Tod mit Wiedergeburt
Das Schumacher College wird »ausgewildert«
April 5, 2021
In der Geschichte der Menschheit war die Kunst der Erfahrungsraum, in dem sich unsere Welt auf eine besondere Weise zeigte. Eine Welt voll tiefer Bedeutung sprach zu uns. Wo zeigt sich heute diese eigentümliche Welt? Und was hat Joseph Beuys und sein Lauschen auf die Brüche und das Gebrochene unserer Zeit damit zu tun?
Wahrscheinlich war es die Tiefe, die verschlossene Dunkelheit der Höhle, die sie an diesen Ort brachte. Vor 17.000 Jahren gingen in den Höhlen von Lascaux im heutigen Frankreich Menschen mit Fackeln, wahrscheinlich begleitet von rituellen Trommeln und Musik, tief in den Schoß des Berges, um dort atemberaubende Bilder von Bisons, Berglöwen, Hirschen und Wildpferden an der Höhlenwand zu hinterlassen. Eine Darstellung eines Wesens, halb Vogel, halb Mensch, zeugt bis heute von einer Zeit, als unsere Seelen noch Flügel hatten.
Auch im antiken Griechenland waren die bunt bemalten Tempel solche Orte der Begegnung mit dem Mysterium. In Eleusis gedachten die Athener über tausende Jahre der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter – an jenem Ort, an dem sie der Sage nach in die Unterwelt stieg, um ihre Tochter Persephone aus der Gefangenschaft des Hades, des Herrn der Unterwelt, zu befreien. Die Bilder der eleusinischen Mysterien zeugen noch heute von der Welt der Griechen.
In St. Wolfgang, am österreichischen Wolfgangsee, gibt es einen der schönsten gotischen Flügelaltare des Alpenlandes, den ich immer wieder besuche. Im 15. Jahrhundert war St. Wolfgang einer der größten europäischen Pilgerorte, mit tausenden Pilgern aus vielen europäischen Ländern.
IM GEBROCHENEN ZEIGT SICH SCHÖNHEIT.
Nur an Ostern öffneten sich die Flügel des Altars. Für eine kurze Zeit gaben sie den Blick der Gläubigen auf die Jungfrau Maria frei, die kniend vor dem auferstandenen Christus durch den über ihr schwebenden Heiligen Geist zur Mutter Gottes gekrönt wird. Licht strömt aus den farbigen Glasfenstern darüber, glitzert auf den goldenen Strahlen des Heiligen Geistes und zieht den Blick auf die Schönheit Marias. Die Eröffnung dieses christlichen Mysteriums war für die versammelte Gemeinde mindestens so wahr wie der Wind, der über den See hinweg zog, und die Sonne, die über St. Wolfgang stand.
Ein anderer wunderbarer gotischer Altar, der Altenberger Altar, ursprünglich aus einem Kloster in Wetzlar, befindet sich heute im Städelmuseum in Frankfurt. Auch in seinem Zentrum steht eine Marienstatue mit dem Jesuskind im Arm. Aber perfekt ausgeleuchtet in einem der frisch renovierten Prunksäle des Museums wirkt dieser Altar, als wäre er irgendwie im Exil, in einer fremden Welt. Er ist nicht mehr das Zentrum und der Ausdruck einer Welt. Hier im Museum hat sich sein Wesen verändert. Er ist zum Ausstellungsobjekt geworden, wie die vielen anderen Kunstwerke des Städelmuseums.
Für uns ist das Altarbild von St. Wolfgang heute ein wunderbares »Beispiel der gotischen Bildschnitzerei«. Aber Werke wie diese waren in diesem Sinne keine eigentlichen »Kunstwerke«. Sie waren Augenöffner. Sie waren materielle Formen, die unseren Vorfahren dabei halfen, eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit zu erkennen. Sie waren Türen in eine Welt, die uns unmittelbar anging und in der die materielle Welt nur eine Oberfläche war. In ihnen wurde das Wesentliche, das, was der damaligen Welt Bedeutung gab, sichtbar.
Diese Türen scheinen für uns heute meist verschlossen zu sein. Die Welten, die sie einst öffneten, gibt es nicht mehr. Sie sind verblasst, haben ihre Wirklichkeit verloren.
Joseph Beuys lebte und wirkte in den 60er-Jahren in einer Zeit des technischen Triumphs. Sein Werk war durchdrungen von Rissen und Sprüngen, die er unserer alltäglichen Wirklichkeit zufügte. Er scheint sich schmerzhaft bewusst gewesen zu sein, wie sehr unsere technische Kultur erkaltet war. Und Beuys war auch ein Deutscher, ein Deutscher nach Auschwitz. Er war sich bewusst, wie der »Kunstimpuls« hier in den Abgrund geführt hatte. Wie aus Wagner Hitler wurde. Wie kann man gerade in diesem Land Kunst noch einmal zum Sprechen zu bringen?
Wie die Welt zu uns spricht
Die Welt sprach immer schon in Bildern und Symbolen zu uns. Noch bevor die Sonne für uns ein Stern mit 150 Millionen Kilometern Abstand zu uns wurde, um den sich die Erde dreht, war sie bereits Lebensspender, das Licht, das die Welt erhellt hat, die Kraft, aus der wir geboren wurden, Ra, der Sonnengott. Ihre Abwesenheit, die Nacht, war die Dunkelheit. Die Nacht war das Ungewisse. Tag und Nacht gaben sich und zogen sich zurück. Sie tun es immer noch. In den Bildern und Mythen öffnete sich für uns eine unmittelbare Wahrnehmung der Welt voller Bedeutung und Beziehung zu uns.
Als der Altar in St. Wolfgang noch lebendig war und keine Touristenattraktion, öffnete er unseren Vorfahren ihre Welt. Er gab ihnen bildlichen Zugang zu dem, was ihr Leben letztlich ausmachte, ihrer Sehnsucht nach dem Höchsten. In den Bilderwelten, Symbolwelten und Ritualen des christlichen Abendlandes, mit all seinen Begrenzungen und Deformationen, öffnete sich die Welt jenseits des Offensichtlichen. Es zeigte sich eine Quelle des Sinns.
BEDEUTUNG ENTSTEHT DURCH RESONANZEN, ZUSAMMENHÄNGE, DURCH KOMPLEXE HARMONIEN.
Aber die Welt zeigt sich auch in unserem Alltag in den Bildern, die wir in uns tragen. Wenn ich den Weg von meinem Haus hinaus in die Felder vor Frankfurt gehe, erkenne ich den Weg, auch ohne mir viel Gedanken zu machen als das, was er ist: ein Weg. Wege führen zu Orten. Sie verbinden Orte. Sie erlauben mir, Orte zu erreichen. »Der Weg« lebt in mir als ein Bild der Verbindung in der Welt und in die Welt. Auch wenn ich auf unserer kleinen Straße in den benachbarten Supermarkt gehe, um einzukaufen, oder wenn ich einen Weg zu neuen Einsichten finde, selbst der »Weg zu Erleuchtung« oder der Weg zu Reichtum lebt in mir als inneres Bild. In diesen Bildern öffnet sich die Welt. »Der Weg« wird mir zu einer wesentlichen Erfahrung.
Und eine Mauer ist eine Mauer. Manchmal verstellt sie den Weg, manchmal begrenzt sie und beschützt sie den Raum. Noch ohne jede Theorie darüber, was eine Mauer eigentlich ist, nehmen wir sie wahr, wenn sie uns den Weg verstellt oder wenn wir das Bedürfnis empfinden, uns hinter einer schützenden Mauer zurückzuziehen.
Wenn ich mein Handy in der Hand halte und nicht sehe, welche Funktion eine bestimmte Taste darauf hat, wie diese Taste mit dem Gerät ein sinnvolles Ganzes ergibt, dann ergibt diese Taste für mich keinen Sinn. Es fehlt die Wahrnehmung der Ganzheit, die Einheit zwischen Handy und Taste, die einer Taste erst ihren Sinn gibt.
Der Weg, die Mauer und die Ganzheit von etwas, das den Teilen einen Sinn gibt, das sind Eindrücke und Bilder, die in uns leben. Diese Bilder erschließen uns die Welt. Wir leben in ihnen. Ohne sie können wir uns auf keinen Weg begeben, keine Räume begrenzen, ohne sie erkennen wir keine Ganzheit, keinen Sinn. Der Baum, der wächst, die Erde, die trägt, über uns der offene Himmel – die Welt erschließt sich, wenn wir ihr erlauben, in Bildern zu sprechen. Und wenn diese Bilder zu einer Einheit finden, erfahren wir Sinn.
Man kann das auch ein mythopoetisches Wissen nennen oder ein partizipatorisches Wissen. Es ist ein anderes Wissen als unsere wissenschaftliche Erkenntnis, aber ohne dieses Wissen verschließt sich uns die Welt. Ohne dieses Wissen spricht die Welt nicht zu uns.
Die moderne Geschichte der Bedeutungslosigkeit
Die große eine Geschichte, die wir uns heute erzählen, ist die Geschichte der Wissenschaft. Sie handelt von ewigen Naturgesetzen, von systemtheoretischen Zusammenhängen, von Fortschritt und technischer Machbarkeit. Sie ist eine Geschichte der Fakten. Und sie ist wichtig. Wir sehen die Klimakrise nicht, wenn wir uns weigern, die berechenbaren Fakten zu sehen. Die Temperaturen steigen. Die Wettermodelle werden extrem. Das Eis schmilzt. Die Regenwälder werden der industriellen Landwirtschaft geopfert. Aber wir verstehen die Klimakrise nicht, wenn wir nur den Blick auf die Fakten richten. Sie haben keine eigentliche Bedeutung. Dass wir die Mutter Erde sterben lassen, ist eine tiefere und bedeutendere Wahrheit, als die Wissenschaft uns zeigen kann. So wichtig die wissenschaftliche Erkenntnis auch ist, auf sich allein gestellt erschafft sie eine bedeutungslose Welt – eine sprachlose Welt. In ihr sind wir »Subjekte«, die einer »objektiven« Welt gegenüberstehen.
Wir haben die Kunst und das Wesentliche, das sich in ihren Symbolen und Geschichten offenbart, ins Exil geschickt. Sie hängen in Museen zu unserer ästhetischen Erbauung. Die Unterhaltungsindustrie, die großen Kino- und Fernsehproduktionen, geben uns glänzende, auf den alten aufbauende, neue Geschichten. Doch sie sind als Unterhaltung gedacht, nicht als Sinnstiftung für unsere Gesellschaft. Letztgültig bleibt die Wissenschaft. Und aus der Perspektive der materialistischen Wissenschaft ist unsere eigene Sehnsucht nach Sinn und Beziehung mit dem Wesentlichen des Lebens lediglich etwas, das wir uns ausdenken, um unsere Hormone in Schwung zu bringen, damit wir »glücklich« sind.
Wir können der Welt keinen Sinn geben. Sinn gibt sich selbst. Sinn wird gefunden. Wenn wir denken, dass wir der Welt Sinn und Bedeutung geben müssen, dann glauben wir bereits, dass sie selbst keinen hat.
Der Guerillakrieger
Was soll man von einem Künstler halten, der eine Woche in New York verbringt, ohne dort einen Fuß auf den Boden zu setzen, um sich in einer Galerie mit einem Kojoten einsperren zu lassen? Die Ausstellung, die Beuys 1974 veranstaltete, hieß »I like America, and America likes me.« (Schauen Sie sich diese Aktion JETZT an. Der Link dazu ist am Ende des Artikels) Ist das ein perfektes Beispiel für Sinnlosigkeit? Oder etwas anderes?
Vielleicht versteht man ein wenig mehr von Beuys, wenn man ihn auch als Guerillakämpfer, ein Art Che Guevara für die Kunst versteht. Für eine Kunst, die ihre Kraft verloren hat, die Welt aus sich selbst sprechen zu lassen. Guerilleros kämpfen verdeckt. Mit einer spektakulären Aktion tauchen sie plötzlich auf und machen auf ihre Sache aufmerksam. Aber sie vertreten ihr Anliegen auf eine Art und Weise, in der man sie nicht wirklich zu fassen bekommt, weil das Umfeld, in dem sie sich bewegen, zu übermächtig ist.
In den 60er-Jahren, inmitten der Industrielandschaft der technischen Vernunft, setzt Beuys Zeichen. Mit den Versatzstücken der herrschenden Kultur schafft er Räume, in denen eine andere Wirklichkeit sichtbar wird. Im Schutz der Irritation spricht die Kunst wieder zu uns. Sie ist nicht im Exil des Kunstbetriebs, sondern mitten am Hauptbahnhof. »Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt«, sagt Beuys. Ja, das Mysterium, nicht die Unterhaltung, auch nicht die ästhetische Erbauung. Beuys durchbricht die Verbannung der Kunst. Die Honigpumpe am Arbeitsplatz pumpt einen Wärmestrom durch unsere kalte Arbeitswelt. Der tote Hase zeigt uns, wie Kunst sich nicht wegerklären lässt, und ein Eichenwald schlägt seine uralten Wurzeln mitten in der Stadt Kassel.
Im scheinbar Bizarren und Absurden kämpfte Beuys verdeckt gegen die Macht der Verlorenheit. Der Christusmythos, der für Beuys eine zentrale Bedeutung hatte, ist für ihn kein mittelalterlicher Glaube, sondern die Geburt des menschlichen Ichs, in der eine unermessliche schöpferische Freiheit geboren wird. Sein Glaube an die schöpferische Kraft des Menschen, Kunst zu schaffen – also an die heilige Tiefe, Würde und Kreativität –, war der Kern seiner Vision einer demokratischen Gesellschaft. Immer wieder, unermüdlich, bringt Beuys Menschen ins Gespräch, tagelang, wochenlang. Begegnungen, die selbst zum Zeichen einer anderen, einer sich frei im Geist vereinigenden Gesellschaft werden.
Und darin, immer wieder, leuchten das Mysterium und, ja, das Heilige auf. Sie leuchten auf eine Weise, in der sie nüchterner Spott nicht wirklich zu fassen bekommt. Beuys hat nicht nur Eichen gepflanzt. Er hat Samen einer neuen Kunst in unsere Industrielandschaft geworfen, mit denen es wieder gelingt, die Welt in ihrem Wesen zum Leuchten zu bringen.
Kunst öffnet Welten
Zu einem Zeitpunkt, als die Wunden der deutschen Nachkriegszeit noch frisch waren, setzte Beuys einen kraftvollen Impuls, die Kunst wieder sprechen zu lassen. Er versorgte die offene Wunde mit Fett, verband sie mit warmem Filz und verlautbarte das Mysterium am Hauptbahnhof. Man fragt sich, was er von den Zeiten halten würde, in denen wir heute leben. Die surrende Fortschrittsmaschinerie der 60er-Jahre ist zusammengebrochen und die Verheißungen von Wohlstand als Mittel zum Glück greifen nicht mehr. Die Fragmentierung unserer Gesellschaft reißt neue, tiefe Wunden. Wer wird sie jetzt versorgen?
Die Gebrochenheit, die Beuys freilegte, schuf etwas fast Unerklärliches. Im Lichte seiner Provokation verwandelte sie sich in Erkenntnis, zum Anklang von etwas Geheimnisvollem und Vollständigem. Im Gebrochenen zeigt sich Schönheit.
Inmitten unserer algorithmisierten Welt, die uns auf Dopamin konditioniert, hat Beuys etwas freigelegt. Sein Kunstimpuls der Sozialen Plastik schafft auf vielfältige Weise Räume der Begegnung. Inmitten der technischen Welt entstehen Lebenswelten, Begegnungswelten nicht nur zwischen uns, sondern auch mit einer Welt, die wieder direkt in ihren Farben und ihren Formen, in ihren Bildern und Mythen spricht.
WENN WIR DIE WELT ZU UNS SPRECHEN LASSEN, FINDET SICH IHR SINN IMMER WIEDER NEU.
Bäume, die zu einer Universität werden, sind andere Bäume, als wir sie kennen. In der von Shelley Sacks begründeten University of the Trees zeigen Bäume ihr anderes Gesicht. Gehen Sie einmal in den nächsten Wald oder Park und betrachten Sie die Bäume dort als eine eigene Form der Universität. Sie werden die Bäume nicht wiedererkennen.
In den letzten Jahrzehnten entstand eine Vielzahl von Initiativen und Projekten, die in all ihrer Unterschiedlichkeit eines miteinander verbindet: Sie lassen die Wirklichkeit in neuen Weisen zu uns sprechen und darin taucht Wahrheit anders auf als im wissenschaftlichen Kalkül.
Was verbindet Wissenschaft und Kunst, wenn sich Wahrheit so unterschiedlich zeigt? Wie leben wir mit dem Schisma zwischen wissenschaftlichen Fakten und symbolischer Bedeutung? Es ist keine Stärke der Wissenschaft, mit Widersprüchen zu leben. Sie braucht die Eindeutigkeit. Wissenschaft, das ist auch der Gladiatorenkampf zwischen konkurrierenden Hypothesen.
Der Kunstimpuls funktioniert anders. Bedeutung entsteht durch Resonanzen, Zusammenhänge, durch komplexe Harmonien. Dinge fallen an ihren Platz. Die verschiedenen Schichten eines Symbols, einer Geste oder einer Inszenierung fügen sich zu einem neuen Ganzen zusammen, das seine Bedeutung und Botschaft offenbart. Die Teile offenbaren ihre tiefere Verwandtschaft. Widersprüche hören auf, sich zu auszuschließen, obwohl sie nicht verschwinden. Ein größeres Werk wird geschaffen, ein neues Ganzes.
Der englische Kunstphilosoph Andrew Bowie sprach vom unterschiedlichen Umgang mit der Wahrheit im Jazz. Im endlosen offenen Dialog entsteht dort aus den härtesten Brüchen und Gegenthesen, durch Zuhören, Zuwendung und Antwort eine neue, vielschichtige Harmonie.
Im Erkennen der Form, der Ganzheit, der Harmonie transformieren sich krasse Brüche und unüberwindliche Gegensätze zu einer neuen komplexen Schönheit. Auf einmal macht das Musikstück »Sinn«. Wenn wir die Welt zu uns sprechen lassen, wenn wir uns auf den offenen Dialog mit dem Mysterium einlassen, findet sich ihr Sinn immer wieder neu.