Zu Peter Sloterdijks neuem Buch »Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie«
In seinem neuen Buch liefert der Philosoph Peter Sloterdijk, der sich einst selbst für die esoterischen Lehren Bhagwans interessierte, eine Analyse der Feinmechanik des Glaubens, die keine metaphysischen Realitäten mehr zulässt. Aber er nähert sich den »heiligen Schriften« nicht nur mit entlarvendem Spott, sondern will sie als »Theopoesie« verstanden wissen, denn es sei nicht erwiesen, dass religiöse Offenbarungen aus anderen Bereichen stammten als die Bilder der Dichtung. Beide – so Sloterdijk – lebten »durchwegs vom Zitieren, vom Aufsagen, vom Auslegen und vom Weitergeben«. Der Mensch sei immer schon ein »homo poeta« gewesen, der in seinem Weltbezug Namen und Reime ersann, ein »geister- und götterdichtendes Wesen«, das sich angesichts der Unberechenbarkeit von Natur und Schicksal zahlreiche »Sinn-Provinzen« schuf. Von früh an habe der Mensch Kräfte wahrgenommen, die ihn sowohl verzaubert als auch bedroht hätten und die er daher »symbolisch domestizieren« musste. Priester und Seher navigierten »zwischen den Sphären des Bekannten und Unheimlich-Jenseitigen« und schufen so einen »Vertrautheitsraum, der von einem Ring aus Unbekanntem, nicht Geheurem umlagert« wurde. Diese Vermittler waren immer auch Schauspieler, Dichter und Performer, ihre Rituale »tiefe Spiele«, in denen das Dargestellte durchaus zu eigenem Leben erwachen konnte.
Sloterdijks Schilderungen von polytheistischen Glaubenssystemen etwa der Griechen oder Ägypter sind von Sympathie getragen, während bei den monotheistischen Religionen sein Tonfall kritischer wird. In vielen Facetten arbeitet er heraus, welche Verschärfung die »Theopoesie« hier erfuhr. Während in der Antike eine bunte Vielheit von Göttern ohne einen organisierten Klerus zu den Menschen sprach, werden durch die apodiktische Rede von dem EINEN Gott Unterscheidungen von »gläubig« und »ungläubig«, »wahr« und »falsch« eingeführt. Die Ineinssetzung von »Gutheit« und »Göttlichem« grenzt die »Unguten« aus, die nunmehr als »Heiden« Menschen zweiter Klasse sind, die bekehrt werden müssen. Bereits im 4. Jahrhundert wurden die einst verfolgten Christen selbst zu Verfolgern, die das Anschauen »heidnischer« Götterstatuen unter Strafe stellten und viele von ihnen vernichteten. Der Kirchenlehrer Augustinus nannte das Christentum die »vera religio« und der Islam beharrte darauf, dass der Koran direkt von Allah empfangen worden sein muss, da Mohammed als Analphabet ja nicht der Autor gewesen sein konnte. In Wirklichkeit, so Sloterdijk, waren auch Bibel und Koran Ergebnisse jahrelanger Traditionen des Erzählens und Editierens, doch Christen und Muslime weigerten sich vehement, in ihnen Produkte der »Theopoesie« zu sehen. Dichter, also auch Betrüger, waren immer die anderen, die »Heiden« und »Ungläubigen«, während nur der eigene Text die allein seligmachende Gültigkeit beanspruchte. Zu diesem absoluten Geltungsanspruch kam schon früh ein planetarisches Sendungsbewusstsein hinzu, das z. B. Kolumbus dazu bewegte, in seinem Vornamen Cristoforo den Aufruf zu sehen, die Botschaft Jesu über alle Weltmeere zu tragen. Wie konnte es passieren, so fragt Sloterdijk, dass aus einstigen Dichtungen »zivilisationsbestimmende Absoluta« entstanden, die ihren poetischen Charakter derart unsichtbar machen konnten? Geschah diese Verfestigung, als aus »spirituellen Vibrationen« feste Formen alltäglicher Lebenspraxis werden mussten?
DER MENSCH SEI IMMER SCHON EIN »HOMO POETA« GEWESEN, DER SICH »SINN-PROVINZEN« SCHUF.
Zu den faszinierenden Facetten der »Theopoesie« zählt Sloterdijk etwa die Versuche, die Existenz des Bösen in der Welt zu erklären und Antworten auf die Theodizee-Frage zu finden, die bereits in mesopotamischen Texten und im »Buch Hiob« gestellt wurde. Hier müssen Protagonisten Schreckliches erleiden, bis ihr Schöpfer befindet, es sei der Prüfungen genug. Sie sollen lernen, dass Dulden tiefer reicht als das Verstehen Gottes, der die pure Ambivalenz in Person ist, manchmal sanft und gnädig, aber auch zornig, strafend und grausam. In solchen Texten kann sich »Theopoesie« zu literarischen Höchstleistungen erheben, indem sie etwa alle Möglichkeiten im Umgang mit ambivalenten Götterfiguren durchspielt. Ein Glanzstück ist z. B. Jahwes Geständnis gegenüber dem gequälten Hiob, dass er auch Urheber von Monstren wie Behemoth und Leviathan ist, von »Resten an titanoider Kraft, die in der Schöpfungsgeschichte nicht berücksichtigt werden konnten«. Das Böse wird so zu einem unaustilgbaren Teil des Kosmos erklärt, neben den gütigen Seiten des Schöpfers bleiben seine »abnormen Haustiere« bestehen, die er nicht immer an der Leine hat. Dem scheinbar perfekten Sechstagewerk der Bibel hängt »ein überzähliges Element des Amorphen, Missgestalteten und Unbeherrschbaren« an, das der Mensch immer wieder neu zu konfrontieren hat. »Theopoesie« kann hier zu »weisheitlicher Literatur« werden, die fast schon moderne Züge trägt.
Zu den eher abgründigen Seiten der spirituellen Einbildungskraft zählt Sloterdijk die vielen Formen von exzessiver Askese und Selbstbestrafung, die jahrhundertelang in Klöstern und Eremitagen betrieben wurden. Die Idee dahinter war ein Blick auf das menschliche »Selbst« als fehlbare und erlösungsbedürftige Einheit, die durch Auslöschung einer höheren Wesenheit Platz machen sollte. Säulenheilige quälten sich in der syrischen Wüste, Klausner ließen sich in Zellen einmauern, Pilger verletzten sich mit stachelbewehrten Bußgürteln und selbst buddhistische Mönche in Japan hungerten sich zu Tode, um – bei lebendigem Leibe mumifiziert – zu einem »lebenden Buddha« zu werden.
Sloterdijks Buch schließt mit dem Befund, dass heute – zumindest in der westlichen Welt – die Artikulation von »Wahrheit« nicht mehr durch Religionen unternommen wird, sondern durch gesellschaftliche Diskurse, an denen eher Presse, Wissenschaft, Philosophie und Kunst beteiligt sind. Der Philosoph konstatiert in unseren Breitengraden eine »Abenddämmerung der Stabilitäten«, die nur noch eine eher beliebige spirituelle »Poesie der Suche« hervorbringe. Wer so gestimmt sei, fände immerhin noch »Gehobenes in der Literatur, Erbauliches in Weisheit aus dem Osten, Erhebendes in klassischer Musik, (…) Numinoses vor einer Anselm-Kiefer-Wand und einen Hauch von Höchstem beim Blick von Lands End aufs offene Meer.« Sloterdijks Buch bietet zwar interessante Einblicke in die Feinmechanik unserer »theopoetischen« Imagination, aber es bleibt doch in der üblichen Dekonstruktion von Mythologie, Religion und Metaphysik befangen. Scheinbar geht das im heutigen kulturellen Mainstream nicht mehr anders. Seine Lektüre hinterlässt den schalen Beigeschmack, dass alles Religiös-Spirituelle doch eher eine kontaminierte Angelegenheit ist, die man letztlich auf das exzentrische Hirn eines phantasiebegabten Lebewesens zurückführen muss. Das Buch kümmert sich wenig um die ästhetisch-poetischen Gipfelleistungen, die dieses »animal symbolicum« (Ernst Cassirer) über Jahrtausende in spirituellen Narrativen, Bildern und Ritualen zustande gebracht hat und von denen wir heute immer noch zehren. Sloterdijk würdigt weder den Imaginationsreichtum indigener Kosmologien, noch den der keltischen, griechischen, römischen oder germanischen Mythologie. Die reiche Sagenwelt des »Heiligen Grals« kommt in seinem Buch genauso wenig vor wie die mystischen Visionen von Jakob Böhme, Meister Eckhart oder Hildegard von Bingen. Vor allem aber fehlt die echte »Theopoesie«, die literarische Annäherung an das »Göttliche« etwa in Homers »Odyssee«, Dantes »Göttliche Komödie«, Goethes »Faust«, Hesses »Siddharta« oder Rilkes »Duineser Elegien«. Nichts erfährt man darüber, dass die Mystikforscherin Dorothee Sölle den Begriff »Theopoesie« ins Zentrum ihrer aufrührerischen Theologie gestellt und mit bewegenden Gedichten anschaulich gemacht hat. All das lässt das Buch einfach weg und verkürzt damit seinen Anspruch, Auskunft über die »Theopoesie« der letzten Jahrhunderte zu geben, gewaltig. Sloterdijk, der noch 2011 Rudolf Steiner als den »größten mündlichen Philosophen des Jahrhunderts« bezeichnete, der seine »Antennen ausgefahren« habe, um einen »Wärmestrom« in die »coole« Geisteskultur um 1900 zu bringen, beendet sein Buch lakonisch und resignativ. Alles Religiöse – so heißt es am Schluss – sei nach seiner Befreiung von den sozialen Funktionen nur noch eine »erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit (…), überflüssig wie Musik«. Damit das nicht zu dürftig daherkommt, fügt Sloterdijk noch gnädig das Nietzsche-Zitat hinzu: »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.«