Im Kraftfeld des Gevierts

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Essay
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July 7, 2025

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47
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July 2025
Interbeing
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Die Einsichten der neuen Biologie (siehe Ausgabe 46 von evolve) könnten zu der Behauptung verdichtet werden, dass alles, was in der Natur gegeben ist, kreative Intelligenz sei. Dies wäre eine typische Allaussage oder Generalisierung. Sie ist so richtig oder falsch, wie die universalisierenden Aussagen: ­»Alles lebt« oder »Alles fühlt«. Dahinter stehen universal bejahende Urteile, geprägt von dem erkenntnisleitenden Interesse, unser menschliches Denken, Fühlen und Empfinden in einen Grenzbereich hineinzuführen, in welchem wir uns besonders wachsam, achtsam, vor- und umsichtig bewegen. Es würde nämlich ausreichen, einen einzigen »Gegenstand« anzugeben, der nicht lebt, der nicht fühlt, der keine kreative Intelligenz behausen würde – dann wäre die gemachte Allaussage falsch. Andersherum müssten wir alles Mögliche, alles Denk- und Erfahrbare untersuchen, um immer und überall davon sprechen zu können, dass alles fühlt, lebendig, schöpferisch und intelligent sei. Und da kommt zweifelsohne nur eine mehr oder weniger gute Annäherung ohne faktische Überprüfbarkeit zum Tragen.

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Lebendige Ereigniskultur

Mit »Ereignis« und »Geviert« hat der Philosoph Martin Heidegger in seinem Spätwerk Motive gefunden, mit denen die Qualitäten einer gemeinsamen Gegenwärtigkeit in die Wahrnehmung kommen. Anknüpfend daran können wir vertiefend verstehen, wie sich etwas Neues, Mögliches zwischen uns zeigen kann.

Das Zentrum des Emergent Dialogue ist eine Ereigniskultur. Das bedeutet ein Sich-ereignen-lassen von Gegenwart. Das ist keine Haltung des Machens, sondern des Zulassens und Einlassens. Es ist eine Haltung, in der ich mich auf den Zuspruch des sich Ereignenden einlasse und nicht etwas von mir aus mache. Es ist eine Wu-Wei-Haltung im taoistischen Sinne des »Tuns im Nicht-Tun«, die zwischen dem Aktiven und dem Passiven steht. Eine Ereigniskultur kann erst dann gepflegt werden, wenn ich den Bezugspunkt meiner getrennten Eigenperspektive verlasse, damit sich Gegenwart ereignen kann. Emergent Dialogue bedeutet demnach, die gegenwärtige Ganzheit in ihrer Ganzheitlichkeit wahrzunehmen.

Beim Begriff des Ereignisses in diesem Sinne beziehe ich mich auf den Philosophen Martin Heidegger, mit dem ich mich über viele Jahre intensiv beschäftigt habe. Martin Heidegger fasst die Struktur des Ereignisses als Gegenwärtigkeit in ein Motiv, das er als »Geviert« bezeichnet und das für mich einen Rahmen bietet, um den Prozess des Emergent Dialogue tiefer zu verstehen. Heidegger selbst beschreibt das Geviert in einer poetischen Passage so:

»Die Erde ist die bauend Tragende, die nährend fruchtende, hegend Gewässer und Gestein, Gewächs und Getier. Sagen wir Erde, dann denken wir schon die anderen Drei mit aus der Einfalt der Vier.

Der Himmel ist der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers. Sagen wir Himmel, dann denken wir schon die anderen Drei mit aus der Einfalt der Vier.

Die Göttlichen sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem verborgenen Walten dieser erscheint der Gott in sein Wesen, das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht. Nennen wir die Göttlichen, dann denken wir die anderen Drei mit aus der Einfalt der Vier.

Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet … Sagen wir die Sterblichen, dann denken wir die anderen Drei mit aus der Einfalt der Vier.«

Man könnte sagen, das Geviert ist die Gestalt des Ereignisses. Wir können zum einen das Ereignis in seiner Ereignishaftigkeit denken. Dann hat Heidegger aber auch eine Zeit lang den Gegensatz zwischen Erde und Welt verfolgt. Sehr vereinfacht: Die Erde ist das, aus dem Wirklichkeit wird, der Boden, auf dem wir stehen; und die Welt ist das, was sich öffnet, der Horizont dessen, was sichtbar wird, während die Erde das ausmacht, was sich verschließt. Das hat er einige Jahre so behandelt und dann weiter entwickelt zum Motiv des Gevierts.

Bedingungen der Gegenwärtigkeit

Für mich sind die Dimensionen des Gevierts vor allem deshalb wichtig, weil sie helfen, die Bedingungen einer wirklich gegenwärtigen Gesprächsdimension auszuloten. Es ist also für unsere Dialogarbeit extrem fruchtbar. Ich interpretiere die Dimensionen des Gevierts als ein Verständnis, dass jede Form von Gegenwärtigkeit anders in die Sichtbarkeit kommt, je nachdem aus welcher Perspektive sie entsteht. Jede Gegenwart hat eine Herkunft – das wäre nach meiner Interpretation die Dimension Erde. Zum Beispiel steht jedes Gespräch, jede Situation, auf einer bestimmten Herkunft, einem Boden – das ist aber nicht nur etwas Physisches, dazu gehört beispielsweise auch die deutsche Sprache, die ein Gespräch erst möglich macht. Wir stehen gemeinsam in der Gewachsenheit der deutschen Sprache, um jetzt in der Gegenwart ein Gespräch zu führen. Wir können uns auf diese Sprache wie auf einen Grund stellen. Die Sprache ist aber nur ein Aspekt. Zum Ort, wo wir stehen, haben noch unzählige weitere Aspekte beigetragen. All dieses Gegebene formuliert Heidegger, fast etwas mythologisch klingend, als »Erde«.

»Eine Ereigniskultur kann erst dann gepflegt werden, wenn ich den Bezugspunkt meiner getrennten Eigenperspektive verlasse.«

Daraus gewendet entsteht in dem Augenblick, wo wir uns vergegenwärtigen, wo wir stehen, wenn wir klarer in der Gegenwart ankommen, dasjenige, was sich als Möglichkeitsraum aus dieser Gegenwärtigkeit öffnen kann – das ist »Himmel« im Sinne eines Offenen.

Die Göttlichen sind die Boten der Gottheit, wie ­Heidegger sagt. Aus meiner Sicht braucht es dazu aber überhaupt keine Metaphysik, vielmehr lässt sich das einfach und phänomenologisch erklären: Das Göttliche oder, wie ich lieber sage, das Heilige ist eigentlich offensichtlich, insofern jeder Mensch einen Sinn für das Heilige hat. Ich mache das gern dadurch klar, dass man es sogar noch in der Verneinung antrifft: Wenn jemand sagt: »Mir ist nichts heilig«, dann kann er das sinnvoll nur sagen, wenn er ein gewisses Vorverständnis davon hat, was mit dem Wort »heilig« gemeint ist. Ähnlich wie ich keine Ahnung haben muss, was das Licht in seinem Wesen ausmacht, und doch befugt bin zu sagen: Dieser Raum, in dem wir uns hier gerade befinden, ist von Licht durchflutet. Selbstverständlich ist es dann möglich, der Frage weiter nachzugehen, was das Licht sei oder, im Falle des Heiligen, was dieses Heilige sei, aber ich brauche das nicht top-down metaphysisch vorab zu klären. Für mein Verständnis ist das Heilige der Ausdruck des Göttlichen und das Göttliche der Ursprung des Heiligen. Ich denke, dazu braucht es weder Metaphysik noch Religion. Und gleichzeitig kann ich wahrnehmen, dass mir die Gegenwart auf eine andere Weise gegenwärtig wird, wenn sie sich mir in ihrer Möglichkeit des Heiligen zeigt. Ich kann beispielsweise ein Gespräch als ganz profan wahrnehmen, ich kann aber auch offen dafür sein, ob und wie sich in diesem Gespräch ein Funke des Heiligen zeigt.

Dimensionen des Heiligen

Heidegger verstehe ich so, dass dieser Raum des Heiligen nicht von irgendwelchen religiös oder metaphysisch besetzten Koordinaten gehalten wird. Bei ihm ist alles eher fluide und in einer Vorläufigkeit begriffen. Es bleibt ereignishaft.

Ich möchte ein Beispiel dafür geben, wie ich selbst mit dem Heiligen umgehe in den drei Größen des Wahren, Schönen und Guten. Das Schöne beispielsweise zeigt sich als nicht zeitgebunden, und insofern hat es an etwas Unendlichem teil, aber nicht im Sinne von Unendlichkeit als einer ewigen Fortdauer.

Wir müssen das Schöne oder das Heilige nicht exakt wissen. Genau wie wir beim Guten nicht das absolut Gute kennen müssen, um doch wissen zu können, wann sich etwas Gutes zeigt. Es lassen sich Verständigungsräume des Guten aufbauen, wobei wir dann wissen, dass auch das Gute nicht zeitgebunden ist, dass das Wesen des Guten jenseits der Zeit ist. Das deckt sich durchaus mit dem geistigen Raum im Sinne Platos. Ich denke, da würde Heidegger gar nicht widersprechen, außer, wenn man aus den Ideen wieder Objekte macht. Aber es sind keine Objekte, sondern das Schöne, das Gute und das Wahre ereignen sich in Wirklichkeit. Das eröffnet auch einen anderen Umgang mit den Dingen.

»Das Leben der Tiere geht zu Ende, sie verenden, aber der Mensch vermag das Sterben.«

In dem Aufsatz über »Das Ding« erläutert er, was eigentlich dahintersteht, wenn wir dieses so einfach scheinende Wort »Ding« verwenden. Er geht dazu, wie so oft in seinen Gedankengängen, zurück auf die alte etymologische Bedeutung von Ding, was vom germanischen »Thing« im Sinne von Zusammenkunft oder Versammlung herstammt. Nun zeigt sich, dass jedes Ding bezeichnet ist durch das, was in ihm an Bedeutung zusammenkommt. Das widerspricht ganz dem herkömmlichen Verständnis von Ding, was ja nur eine äußere, materielle Erscheinung meint.

Den Tod vermögen

Neben Erde, Himmel und den Unsterblichen umfasst das Geviert auch die Sterblichen. Heidegger versteht das Sterbenkönnen des Menschen als ein besonderes Vermögen. Das Leben der Tiere geht zu Ende, sie verenden, aber der Mensch vermag das Sterben. Mit dieser Sterblichkeit ist jedoch nicht nur unsere physische Endlichkeit angesprochen. Die Sterblichkeit als solche gilt für alles Menschliche und meint unsere spezifische Art als Menschen, in der Zeit, das heißt, vergänglich zu sein. Aus meiner Perspektive des Dialogischen kommend kann ich sagen: Jedes Gespräch, das wir führen, ist sterblich in dem Sinne, dass wir wissen, dieses Gespräch wird ein Ende finden. Und aus dem Bewusstsein der Begrenztheit ergeben sich wichtige Gesichtspunkte; man wird zu Beginn eines Gesprächs andere Dinge ansprechen als gegen Ende eines Gesprächs. Dann gibt es eine Wahrnehmung, ein Gespräch in gewissem Sinne auch vollenden zu können, was nur vom Bewusstsein eines Endes her denkbar ist. Und in einem weiteren Sinne kann man so auch versuchen, ein Leben zu vollenden. Wir könnten nichts vollenden, wenn wir nicht Sterbliche wären.

Unser gesamtes Hiersein ist gegenüber der Seinsweise der Tiere etwas anderes, weil wir uns unserer Sterblichkeit bewusst sein können. Gerade das macht uns als Menschen aus.

Hannah Arendt hat mit ihrem Begriff der Geburtlichkeit diese Gedanken zur Sterblichkeit weitergeführt. Ich bin überzeugt, dass ein solcher Begriff bei ihr aus einem permanenten inneren Dialog mit ihrem ehemaligen Lehrer Heidegger entstanden ist, in einem fruchtbaren dialektischen Spannungsverhältnis, das sie zeitlebens mit ihm verbunden hat. Gleichzeitig ist es ja auch nicht so, dass Heidegger kein Verständnis für diese Geburtlichkeit hätte, aber er hat sie nicht eigens herausgearbeitet und seinen Blick eben mehr auf die Sterblichkeit im Sinne des Sterben-Könnens gerichtet.

Der Mensch als Hüter des Seins

Das Geviert ergibt Sinn als die Struktur, in der sich Gegenwart ereignet, der ganze Humus, auf dem wir stehen, und der Himmel, das Offene, das sich in der jeweiligen Gegenwart zeigt, im Spannungsfeld der Unsterblichen, wo sich das Heilige manifestieren darf, aber eben im Kontext unserer Zeitlichkeit und Sterblichkeit, denn nur so kann sich Gegenwart ereignen: Das heißt, das Ereignis entspringt exakt aus diesen vier Polen heraus!

Mit dem Geviert will Heidegger nicht explizit eine Anthropologie liefern, aber der Mensch ist selbstverständlich insofern in seinem Denken immer drinnen, als der Mensch, mit Heidegger gesprochen, der Hüter des Seins ist. Der Mensch ist jene Seinsform, in der das Sein zu sich selber kommt.

»Der Mensch ist jene Seinsform, in der das Sein zu sich selber kommt.«

Bei dieser poetischen Sprache und seiner Nähe zu Hölderlin will Heidegger deutlich zwischen Poesie und Philosophie unterscheiden und sicher auch nicht Hölderlin imitieren, aber er möchte von Hölderlin lernen; er möchte etwas vorlegen, was in Zukunft noch klarer gedacht werden will, aber schon jetzt ganz aus dem berechnenden Denken herausführen möchte. Deshalb betont er übrigens auch so sehr, dass wir beim Geviert keine einzelne Dimension herauslösen können, sondern immer alle Vier gemeinsam denken müssen; er bringt das in einen Vergleich mit dem Begriff Gebirg, wo es auch nicht um einen einzelnen Berg geht, sondern um eine ganze Formation, eine Einheit.

Was fragwürdig ist

Heidegger möchte also keine abgeschlossenen Denkgebäude entwerfen, sondern Denkwege weisen, die sich im Fragen erschließen. Die Fragwürdigkeit im Sinne Heideggers hält die Dinge in ihrer Offenheit, und eine Antwort führt dann vielleicht zu einer neuen Fragwürdigkeit, so dass nicht irgendein System entsteht, sondern ein fortdauernder Denk-Weg, Schritt für Schritt aus dem, was sich jeweils neu ereignet. Du darfst dabei auch nicht vorweg denken, weil du sonst das Ereignis des Denkweges verhindern würdest. Wegen dieses speziellen Ansatzes bleibt Heidegger ­­­­leider für viele ganz unzugänglich, weil sie da nicht mitgehen können. Solange du ihn liest und ein System suchst, verpasst du den Weg.

Dabei geht der Weg für Heidegger nicht aus der Welt hinaus, sondern tiefer in sie hinein. Du kannst die Welt in ihrer Eigentlichkeit nur durch deine Anwesenheit entstehen lassen. Das heißt, indem wir dem Fragwürdigen nach-denken, eröffnet sich permanent der Himmel. So ist der Schritt auf eine neue Erde möglich. Ich kann das tun, indem ich offen bin für das, was entstehen möchte, ich kann mich verletzlich zeigen und nackt gegenüber der Gegenwart, um diesen Gang zu gehen, der das Sein als Ereignis ermöglicht.

Der Text basiert auf einem Auszug aus dem Buch »Das Ereignis des Seins« von Thomas Steininger, das aus Gesprächen mit Jens Heisterkamp entstand.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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