Die ungenutzte Kraft der Imagination
Durch soziale Prozesse das Bewusstsein verändern – so könnte man den Ansatz der Sozialen Skulptur auf den Punkt bringen, wie ihn Shelley Sacks mit ihren »Verbindenden Praktiken« umsetzt. In ihrer Arbeit fragt sie nach einer neuen Form der Wahrnehmung, die uns die Ganzheit der Welt lebendig erschließt.
evolve: Deine Arbeit mit verbindender Ästhetik und deine Praxis der Sozialen Skulptur zeigt die Kunst als eine lebendige Kraft in Bezug auf Gesellschaft und Kultur. Ist vielleicht Kunst jener Ort, an dem sich die Zukunft zeigt, wo wir beginnen etwas zu sehen, das ansonsten unsichtbar ist?
Shelley Sacks: In jeder Kunst, die in das Unbekannte, das Unsichtbare geht, besteht die Möglichkeit, dass sich die Zukunft zeigt. Diese Form von Kunst hat die Kraft, unsere normale Sicht der Dinge zu unterbrechen und etwas Neues zu eröffnen. Wir könnten sagen, dass sich dadurch die Zukunft zeigen kann. Aber diese Formulierung kann irreführend sein. Die Zukunft taucht nicht einfach so auf, insbesondere nicht in Prozessen der sozialen Kunst mit mehr als einem Beteiligten. Erforderlich ist ein Prozess, durch den wir aktiv in das Unbekannte eintreten, hineinleben und zwischenmenschlich gestalten.
Wenn wir uns individuell und gemeinsam in das Unbekannte begeben, dann kann sich das, was hier anwesend ist und entstehen möchte – das Noch-nicht-Gewordene – zeigen. Um diesen Prozess zu unterstützen, habe ich Instrumente des Bewusstseins entwickelt – es sind Instrumente, keine Werkzeuge. Diese Instrumente des Bewusstseins greifen nicht nur ein und unterbrechen das Gewohnte, sondern bringen uns auch in eine andere Form der Wahrnehmung, die man nach Joseph Beuys, Paul Klee und dem Psychologen James Hillman als bildhaftes Denken beschreiben kann. Diese Instrumente des Bewusstseins bestehen aus verschiedenen Elementen – Gegenständen, Prozessen und Begleitern –, die es Einzelnen und Gruppen ermöglichen, durch eine Frage oder einen Kontext in die Wahrnehmungsform des bildhaften Denkens einzutreten. So können sie das sich entfaltende Potenzial wahrnehmen und zusammenarbeiten, um verbindende Antworten zu entdecken und zu entwickeln.
Instrumente des Bewusstseins
e: Du machst hier einen Unterschied zwischen Instrument und Werkzeug. Bei einem Instrument denkt man ja auch an ein Musikinstrument. Und das ist etwas völlig anderes als ein Werkzeug, das mehr in einem technischen Zusammenhang steht.
ShS: Ja, in der Sozialen Skulptur und der »Verbindenden Praxis« ist diese Unterscheidung sehr wichtig. Werkzeuge stehen mit einem vorausgesehenen Ergebnis in Verbindung. Ein gutes Werkzeug tut, was man von ihm erwartet. Ein gutes Instrument des Bewusstseins ermöglicht dem Unerwarteten, sich zu zeigen und sich zu entwickeln. Es eröffnet sich ein Feld der Möglichkeiten. Und jeder der Beteiligten kann an dieser Entfaltung mitwirken.
Instrumente des Bewusstseins sind Räume oder Bezüge, die eine neue Vision ermöglichen. Ihre ästhetischen, aktivierenden Methoden verbessern die Bedingungen für Transformation. Dazu gehört eine andere Form der Wahrnehmung und des gemeinsamen Denkens, eine offene Beziehung zu sich selbst, zueinander und mit der Welt.
Aber es besteht immer die Gefahr, die poetische Dimension für einen vorherbestimmten Zweck zu instrumentalisieren. So verringert sich die Möglichkeit für neu entstehende und belebende Erkenntnisse. Deshalb habe ich Instrumente des Bewusstseins geschaffen, mit denen die innere Notwendigkeit der Zukunft wahrgenommen werden kann. Sie eröffnen einen Prozess, der sich ins Unbekannte bewegt und durch ein ästhetisches und ko-kreatives Forschen, tiefes Zuhören und ein Aufbrechen alter Strukturen gekennzeichnet ist.
Ich war einmal Artist in Residence in einem Wald und wurde eingeladen, dort eine Verbindende Praxis zu entwickeln. Ein Förster kam zu mir und fragte mich, wann ich denn endlich mit meiner Kunst beginnen würde. Ich lud ihn ein, ein Instrument des Bewusstseins zu erfahren, an dem ich gerade arbeitete: eine besonders gestaltete Schlinge, die eine tiefere Begegnung mit einem Baum ermöglicht. Dann deutete ich auf eine Baumgruppe, wo ich mit einigen Bändern, also minimalen Mitteln, eine »Universität der Bäume« sichtbar machte. »Mit solchen Arbeiten«, erklärte ich, »gestalte ich Instrumente des Bewusstseins statt Objekte der Aufmerksamkeit«. Diese Beschreibung konnte er in seiner Erfahrung nachvollziehen.
Weil die Instrumente des Bewusstseins ins Unbekannte führen, bringen sie uns in eine empfängliche Haltung. Aber sie ist nicht passiv. Es ist eine aktive empfängliche Haltung, in der eine neue Form der Wahrnehmung, des Denkens und Antwortens möglich wird.
In einer poetischen Haltung
e: Das Zentrum deiner Arbeit mit ihren transformativen sozialen Prozessen ist die Imagination, eine poetische Wahrnehmung der Wirklichkeit. Was ist die Rolle der Imagination bei der Transformation sozialer Prozesse?
ShS: Imagination ist fundamental wichtig. Aber heute wird sie häufig verzerrt oder ist verloren gegangen. Durch Geschäftigkeit, Arbeit, Informationen, ein alltagspraktisches Verhalten und all die Formen berechnenden Denkens wird sie erdrückt oder verschleiert. Für mich ist die Imagination zentral in der Arbeit für eine lebensfähige Zukunft, aber nicht nur deshalb, weil wir ein neues Narrativ entwickeln müssen. Die Imagination ist eine fundamental andere Weise des Denkens und In-der-Welt-Seins. Durch die Belebung der Imagination können wir ein lebendiges Gewahrsein der Allverbundenheit entwickeln, in der wir uns ständig befinden. In einer poetischen Haltung gehen wir bis auf den Grund unserer Gewohnheiten. Haltungen, die uns selbstverständlich erscheinen, können wir hinterfragen und loslassen. So entsteht Raum für gelebtes Erkennen, die Wechselwirkung zwischen allen Lebensformen.
James Hillman unterscheidet eine buchstäblich-rationale und eine poetische Haltung. Für ihn ist eine poetische Haltung wesentlich, um auf jeder Ebene unserer inneren und äußeren Erfahrungen ein verbundeneres Leben zu gestalten. Sogar in dem, wie wir unsere eigene Erfahrung verstehen. Wenn wir Erfahrungen nicht in uns aufnehmen und in unserem inneren Raum weiterleben lassen, verflüchtigen sie sich einfach. So können wir aus dem »Rohstoff« unserer Erfahrung kein »Gold« gewinnen. Wenn wir das, was wir sehen, hören und erfahren, nicht in uns hineinnehmen, bleiben wir außerhalb davon. Wir sind von der Welt abgeschnitten, obwohl wir darin leben. Selbst unsere Erfahrung wird zu unverbundener Information, wenn wir sie nicht verinnerlichen und verkörpern.
e: Mit Hillmans Unterscheidung zwischen einer buchstäblich-rationalen und einer poetisch-imaginativen Haltung würde ich sagen, dass man hier jeweils verschiedene Wirklichkeiten sieht. Es gibt Wirklichkeiten, die zeigen sich nicht in der buchstäblich-rationalen Betrachtung. Sie öffnen sich erst, wenn man beginnt die Welt imaginativ zu betrachten. Die Kunst zeigt uns etwas, das sich der buchstäblich-rationalen Betrachtung entzieht. Was ist das? Was zeigt sich hier?
ES BESTEHT IMMER DIE GEFAHR, DIE POETISCHE DIMENSION FÜR EINEN VORHERBESTIMMTEN ZWECK ZU INSTRUMENTALISIEREN.
ShS: In der imaginativen Haltung geht es um Begegnung. Eine solche Begegnung in einer kontemplativen imaginativen Haltung bringt uns dem Wesen der Dinge näher, sei es eine Pflanze, ein Mensch, eine Frage, eine soziale oder politische Situation. Weil wir ganz darin eindringen, es »bewohnen«, können wir etwas vom Wesen der Situation erfahren. Es ist eine andere Bewusstseinshaltung, in der wir wechselseitige Verbindungen leichter wahrnehmen können. Man könnte sagen, dadurch entwickeln wir neue Wahrnehmungsorgane für das Wesen der Phänomene.
Neue Wahrnehmungsorgane
e: Kannst du etwas näher erläutern, wie du diese neuen Wahrnehmungsorgane verstehst? Wie können wir sie ausbilden?
ShS: Es gibt einen wunderschönen Satz von Goethe: »Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.« »Wohl beschaut« bedeutet, dass wir nicht außen stehen bleiben, sondern in das hineingehen, was wir wahrnehmen. Mein Ansatz der Verbindenden Praxis wurde inspiriert durch Goethes Verständnis von einer anschauenden Urteilskraft. Wir nehmen etwas in uns hinein, sodass wir ganz darin leben können. Das ist nur im imaginativen Zustand möglich. Im buchstäblich-rationalen Zustand denken wir über Dinge nach. Wenn wir in dem leben, was wir wahrnehmen, entsteht eine Intimität, Vertrautheit und Nähe. Es ist eine Erfahrung, die uns lebendiger macht, die in uns etwas bewegen und aktivieren kann.
Um neue Wahrnehmungsorgane zu entwickeln, müssen wir über unsere fünf Sinne hinausgehen. Rudolf Steiner und darauf aufbauend Joseph Beuys sprachen von zwölf Sinnen. Dazu gehören unsere inneren Lebenssinne und unsere sozialen Sinne, die durch unsere Lebensform und unsere Denkweisen oft übersehen, unterentwickelt und verschleiert sind. Die fünf Sinne, auf die wir uns normalerweise beschränken, ignorieren unseren Ich-Sinn und seine Bedeutung als ein soziales Sinnesorgan. Ich kann dem Wesen eines anderen Menschen oder einer anderen Lebensform nur dann begegnen und dessen Integrität respektieren, wenn ich mich selbst erfahren und mir selbst begegnen kann. So entstehen neue Wahrnehmungsorgane: eine neue Fähigkeit, die gesamte Beschaffenheit einer Situation, das Wesen einer Situation sehen zu können. Ich stehe als selbst-bewusstes Selbst im Leben und begegne der Welt.
Arbeit mit den unsichtbaren Materialien
e: Für diesen soziale Sinn steht, vielleicht wie kaum ein anderer, dein Lehrer Joseph Beuys. Was können wir von Beuys lernen?
ShS: Ich habe von Beuys gelernt, dass die äußere Revolution damit beginnt, im Dialog zu sein mit sich selbst und allem, was uns umgibt. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass das äußere und innere Feld in Wirklichkeit ein Feld ist. Die Art und Weise, wie Beuys mit den unsichtbaren Materialien des Denkens, der Sprache und des Gesprächs als Plastik arbeitete, und seine Überzeugung »Denken ist bereits Plastik« halfen mir zu verstehen, wie die Arbeit am inneren Feld und uns selbst als individuellen, selbstbewussten Instrumenten damit einhergeht, bewusste Mitgestalter des sozialen Feldes zu werden. Wenn ich mit ihm zusammen war, hatte ich die intensive Erfahrung, dass er ein Wahrnehmungsorgan war. Für mich lag darin die Botschaft, dass jeder Mensch ein solches Wahrnehmungsorgan werden kann und werden sollte. Ich lernte, mit meinem Willen, meinen Werten, meinen Fragen und meinen Gedanken als unsichtbare Materialien zu arbeiten. Ich verstand, warum diese Materialien in einer erweiterten sozialen Praxis bedeutsam sind. In Beuys’ Arbeit und seinen Ideen konnte ich erfahren, dass darin der übliche Gegensatz zwischen dem inneren und äußeren Feld, dem individuellen und sozialen, zwischen Denken und Vorstellungskraft überwunden war.
Aber ich war auch frustriert, weil ich die Prinzipien, Strategien und Methoden nicht aufdecken konnte, die in den Menschen die Kraft der Imagination eröffnet. Interessanterweise konnte Beuys das nicht erklären, obwohl sein Werk es so klar zum Ausdruck brachte.
e: Eine der berühmtesten Kunstinstallationen von Joseph Beuys war die »Honigpumpe am Arbeitsplatz« auf der documenta 6 im Jahr 1977. Diese dynamische Kunstinstallation dauerte 100 Tage und du warst an 90 Tagen dort. Das war eine wichtige Erfahrung für dich?
ShS: Die Honigpumpe war ein Ort, an dem Menschen den ganzen Tag ein- und ausgehen konnten. Wenn man den Raum betrat, sah man riesige Plastikrohre hoch an der Wand, durch die den ganzen Tag über Honig floss. Beuys war dort, schrieb an Tafeln und redete, umgeben von Menschen. Manchmal waren es große Gruppen, die im Halbkreis um ihn herum saßen. Besucher kamen und hörten zu, beobachteten das Geschehen, warfen etwas ein. Jemand präsentierte etwas und Beuys und andere Anwesende antworteten darauf. Manchmal teilte Beuys seine Vision der Sozialen Skulptur, des bedingungslosen Grundeinkommens und einer Gesellschaft jenseits von privatem und staatlichem Kapitalismus, in der der Honig der menschlichen Kreativität fließen musste.
Manchmal verstopfte der materielle Honig die Rohre. Dann verließ Beuys den mittleren Raum des Austauschs, in dem der materielle und nicht-materielle Honig zusammenkamen und ging ins Untergeschoss, das wie der Maschinenraum eines Schiffes war. Von hier aus wurde der Honig durch die Rohre gepumpt. Selbst in diesem Raum gab es eine Integration des Imaginativen und des Rationalen: Dort standen drei leere Eimer, gefüllt mit spiritueller Substanz neben der Maschine, die den Honig pumpte.
Was in der Honigpumpe geschah, zeigte mir, wie leicht es war, in dem Austausch von Argumenten und Diskussionen stecken zu bleiben. Und wie schwer es ist, einen Dialograum für ein neues Bewusstsein zu schaffen. Wenn Beuys sprach und an der Tafel zeichnete, selbst wenn er über wirtschaftliche Prozesse sprach, konnte er die Menschen in einen Raum der Imagination bringen. Im Austausch mit den Anwesenden wurde es aber schnell zum normalen Debattieren und Diskutieren. Dieser Aspekt der Honigpumpe war enttäuschend und frustrierend.
Die Fähigkeit zu antworten
e: Eine Enttäuschung, die aber in dir viel bewirkt hat?
ShS: Ich begann, Dialogprozesse zu entwickeln, die in der individuellen Erfahrung wurzelten, in den Gefühlen, Fragen oder Wahrnehmungen des Einzelnen. Indem die Menschen sich individuell und gemeinsam wieder mit ihrer Erfahrung verbanden, sie verkörperten, erkannte ich die Möglichkeit, dass man in einer Haltung sein kann, welche Information und Gewahrsein verbindet. Und daraus kann sich ein respektvollerer und ko-kreativer Dialog entfalten. Es war der Beginn eines langen Weges, um das Ästhetische aus den Begrenzungen der Kunstwelt zu heben und es wieder in unser Leben zu integrieren.
DIE IMAGINATION IST EINE FUNDAMENTAL ANDERE WEISE DES DENKENS UND IN-DER-WELT-SEINS.
e: In diesem Beuys-Jahr bist du wieder in Kassel. Auch jetzt geht es um die Arbeit mit verbindenden Praktiken und sozialen Forschungslaboren. Du gestaltest einen sogenannten »Survival Room«.
ShS: Ja, der »Survival Room« ist ein Aspekt von Kassel-21/Social Sculpture Lab, den ich für das documenta-Archiv, die Neue Galerie und die Stadt Kassel für das Beuys-Jubiläum gestalte. Der Raum befindet sich in der Nähe der Beuys-Installation »Das Rudel« in der Neuen Galerie, in der es auch ums Überleben geht.
100 Tage lang wird der Raum wie ein alchemistisches Labor dazu dienen, mit Fragen der Imagination als Erkenntnis zu arbeiten: Wir werden unser Menschenbild in Beziehung zur künstlichen Intelligenz untersuchen, wir werden »Weltsichten für den Einen Planeten« erforschen, aber vor allem zusammen über die Zukunft nachdenken, die wir gestalten wollen. Der »Survival Room« ist auch der Ort für eine besondere Aktion mit dem Titel »Ein Geschenk für Joseph Beuys: Die Substanz in den drei Töpfen«. Hier werden die Menschen eingeladen, inspiriert von den drei Töpfen in der Honigpumpe, in drei leere Töpfe zu schauen. Mit der Frage, welche »Substanz« uns ihrer Ansicht nach Beuys hinterlassen hat, die für die Zukunft wertvoll ist. Diese Aktion ist ein Geschenk für Joseph Beuys, weil wir daran arbeiten, unsere Gedanken, Wahrnehmungen und Imaginationen in eine Form zu bringen.
All die verschiedenen Themen und Aktionen, die im Zusammenhang mit dem »Survival Room« zum Ausdruck kommen, wurzeln in der Einsicht, dass Ästhetik all das ist, was unser Wesen belebt, im Kontrast zu Anästhesie oder Dumpfheit. In einer solchen Neubestimmung des Ästhetischen verstehen wir sowohl die Verbindung zwischen Ästhetik und Verantwortung als auch zwischen Verantwortung und Freiheit. Statt Verantwortung als Pflicht oder moralischen Imperativ wahrzunehmen, entfaltet sie sich als eine lebendige, neu entstehende Antwort. In solch einer neuen Imagination von Verantwortung liegt etwas, das ich als die »Fähigkeit-zu-antworten« beschrieben habe. Sie ist zentral für den Ansatz der Verbindenden Praxis, die jeden in die Lage versetzt, aus der Imagination heraus zu einem Mitgestalter der Veränderung und einer menschenwürdigen und lebensfähigen Zukunft zu werden.