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In der Begegnung mit wilden Tieren kann sich ein Tor zu einer anderen Welt, zu einem lebendigen Erleben der Urgeschichte der Erde öffnen. Solch eine Begegnung ist selten zufällig, wie die mit einer Herde wilder Yaks, einem Fabel- und Totemtier im tibetischen Hochland. Vollkommen lautlos lassen sie die Zeit für einen Moment stillstehen und erinnern uns an etwas Einmaliges und Schützenswertes: Sie zeigen eine natürliche Harmonie und Schönheit.
Diese Erlebnisse begleiten den mehrfach ausgezeichneten Natur- und Wildlife-Fotografen Vincent Munier und seinen Begleiter, den Schriftsteller Sylvain Tesson, bei ihren Streifzügen durch die tibetische Bergwildnis. Dabei sind die beiden auf der Suche nach einem ganz besonderen Tier, das nur wenige Menschen in freier Wildbahn zu Gesicht bekommen: der Schneeleopard.
Der Fotograf hat den Autor dazu eingeladen, ihn auf seiner Suche nach dem vom Aussterben bedrohten Tier zu begleiten. Seine Seltenheit und Scheuheit umgeben ihn mit einer geheimnisvollen Aura, den Völkern der Bergregionen gilt er als »Geist der Berge«. Inmitten der unberührten Landschaft des tibetischen Hochlands durchwandern die beiden Männer das Gebirge, lesen Spuren und werden zunehmend eins mit der Landschaft. Stunden- und tagelang liegen sie auf der Lauer, bewegen sich achtsam und leise, sprechen kaum. Das Flüstern der beiden Männer lässt beim Zuschauer den Eindruck entstehen, als dritter Beobachter dabei zu sein, neben den beiden getarnt im Gras zu liegen, in kompletter Stille.
Sylvain Tesson lernt nach und nach, die feinfühlige und achtsame Perspektive des Fotografen Munier einzunehmen, der Tierfotografie wie eine ganz besondere Kunst und Philosophie betreibt. Zu Beginn erscheint Tesson durch seine Fragen und Reflexionen beinahe als Fremdkörper in der lautlosen und jahrelang gewachsenen Symbiose zwischen Munier und der Natur. Doch er ist aus gutem Grund dabei: Munier möchte mithilfe seiner Perspektive, seinen Beobachtungen und Fragen auf das Schicksal der Tiere aufmerksam machen, die durch menschliches Verschulden in einen immer kleineren Lebensraum gedrängt werden.
In der Begegnung mit wilden Tieren kann sich ein Tor zu einer anderen Welt öffnen.
Durch Muniers Vorbild taucht auch Tesson im Verlauf des Films schrittweise immer tiefer in das Erleben der Schönheit dieser einmaligen Landschaft ein und lässt sich von ihr berühren. Durch die neue Perspektive wird ihm bewusst, wie gleichgültig und unaufmerksam er so viele Male der Natur und ihren Lebewesen begegnet ist. Munier nimmt jeden Vogel, jede Bewegung wahr und erinnert Tesson wortlos daran, an wie vielen Orten er bereits war, ohne wirklich etwas zu sehen. So entwickelt sich die langwierige Suche nach dem Schneeleoparden zu einer inneren Reise und zu einer hingebungsvollen Übung von Aufmerksamkeit und Geduld.
Munier weiß, dass der Schneeleopard sie zuerst entdecken und beobachten wird, ohne dass sie ihn sehen können. Er weiß, dass er sie zwingen wird, sich ein bisschen wie er zu verhalten: sich zu verstecken, zu tarnen, nicht aufdringlich zu sein. Es ist beinahe so, als ob er sie etwas lehren wird, bevor er sich zeigt.
Als das mystische Tier kurz vor der Abreise und nach tagelanger Suche endlich auftaucht, scheint der Blick in die Augen des Leoparden wie der Blick in eine andere Welt. Er erinnert die Männer an Freiheit und Verbundenheit in einer Unmittelbarkeit, die wir als Menschen verloren haben. Durch sein Erscheinen bestätigt und würdigt der Schneeleopard die achtsam entwickelte Harmonie der beiden Männer untereinander und mit ihrer natürlichen Umgebung der Wildnis. Obwohl sie so lange auf ihn gewartet und so viele körperliche Anstrengungen unternommen haben, um ihn zu treffen, erscheint er am Ende vollkommen überraschend: in voller Größe, Stärke, Klarheit und Präsenz.
Mit seinen langsamen Bildfolgen und der behutsamen Dokumentation der Suche der beiden Männer ist ein Film von überwältigender Schönheit entstanden. Die meditative Ästhetik, untermalt von sphärischer Musik, erlaubt es dem Zuschauer, die Szenen einzuatmen und das tibetische Land ganz unmittelbar zu spüren. Die Filmmusik ist eigens von Nick Cave und Warren Ellis (von der Band »Nick Cave and the Bad Seeds«) komponiert worden. Sie verleihen dem Film eine eigene musikalische Stimme, zum Beispiel, indem sie Tierlaute in die Musik einbinden. Laut Ellis’ Einschätzung haben sie so den schönsten Soundtrack geschaffen, an dem die beiden befreundeten Musiker je gearbeitet haben. Und über den Film sagt er: »Die Stars dieses Films sind zum einen die Tiere, wie wir sie noch nie gesehen haben – und zum anderen der Mensch, der sie mit Ehrfurcht, Respekt und Verwunderung betrachtet.« Der Film lässt uns teilhaben an dieser ehrfurchtsvollen Begegnung mit der Wildnis, die unseren Blick auf uns selbst und unsere Welt verwandeln kann.
Author:
Julia Wenzel
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