Das Geschenk des Interbeing

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July 7, 2025

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July 2025
Interbeing
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Im Dazwischen der Ganzheit

 

Elizabeth Debold & Thomas Steininger

 

Das Wort Interbeing deutet auf die Ganzheit des Lebens hin, in die wirimmer eingewoben sind. Wenn diese Ganzheit zwischen uns erwacht, finden wirneue Wege des Seins, Erkennens und gestalten.

 

 

Interbeing liegt in der Luft. Es ist ein Wort der Stunde, immer häufigerist es zu hören. Bekannt wurde der Begriff durch den verstorbenen, weithinverehrten buddhistischen Mönch und Lehrer Thích Nhất Hạnh, der ihn ins Bewusstsein brachte und sogar eine neue buddhistische Traditionsliniemit dieser Bezeichnung gründete: The Order of Interbeing. Thích Nhất Hạnh beschrieb Interbeing so: »Wir existieren nicht unabhängig voneinander. Wirsind miteinander verbunden. Alles ist im Kosmos auf alles andere angewiesen, umsich manifestieren zu können – egal, ob ein Stern, eine Wolke, eine Blume, einBaum oder du und ich.« Und er erklärt weiter: »Das Verb ›sein‹ istmissverständlich, denn wir können nicht nur aus uns selbst sein. ›Sein‹ istimmer ›inter-sein‹. Wenn wir die Vorsilbe ›inter‹ mit dem Verb ›sein‹kombinieren, erhalten wir ein neues Verb: ›intersein‹. Interbeing und dieHandlung des Interseins spiegeln die Wirklichkeit genauer wider. Wir sindmiteinander und mit allem Leben verbunden.«

Thích Nhất Hạnh bringt mit dem Interbeing eine unmittelbare, frische Perspektive in dieklassischen buddhistischen Lehren. Er bezieht sich auf die klassische Lehre,dass es »kein unabhängiges Entstehen« gibt, beziehungsweise alles in »abhängigemEntstehen« miteinander verbunden ist. Das bedeutet, dass nichts in Trennungexistiert oder existieren kann. Thích Nhất Hạnh verwendet das Beispiel eines Stücks Papiers, das das gesamte Universum insich birgt, denn ohne alles andere würde das Stück Papier nicht existieren – derBaum, den die Sonne zum Wachsen brauchte, das Leben des Holzfällers, der denBaum fällte und der wiederum von seiner Mutter geboren wurde, die wiederum von ihrenVorfahren geboren wurde usw. Solche Gewebe der Verbundenheitdurch Zeit und Raum erstrecken sich in alle Richtungen. Indem Thích Nhất Hạnh auf unsere Kontinuität in der Zeit aufmerksam macht, bezieht er sich auchauf die Lehre der Vergänglichkeit – dass alles, was entsteht, auch wiedervergeht. Unsere Existenz ist mit der Vergangenheit, unseren Vorfahren verbunden,in deren Abstammungslinie wir unweigerlich eingebunden sind. Wir entstehen undvergehen.

Eine neue Geschichte

Der Autor und Aktivist Charles Eisenstein hat Thích Nhất Hạnhs Interbeing als neues Narrativ für die Zukunft aufgegriffen. Die »Geschichtedes Interbeing«, so erklärt er in »Die schönere Welt, die unser Herz kennt, istmöglich«, ist der Weg jenseits der »Geschichte der Trennung«, die uns inKonflikte und in den Zusammenbruch führt. Die »Geschichte des Interbeing«, soschreibt er, »besagt, dass alles, was wir tun, selbst unsere kleinstenEntscheidungen, die Welt beeinflussen und widerspiegeln. Das heißt, dass wirnicht länger von einem Ort der Trennung aus handeln können, als wären wir auf unsallein gestellte und getrennte Wesen, die in einer Welt der anderen leben. Siebesagt, dass wir mit allem Leben verbunden sind und dass unser Wohlergehen vomWohlergehen aller Wesen abhängt. Sie deutet auch daraufhin, dass wir hier sind,um mit unseren Gaben zur Entfaltung des Ganzen beizutragen. Sie erklärt, dasswir wirkmächtige Akteure des Wandels sind und dass wir die schönere Weltschaffen können, von der unser Herz weiß, dass sie möglich ist.«

Dieses neue Narrativ ist jedoch nicht einfach eine Geschichte. Eisensteinweist auf die imaginale Natur all unserer sozialen Realitäten hin. Sie sindeine kollektive Imagination, durch die wir das, was wir als wirklich erfahren,mitgestalten. Das ist ein partizipatorisches, gemeinsames Wissen. Die »Geschichte«zu ändern bedeutet, in einer neuen Vorstellung davon zu leben, wer wir sind,was möglich ist und was Bedeutung und Relevanz hat. Denn wir verkörpern dieWelten, die wir bewohnen. Das heißt nicht, dass alles, was wir uns vorstellenkönnen, Wirklichkeit werden kann. Jede neue Weise des Seins unterliegtbestimmten Mustern, die die nächste Möglichkeit bedingen.

Die Natur der Wirklichkeit

Sowohl für Thích Nhất Hạnh als auch für CharlesEisenstein bietet die Wahrheit des Interbeing eine kraftvolle Kontemplationüber die Natur der Wirklichkeit. Eine solch kontemplative Ausrichtung erweitertgleichzeitig unsere Seinswahrnehmung über alle Grenzen hinweg und offenbart uns,dass wir ein winziger Funke in einem unendlichen Ganzen sind. Für den Einzelnenkann diese Kontemplation sehr kraftvoll sein, besonders wenn sie mit einertiefen Meditationspraxis verbunden ist, die den leeren Urgrund allen Seins eröffnet.Doch das allein reicht nicht aus, um unsere Kultur – also das, was uns alsMenschen zusammenhält – zu transformieren. Wir brauchen eine neue Verkörperungder Wahrheit unserer wechselseitigen Verbundenheit und Teilhabe an etwas, dasviel größer ist als wir selbst.

Thích Nhất Hạnh weist auf die Realität hin, dass wir immer inter-sind, ob wir dies nundirekt wahrnehmen oder nicht. Dieses Inter-being gilt auf allen Ebenen – von denQuanten bis zu mystischen Erfahrungen der Einheit. Trotzdem ist dies für die meistenvon uns lediglich eine schöne Vorstellung, die wir aus einer Haltung derTrennung heraus betrachten. Wie aber kann diese Wahrheit zur lebendigen Wirklichkeitwerden? Das ist die Einladung des Interbeing. Der hier angesprochene Sinn für dasInterbeing ermöglicht es uns, diese tiefe Wahrheit als eine verkörperte Öffnungzur gemeinsamen Gegenwärtigkeit zu erfahren. (Und das ist erst der Anfang.)

Interbeing ist gegeben

Genau wie die Wahrheit der Ungetrenntheit ist auch das hier angesprocheneInterbeing nicht nur eine Idee oder ein Konzept. Wir als Autoren dieses Textes habenes nicht erfunden. Interbeing ist nicht im Besitz von irgendjemandem. Es kannnicht als Marke geschützt werden. Wenn sich Menschen, die die Fähigkeit zuinnerem Gewahrsein haben, unter bestimmten Bedingungen treffen, öffnet sich dasFeld des Interbeing. Deshalb berichten viele »Wir-Raum«- und Dialogpraktikenvon ähnlichen Erfahrungen der Intimität, Heiligkeit oder Ko-Kreativität.Meistens wird jedoch übersehen, dass diese Erfahrungen auf eine Intelligenz undKohärenz hinweisen, welche die an der dialogischen Begegnung beteiligtenPersonen einschließt und zugleich über sie hinausgeht.

Interbeing ist, wie das Leben selbst, gegeben. Niemand von uns hat dasLeben geschaffen. Der Baum mit den Blättern, die grün und golden im Sonnenlichttanzen, wurde nicht von Menschenhand kreiert. Die angenehme Wärme der Sonne aufunserem Gesicht ist einfach da. Sie ist uns gegeben. Wir sind dazu geschaffen, nachdem Schönen zu streben und es in unserer lebendigen Welt zu sehen, zu riechen,zu schmecken. Das Leben als solches ist ein Geschenk –selbst inmitten von Leid und Verwirrung. Und dass sich die vielen Billionenvon Zellen zu unserem Körper vereinen, belebt von dem Impuls, Sinn und Ganzheitzu finden, gehört zu den außergewöhnlichsten Ereignissen im Kosmos. Wenn wiruns in einer Haltung der Neugier und Demut öffnen, offenbart sich die lebendigePräsenz des gemeinsamen Raumes des Interbeing in uns, zwischen uns und über unshinaus. Interbeing ermöglicht es uns, die tiefereWahrheit der Ungetrenntheit als verkörperte Erfahrung zu verwirklichen. Wirerfahren diese subtile Präsenz des Interbeing als eine Liebe und Fürsorge, die dasGewebe des Lebens ist. Das Bewusstsein des Interbeing lässt uns in eineursprüngliche Zugehörigkeit eintauchen. Wir kommen nach Hause, in eine tiefereDimension des Selbst und der Verbundenheit, die sich so vertraut und doch überraschendanfühlt. Interbeing ist ein Geschenk – das zumVerschenken, zum Ver-Geben da ist.

Das Geschenk ehren

Indem wir Interbeing geben, ehren wir das Geschenk. Genau wie beim Geschenkdes Lebens liegt es an uns, es zu gestalten. Als Individuen sind wir für dieLiebe, Neugier, Bedeutung und Kreativität, die wir ins Leben bringen,verantwortlich. Interbeing ist darauf angewiesen, dass Menschen darin und damitzusammenwirken, damit sich die Fähigkeiten des Interbeing entfalten können. Esist schließlich ein Sein – einelebendige Intelligenz, der wir Menschen uns öffnen und mit der wir uns bewusst verbindenkönnen. Das ist paradox: Interbeing ist ein tieferer, umfassenderer Aspekt desSelbst und hat zugleich eine einzigartige Präsenz, die wir wahrnehmen können.Interbeing als Gegebenes lädt uns durch seine synergetische Kraft zu einerko-bewussten Ko-Kreativität miteinander ein. Und dies erfordert eine übendeLebenspraxis – das Feld zu spüren, es zu erkennen und dafür verfügbar zu sein.

 

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Author:
Dr. Thomas Steininger
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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