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Zum Buch »Zwischen Gut und Böse – Philosophie der radikalen Mitte« von Markus Gabriel und Gert Scobel
In ihrem dialogisch entstandenen Buch erforschen der Philosoph Markus Gabriel und der TV-Journalist Gert Scobel eine neue philosophische Grundlage und Kernpraxis für die Entscheidungsfindung in einer zunehmend komplexer werdenden Welt. Sie finden diesen Ort in der Mitte: dort, wo sich verschiedene Sichtweisen, Denkdisziplinen, Interessengruppen, Handlungsoptionen in einem offenen Raum begegnen, um miteinander die beste, die ethische Antwort auf eine bestimmte Situation zu finden.
In ihrem Buch setzen sie bei der grundlegenden Überlegung an, wie man überhaupt zu ethischen Urteilen kommen kann, die immer mit einer Unterscheidung beginnen. Aber welche Kriterien leiten uns dabei? Und auf welchem Denken beruhen die Unterscheidungen? Hier kritisieren die beiden Gesprächspartner eine Sichtweise, die ethische Entscheidungen mit einem rechnenden Denken und durch einzelne, isolierte Zahlen oder gar Algorithmen bestimmen möchte oder sich an einem ethischen Prinzip orientiert. Sie gehen hier auch auf die während der Corona-Pandemie gebräuchlich gewordene Praxis ein, bestimmte Grenzwerte oder einzelne Experten(gruppen) als handlungsleitend zu benennen. Aber, so ihr Argument, in einer so komplexen und unsicheren Situation, wie es eigentlich alle unsere gegenwärtigen Herausforderungen sind, ist solch ein linearer Ansatz nicht zielführend. Die vielschichtigen »Stapelkrisen«, wie Gabriel sie nennt, sind aufeinander bezogen. Die Krisen der ökologischen Zerstörung, der globalen Ungerechtigkeit oder der sozialen Polarisierung hängen miteinander zusammen. Sie stehen zudem unter dem Einfluss von komplexen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen, die wir nicht vollständig überschauen und vorhersehen können.
Wir brauchen, so die Überzeugung der beiden Autoren, neue Prozesse der Entscheidungsfindung. Diese Prozesse können sich darauf beziehen, dass uns ein ethischer Sinn innewohnt, dass es so etwas wie das universell Gute gibt. Markus Gabriel gibt das Beispiel, dass wohl jeder Mensch einem ertrinkenden Kind zu Hilfe eilen würde. Es gibt also ein ethisches Empfinden in uns und seiner Ansicht nach auch einen moralischen Fortschritt, weil festzustellen ist, dass die Lebensrealitäten zuvor vernachlässigter Menschen zunehmend mitberücksichtigt werden, wie es die Debatten um Gendergerechtigkeit und globale Verteilung des Wohlstands zeigen. Zudem umkreisen die beiden Autoren die Idee eines Sensus communis, eines Gemeinsinns, durch den es in einer Gesellschaft möglich ist, ethische Entscheidungen zu legitimieren. In gewissem Sinne kann also auch eine Gesellschaft ein Empfinden für das universell Gute entwickeln. Als einen Weg, um das ethische Empfinden des Einzelnen und den Gemeinsinn zu stärken, schlagen sie eine Praxis der radikalen Mitte vor, die aus einem offenen Raum des Dialoges lebt, der nicht von einer Sichtweise vereinnahmt wird.
Auch eine Gesellschaft kann ein Empfinden für das universell Gute entwickeln.
Gabriel und Scobel versuchen das zu tun, worüber sie schreiben, und in ihrem Dialog genau diese Mitte offenzuhalten. Dabei haben sie bei verschiedenen Themen durchaus auch unterschiedliche Sichtweisen. Wenn Scobel beispielsweise darauf hinweist, dass auch »Übungen des Nicht-Diskursiven« wie die Meditation die Kultivierung von Weisheit unterstützen, weist Gabriel darauf hin, dass beim ethischen Entscheiden das Denken zentral bleibt. Hier zeigt sich eine kreative Spannung zwischen dem Philosophen Markus Gabriel, dessen Argumentation der gedanklichen Analyse entspringt, und Gert Scobel, dessen Denken sich auch aus den Weisheitstraditionen, insbesondere dem Buddhismus speist. Deshalb wird immer wieder spürbar, dass der Zen-Übende auch den inneren Erkenntnisraum für grundlegend wichtig hält, der über das diskursive Denken hinausgeht. Unter dem Vorzeichen des »Nichtpropositionalen«, also eines Erkennens, das über die rationale Logik hinausgeht, sehen beide Autoren in meditativen Übungen ein Element der Praxis der radikalen Mitte. Und sie sind sich darin einig, dass die Erfahrung einer Leere oder Offenheit im eigenen Bewusstsein uns hilft, diese Offenheit auch in Gesprächen nicht mit unseren eigenen Vorannahmen zuzuschütten. Ihr Buch ermutigt, einen solchen Raum des Dazwischen, der radikalen Mitte im eigenen Leben und in der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung immer wieder zu betreten und gemeinsam zu erproben.
Author:
Mike Kauschke
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