schockiert haben?
UG: Das gesamte Leben ist ein Beispiel für Emergenz. Jeder biochemische Prozess, jeder Rezeptor, der die Umwelt wahrnimmt, jedes Neuron, das im Gehirn aktiviert wird, jede Zellverbindung, die einen Embryo bildet – all das sind bemerkenswerte emergente Phänomene.
Nehmen wir die Embryonalentwicklung: Eine einzelne befruchtete Eizelle teilt sich, differenziert sich und entwickelt sich zu einem Organismus. Woher weiß sie, wie sie das tun soll? Es gibt keine zentrale Kontrollinstanz, die jeden Schritt steuert. Stattdessen steuert die Emergenz den Prozess – die Zellen kommunizieren, passen sich an und gestalten ihre eigene Zukunft als Reaktion auf ihre Umgebung.
Nur Zufall?
e: Was treibt diesen Prozess der Emergenz an?
UG: Es ist einfach die Art und Weise, wie das Universum strukturiert ist. Die Materie organisiert sich selbst, und wenn die richtigen Bedingungen gegeben sind, entstehen neue Eigenschaften. Das Universum hatte keine andere Wahl, als aus Wasserstoff Kohlenstoff zu erzeugen, denn das ist es, was Wasserstoff tut, wenn er lange genug im Zentrum eines Sterns verbrannt wird. Das Prinzip der Selbstorganisation, vom Urknall bis heute, ist die Grundlage für die Existenz von Komplexität.
e: Und das ist kein Zufall?
UG: Nein, zumindest nicht in dem Sinne, dass diese Selbstorganisation chaotisch verläuft. Leben ist kein Zufall – es ist ein natürliches Ergebnis der Art und Weise, wie sich physikalische und chemische Wechselwirkungen im Laufe der Zeit entfalten. Manche Menschen sehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist alles rein zufällig oder es gibt einen intelligenten Designer, der alles geplant hat. Aber ich glaube, es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Es gibt eine alternative Erzählung zwischen ›blindem Zufall‹ und ›göttlicher Absicht‹ – eine Erzählung, die sich auf die Naturgesetze stützt. Die grundlegende Frage bleibt: Woher kommen die Naturgesetze? Warum gibt es etwas und nicht nichts?
Vom Urknall an haben wir eine ziemlich gute Vorstellung darüber entwickelt, was geschehen ist: die Ereignisse der Nukleosynthese (die Entstehung von chemischen Elementen), die Naturgesetze und die Funktionsweise der Schwerkraft. Aber warum das alles überhaupt passiert ist, bleibt ein Geheimnis. Jedes Attribut, das ich dem Geheimnis zuschreiben könnte, würde es definieren. Aber ein Mysterium ist per Definition undefinierbar. Eine angemessene Bescheidenheit gebietet es uns, von den Ursprüngen des Universums als Geheimnis zu sprechen. Denn wir wissen es nicht.
»Die Tatsache, dass es all dieses Leben auf diesem wunderschönen Planeten gibt, ist mir heilig.«
Das Geheimnis ist wesentlich für das Heilige. Sobald wir etwas vollständig definieren, hört es auf, ein Geheimnis zu sein. Deshalb lasse ich mich auf das Unbekannte ein, anstatt zu versuchen, es mit einfachen Antworten zu erklären. Ich staune über die Tatsache, dass es Leben gibt, die Schönheit der Natur, die Komplexität der biologischen Systeme. Die Tatsache, dass es all dieses Leben auf diesem wunderschönen Planeten gibt, ist mir heilig, die Existenz all dessen, das Wunder, die Ehrfurcht und der Respekt davor, die Demut. Und ich bin ein Teil davon. Das führt zu allen möglichen spirituellen Antworten.
Mit dem Universum im Einklang
e: Wie lautet Ihre Antwort?
UG: Eine wichtige spirituelle Antwort ist für mich die Zustimmung: »Dein Wille geschehe«. Es ist sehr wichtig, der Tatsache zuzustimmen, dass wir Tiere sind und dass wir uns entwickelt haben. Und das geschieht auf diesem Erdball inmitten des Universums. Was für ein Glück, dass ich daran teilhaben kann! Für mich bedeutet das, die Realität so zu akzeptieren, wie sie ist, und meinen Platz in der größeren Entfaltung des Universums anzunehmen. Sich mit dem Universum in Einklang zu bringen, seine Schönheit, seine Schrecken und seine Gesetze zu akzeptieren, ist eine Form der spirituellen Hingabe.
e: Sie sind eine der Begründerinnen einer religiös-naturalistischen Ausrichtung. Wie definieren Sie Spiritualität in diesem Zusammenhang?
UG: In diesem Zusammenhang sehe ich Spiritualität als eine menschliche Fähigkeit, die im traditionellen religiösen Leben zu finden ist, aber auch im Leben eines religiösen Naturalisten, der sich an der Natur orientiert. Die Reaktionen sind dieselben: Staunen, Ehrfurcht, Dankbarkeit, Zustimmung, Freude. Das sind alles innere, hochgesinnte Gemütszustände, in die wir Menschen uns wohl alle versetzen können.
Es gibt verschiedene Worte für die Geschichte des Universums, das Epos der Evolution, wie wir es zu nennen pflegten. Loyal Rue schlug vor, sie »die Geschichte von uns allen« zu nennen. Das gefällt mir, denn so sitzen wir alle im selben Boot. Für Naturalisten hat diese Geschichte eine Bedeutung, aber es geht nicht darum, an sie zu glauben. Es geht darum, wie sie ihr Leben begründet. Für den religiösen Naturalisten ist »die Geschichte von uns allen« der Ausgangspunkt für die Frage: Was ist ihr religiöses, existenzielles, moralisches und spirituelles Potenzial? Religiöse Naturalisten nehmen sich die Natur zu Herzen.
Sinn aus Dankbarkeit
e: Sie haben aus Ihrem Verständnis der natürlichen Welt eine tiefe Sinnhaftigkeit abgeleitet. Es scheint, dass viele, vor allem junge Menschen damit zu kämpfen haben, in der Kultur, die wir geschaffen haben, einen Sinn zu finden.
UG: Sie haben die Formulierung »die Kultur, die wir geschaffen haben« verwendet. Das bedeutet, dass wir per Definition etwas anderes erschaffen könnten. Was von Menschen geschaffen wird, kann rückgängig gemacht, revidiert und erweitert werden. Sinn ist eine existenzielle Orientierung. Und »die Geschichte von uns allen« bietet eine Fülle von Möglichkeiten, Sinn zu finden. Das Leben entlockt uns eine Feier der Dankbarkeit. Die Tatsache, dass man den Schenkenden eines Geschenks nicht voraussetzt, bedeutet ja nicht, dass man sich nicht über das Geschenk freuen kann. Dieses Geschenk ist mein Sinnzusammenhang, und daraus ergibt sich die Dankbarkeit. Aber man muss nicht einem Gott oder einem Schöpfer oder was auch immer dankbar sein, man kann einfach dankbar sein. Zumindest ist das mein Credo.
»DNA-Replikation, Zellteilung und sogar das Bewusstsein selbst sind Ergebnisse emergenter Prozesse.«
Unsere größte Herausforderung besteht darin, eine nachhaltige Gesellschaft aufzubauen, in der wir nicht uns gegenseitig oder den Planeten zerstören. Die Wissenschaft hat uns eine kohärente Geschichte über unser Universum geliefert – jetzt müssen wir lernen, daraus eine kohärente Ethik abzuleiten. Wir fangen gerade erst an, das volle spirituelle Potenzial dieser Perspektive zu begreifen. Aber es ist eine Geschichte, die uns alle eint. Wenn wir erst einmal eine feierliche Dankbarkeit dafür empfinden, dass es uns überhaupt gibt, eine Ehrfurcht davor haben, wie das Leben und der Planet funktionieren, und die Notwendigkeit anerkennen, dass beides weiterhin gedeihen muss, werden unsere Gespräche von Andeutungen über die heiligen Tiefen der Natur und unserer Verantwortung durchdrungen sein, das zu pflegen, was wir als heilig erfahren.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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