Zur Rehabilitierung des imaginativen Denkens
Mit seinem neuen Buch »Fiktionen« hat der Philosoph Markus Gabriel ein Grundlagenwerk vorgelegt, das auch für die spirituelle Szene interessant sein könnte. Denn es versucht nichts Geringeres, als der imaginativen Kraft unseres Denkens eine neue Würde zu verschaffen, was vom Thema her auch Religion, Mythos, Esoterik, Kunst und Spiritualität mit umfasst. Gerade jetzt in der Coronakrise erleben wir wieder einen Generalangriff der Medien auf das »Irrationale« und »Esoterische«, der im Namen der »Aufklärung« vielfach alles verurteilt, was von bestimmten rationalistischen Positionen abweicht. Vieles an dieser Kritik ist berechtigt, wenn man sich die Auswüchse von rechter Esoterik, von Reichsbürgern, QAnon-Anhängern oder Verschwörungstheorien anschaut, die einen schon das Fürchten lehren können.
Unsichere Zeiten begünstigen einen Aufwind irrationaler Ideen, an die sich viele Menschen in ihrer Angst klammern, ohne zu sehen, wie weit sie sich schon von jeder Realität entfernt haben. Etwas anderes ist jedoch die pauschale Denunzierung von Spiritualität, Esoterik und auch z. B. Anthroposophie, wie sie gerade hierzulande immer wieder von Journalisten und auch Wissenschaftlern betrieben wird.
Ich kann nicht beurteilen, wie stark sich Markus Gabriel für spirituelle Themen interessiert. Als in den Medien gern gesehener deutscher Philosoph, Hochschulprofessor und Suhrkamp-Autor wird er es sich wohl zweimal überlegen, ob er öffentlich etwas dazu sagt. Auch in seinem neuen Buch kommt nichts dergleichen vor, aber dessen Grundideen umfassen den Bereich von Religion, Mythos und Spiritualität indirekt mit. Denn es geht um eine philosophische Rehabilitierung des »Fiktionalen« gegen einen szientifisch reduzierten Wirklichkeitsbegriff, der nur das naturwissenschaftlich Erfassbare als »real« gelten lässt. Doch Fiktionen, so Gabriel, sind die Grundessenz unseres Lebens und sie überschreiten immer das, was sensorisch gegeben ist. Es gibt sie »ebenso in den Naturwissenschaften, der Theologie, Philosophie und in unseren ganz alltäglichen Tagträumen.« (S. 116) Unsere Fähigkeit zur Imagination und Phantasie, unser Vermögen zu erzählen, zu dichten, hinzuzudichten ist nicht aus unserem Leben wegzurechnen, wenn wir nicht die Würde des Subjektes gleich mit eliminieren möchten. Es sei, so der Philosoph, ein seit Platon bestehender unheilvoller Irrtum, inquisitorisch »Wahrheit« und »Fiktion« auseinanderzudividieren und – wie es heute oft geschieht – »Wirklichkeit« auf die Bewegung von Atomen oder Neuronen zu reduzieren. Die menschliche Subjektivität mit all ihren Bildern, Geschichten und Transzendenzvorstellungen sei die »unhintergehbare Ausgangslage« (S. 21) von allem und es sei falsch, diese vielen mentalen Schöpfungen als bloße »Phantome« zu diskreditieren. Selbstverständlich kann sich unser Imaginationsvermögen irren, das bezeugen unheilvolle Ideologien und mythisch aufgeladene Wahnwelten zur Genüge. Aber es sei völlig falsch, so Gabriel, deshalb »das Subjekt lieber gleich aus der Wirklichkeit zu entfernen, sodass man gleichsam endlich freie Fahrt für eine vollständig objektive Wissenschaft hat, die ohne Geist auskommt.« (S. 231) Diese Hoffnung des szientifischen Zeitalters sei trügerisch, weil unser Geist sowieso nie auf ein Nicht-Geistiges, etwa biochemische Prozesse, zu reduzieren sei. Und zwar allein deshalb, weil man auch für diese Operation den Geist bemühen müsse: ein Zirkelschluss, in dem jeder naive ontologische Realismus immer gefangen bleibe. Um zu begreifen, was Geist und Bewusstsein wirklich seien, müsse man weniger millionenteure Laborexperimente anstellen, sondern einsehen, dass wir vor allem »Subjekte auf der Suche nach uns selbst« sind. Da wir nicht – etwa wie Tiere – umstandslos in unsere Umwelt passten, hätten wir eine starke kreative »Selbstbildfähigkeit« entwickelt, die uns überhaupt erst Orientierung in der komplexen Welt ermöglicht: »In der Form von Mythen, kosmischen Narrativen, Kunstwerken, Wissenschaften und unmittelbar nützlichen Artefakten drücken wir aus, wie wir meinen, dass es um uns bestellt ist.« (S. 234) Das galt für die Menschen der Steinzeit genauso wie für uns heute, trotz allen technologischen Fortschritts, der uns manchmal etwas Anderes vorgaukelt. Gabriel betont in diesem Zusammenhang, dass auch der Vorgang des Transzendierens, der eigentlich aus der Sphäre der Religion stammt, elementar zu unserer täglichen Lebenspraxis dazugehört. Wir leben immer in »Zwischenräumen« und müssen das sinnlich Wahrgenommene durch Vorannahmen ergänzen, Lücken ausfüllen, unser Verständnis der Welt ist immer »narrativ«. (S. 121) Wenn wir vor einem fremden Haus stehen, haben wir dennoch eine Vorstellung von seiner Rückseite und wir können Texte nur lesen, wenn wir zwischen den Buchstaben einen Sinn stiften, der so in den Zeichen nicht enthalten ist. Bereits die Höhlenmaler der Steinzeit gingen, als sie nach der Jagd einen Löwen auf die Felswand malten, auf Distanz zum real erlebten Tier, sie transzendierten es zu einem Bild, einer Geschichte, einem Mythos. Alle symbolischen Akte, durch die sich der Mensch maßgeblich vom Tier unterscheidet, entstanden dadurch, dass das Wahrgenommene überschritten, überhöht und weitergesponnen wurde. (S. 64) Transzendenz ist also kein naives Wunschdenken, sondern ermöglicht überhaupt erst Wirklichkeitserfahrung – oder wie es der amerikanische Philosoph Stanley Cavell sagt: »Auf unsere Phantasie zu verzichten bedeutet, auf unseren Kontakt mit der Welt zu verzichten.« (S. 25)
ES GIBT KEINEN PRIVILEGIERTEN BLICKPUNKT, VON DEM AUS DAS »WIRKLICHE« LETZTGÜLTIG BESTIMMBAR WÄRE, SONDERN NUR EINEN DIALOG VIELER PERSPEKTIVEN UND »SINNFELDER«.
Daher leben wir in vielen »Sinnfeldern«, von denen keines mehr Wirklichkeitsgehalt beanspruchen kann als das andere. Zumal es eine geist- und sprachunabhängige letzte Wirklichkeit, wie Reduktionisten glauben, gar nicht gibt. Auch ihre Datensammlungen sind »Weltbildkonstruktionen«, in denen Einbildungskraft tätig ist, aber sie tun so, als gäbe es ein »objektives« Universum, das dann als »reine«, angeblich vom Subjekt ungetrübte Messgröße verherrlicht wird. Für Gabriel ist dies nur schlechte, ihrer selbst unbewusste Metaphysik, eine Ansammlung »schlechter Fiktionen«. (S. 34) Existieren heißt für ihn »in einem Sinnfeld erscheinen« und davon gibt es letztlich unendlich viele. Dazu fiel mir während der Lektüre des Buches ein einfaches Beispiel ein: Wenn ein Botaniker, ein Ökologe, ein Holzfabrikant, ein Maler und ein Schamane vor einem Baum stehen, so erscheint dieser jedem in einem anderen »Sinnfeld«. Für den Botaniker ist der Baum eine Unterart der »verholzenden Samenpflanzen«, die aus bestimmten Zellen besteht. Der Ökologe weiß um die unterirdischen Pilzgeflechte, die ihn mit anderen Bäumen lebenserhaltend verbinden. Der Holzfabrikant taxiert die Menge des verwertbaren Holzes, während sich der Maler auf den Zauber der Licht- und Farbenspiele konzentriert. Der Schamane schließlich erblickt einen von Elementargeistern belebten »heiligen Baum«, einen Naturtempel, den man verehren, aber nicht abholzen sollte. Was ist die »Wirklichkeit« des Baumes? Alles zusammen und noch viel mehr, denn jedes Tier und jedes Bakterium im Baum »sieht« diesen wiederum mit anderen Augen, was die Zahl der »Sinnfelder« ins potenziell Unendliche erhöht. Ähnliches könnte man über die »Wirklichkeit« der Sonne sagen: Für den Astrophysiker ist sie ein Gasball, aber für die Menschen, die heute etwa in Stonehenge ihren Aufgang bei der Sommersonnenwende feiern, eine strahlende Gottheit, etwas Numinoses, das nicht auf Wasserstoff und Helium reduziert werden kann. Es gibt nicht die »Sonne an sich«, quasi als ein reines Phänomen hinter all unseren Projektionen, denn auch die Daten der Astrophysiker entstammen einer bestimmten Methode des Messens und Wahrnehmens, sind nicht »die Sache selbst«. Auch der poetische Sonnengesang von Franz von Assisi oder ein Kinderbild mit einer lächelnden Sonne sind gleichberechtigte Annäherungen an das Wunder der Sonne, das trotz aller chemischen Analysen bestehen bleibt.
Das Resultat solcher philosophischen Überlegungen ist befreiend und eröffnet einen toleranten Pluralismus der Sichtweisen, wie wir ihn vielleicht heute gerade dringend brauchen. Es gibt keinen privilegierten Blickpunkt, von dem aus das »Wirkliche« letztgültig bestimmbar wäre, sondern nur einen Dialog vieler Perspektiven und »Sinnfelder«. (S. 237) Keine kosmologische Gesamterklärung »der Welt« ist möglich, womit auch die Naivität einer von manchen Physikern gesuchten »Weltformel« offenbar wird. Wir leben – nach Gabriel – in einer »freischwebenden Selbstbestimmung«, die nie erschöpfend durch »Tatsachen« erklärt werden kann. Stattdessen wohnen wir in einem »offenen System des Lebendigen« und die Würde unseres Geistes besteht nicht aus lokalisierbaren Hirnaktivitäten, sondern aus einem Prozess der »unabschließbaren Selbstbildfindung«. Zu diesem gehören – so ergänze ich Gabriel – neben der Wissenschaft auch Mythologie, Spiritualität und Religion, die uns nicht in eine illusionäre Flucht aus der »Wirklichkeit« treiben, sondern helfen, diese immer reicher aufzuschließen. Ein intellektuell tiefschürfendes und wichtiges Buch, das nur zwei Defizite aufweist: eine zu spröde technokratische Sprache und das Außerachtlassen von religiösen, spirituellen und z. B. auch indigenen Weltbildern, die man hätte mit behandeln müssen. Aber wie schon gesagt: Gabriel als prominente Figur der deutschen Mainstream-Kulturwelt wird seine Gründe gehabt haben, darüber zu schweigen.