Beuys ist ein wachsender Impuls
Als Weggefährte führte Volker Harlan viele Gespräche mit Beuys und erlebte, wie dieser in den intensiven Dialogen während seiner Aktionen das gemeinsame Denken in kreative, utopische Horizonte öffnen wollte. Aus dieser Bewegung können wir Gesellschaft ganz neu gestalten.
evolve: Joseph Beuys hat mit seiner Arbeit unsere Vorstellung von Kunst auf den Kopf gestellt. Inwiefern unterscheidet sich sein Verständnis der Kunst?
Volker Harlan: Einerseits gar nicht, er setzt ja die Kunst fort, er produziert ja fortwährend Kunst. Auf der anderen Seite hat er den Kunstbegriff erweitert: Indem man überhaupt schöpferisch ist, so Beuys, ist jeder Mensch ein Künstler, insbesondere in Hinblick auf die Gestaltung des sozialen Organismus, der selbst ein Kunstwerk ist. Sein Erweiterter Kunstbegriff meint immer auch gesellschaftliche Gestaltung – die Menschen sind Künstler und Material zugleich.
e: Gesellschaftliche Gestaltung als eine Form gemeinschaftlicher Kunst, das ist neu. Aber warum braucht er dazu einen erweiterten Kunstbegriff?
VH: Er ging davon aus, dass wir bei unseren Denkformen ansetzen müssen, also der Art und Weise, wie wir über die Welt denken. Denn, so sagt er, schon, wenn wir einen Gedanken bilden, sind wir bildende Künstler. Und wenn wir den Gedanken in Worte bringen und diese Worte in die Tat umsetzen, sind wir fortwährend Gestalter von etwas, was Wirklichkeit werden soll.
DIE MENSCHEN SIND KÜNSTLER UND MATERIAL ZUGLEICH.
Die Gestalt der Gesellschaft ist nicht etwas Gegebenes, sondern muss jeweils aus der anzuschauenden Lage hervorgebracht werden. Damit ist sie ein künstlerisches Gebilde, weil das Gesellschaftliche in Form einer harmonisierten Ganzheit gestaltet werden muss.
Das Geistesleben, das Wirtschaftsleben und das Rechtsleben versteht er, auch im Sinne von Rudolf Steiners Dreigliederungsidee, als drei Organe eines Organismus. In einer Gesellschaft als einem organischen Ganzen ist das Geistesleben dasjenige, das die Form entwirft und beschreibt, was menschenwürdig ist. Das bewahrt eine Gesellschaft davor, dass zum Beispiel das Wirtschaftsleben zu stark in die Welt eingreift, wie es heute der Fall ist. Denn sonst entstehen Krebsgeschwüre, die den Organismus auffressen, unsere Lebensgrundlagen zerstören. Deshalb entstehen ja die aktuellen Diskussionen um den Lobbyismus.
Richtkräfte harmonisieren
e: Jetzt hat Beuys aber keine Bücher über die Dreigliederung der Gesellschaft geschrieben, er wirkte als Künstler.
VH: Sein Feld war die Aktion, in die er Leute einbezog, entweder indem sie Zuschauer einer Aktion waren, die sich vor ihnen vollzog, oder indem er wie z. B. in London ein drei Wochen langes Gespräch führte, eine permanente Konferenz, wie er das nannte. Dieses Gespräch schlug sich in den vielen Wandtafeln nieder, die in Berlin als das Werk »Richtkräfte einer neuen Gesellschaft« ausgestellt sind. Mit diesen Gesprächen hat er Denkbewegungen hervorgerufen, und zwar im Gespräch, nicht primär lehrend, wenngleich er die Gespräche natürlich auch führte.
e: Das ist ja auch eine andere Weise, mit Sprache umzugehen, wenn man nicht primär Inhalte vermitteln, sondern Denkbewegungen auslösen möchte. Was meint er, wenn er von Richtkräften spricht?
VH: Diese Richtkräfte sind die drei Grundkräfte, die auf ein Gesellschaftsbild einwirken. Es sind nicht nur Vorstellungen, sondern Kräfte, die gestalten und umgestalten.
Wenn der Einzelne ein Gespräch mitvollzieht, dann bewegt er diese Kräfte. Zunächst einmal beginnt er oder sie zu verstehen, was ein anderer meint. Aus dem Verstehen heraus können wir unser Eigenverständnis befragen und dann drittens neue Bilder entwerfen. Derjenige, der das Gespräch verlässt, schaut im besten Falle mit anderen Augen in die Welt. Beuys entwickelte ein ausführliches Informationsmodell und Zeichnungen dazu, wie sich zwischen Sender und Empfänger eine Soziale Plastik bildet.
Die erste Richtkraft blickt in die Zukunft. Damit gehört sie dem Geistesleben an. Die Sozialphilosophie denkt und entwickelt Utopien. Sie entwirft die Zukunft – und das immer unter dem Gesichtspunkt: Wie kann das Ganze der Gesellschaft ein harmonischer, menschenwürdiger Organismus werden? Dominiert diese Richtkraft allerdings, wird der Staat zu einer ideologischen Diktatur wie bei Platon oder Mao.
Die zweite Richtkraft wirkt im Rechtsleben, der vermittelnden Kraft des staatlichen, gesellschaftlichen Systems. Ihre einzige Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Freiheit des Einzelnen bewahrt bleibt. Dominiert diese Kraft, dann blockiert sie freie Initiativen durch Verordnungen und Gesetze.
Die dritte Richtkraft hat einen wuchernden Charakter. Sie zeigt sich im Wirtschaftsleben. Hier versucht Beuys, die Brüderlichkeit zu stärken. Damit deuten wir in eine absolute Zukunft, denn Brüderlichkeit wird das Allerletzte sein, was die Menschheit in der Lage sein wird herzustellen. Aber zunächst muss sie eben gedacht werden. Das ist ja heute in großem Maßstab der Fall, indem man sich anschaut, was in der Welt passiert, und sich fragt: Wie kann in Hinblick auf die bestehenden Ungleichheiten Ausgleich geschaffen werden? Selbsthilfegruppen, NGOs, Fundraising für gemeinnützige Zwecke usw. zeugen von persönlichem Engagement.
Denkbewegungen hervorrufen
e: Das Gespräch wird so zur Werkstatt der Gesellschaft. Indem wir aufeinander eingehen und uns aufeinander beziehen, beginnen wir diese Kräfte zu bewegen. Im Gespräch formt sich die Gesellschaft.
VH: Er wollte im Gespräch gemeinsam bedenken, wie wir die Welt der Zukunft gestalten können. Für diesen gesprochenen Impuls hat er bis zum letzten Augenblick ungeheure Energien eingesetzt. Es ging natürlich jeweils um den Inhalt, der sich meistens mit der Umgestaltung des Wirtschaftslebens, des Bankenwesens, des Geldwesens beschäftigte, vor allem aber um die Mitgestaltungsmöglichkeiten jedes Einzelnen.
Bei seiner Aktion »Honigpumpe am Arbeitsplatz« während der documenta 6 fand ja 100 Tage lang von morgens bis abends ein Gespräch statt. Es war dieser Gesprächsraum, der das Zentrum einer sozialen Skulptur (s. o.) wurde. Die Menschen waren die Substanz, das Material, das diese Skulptur bildete. Und diese Aktion war eine Vorstufe von dem, was er bei der nächsten documenta sagte: Jetzt gehen wir raus und gestalten die Stadt um! Zum Staunen der Bürger hatte er 7000 Basaltstelen auf die Wiese vor dem Fridericianum, dem zentralen Ausstellungshaus in Kassel, legen lassen, die tatsächlich innerhalb von fünf Jahren in den Straßen der Stadt verbaut wurden. Neben jede Stele wurde ein Baum gepflanzt. In diesen immer weiter wachsenden Bäumen leben heute die in den Gesprächen angeregten Gedanken weiter.
Wärmesubstanz verbreiten
e: Gibt es eine Art Urbild oder Symbol seines plastischen Denkens und Gestaltens?
VH: Seine Aktion »Fettecke« ist eine ästhetische Handlung, die zugleich einen sozialen Impuls repräsentiert. Hier sind für Beuys die Substanzen als Träger künstlerischer Qualität wichtig. Das Fett entsteht in der Natur in jedem Samen. Immer wenn in einer Blüte ein Samenkorn entsteht, entsteht in dem Keim auch Fett. Das Fett ist die energiereichste Substanz, die die Pflanze hervorbringt. Diese Substanz hat genau wie der Same gar keine Form, sondern nur eine Richtkraft, eine Energie.
Dieses chaotische ungeformte Fett mit seiner ganzen Wirkkraft bringt er in die Ecke eines kubischen Raumes. Der ist ohne Fenster, als Symbol dafür, dass sich der »West-Mensch« im Laufe der Geschichte von der lebendigen Natur abgenabelt und stattdessen durch Technik isoliert hat. In diesen kalten, nackten Raum trägt er dann Stück für Stück das Fett und formt eine Ecke, sodass ein gleichschenkliges Dreieck entsteht: die Fettecke. Dieses Fett als Wärmesubstanz soll den Kälteraum durchdringen. Es gibt ein Foto, auf dem man sieht, wie es in die Wände kriecht.
Wenn dieses Fett anfängt, den Raum zu durchdringen, wird es zum Ausdruck einer Utopie: Wenn wir mit genügend Wärmesubstanz in das technokratische Denken hineinwirken, kann sich dieses Denken verändern, sodass es beweglich wird. Es kann wie eine heilende Salbe wirken und dem Menschen die Seele öffnen für die Natur, für den Mitmenschen und für die spirituelle Wirklichkeit.
e: Offensichtlich leben diese Aktionen heute noch weiter. Sie entfalten ihre Wirkkräfte, auch in diesem Interview. Und eigentlich ist es auch erstaunlich, welche Wirkkraft Beuys entfaltet hat und noch immer entfaltet. Was ist hier in Bewegung?
SCHON WENN WIR EINEN GEDANKEN BILDEN, SIND WIR BILDENDE KÜNSTLER.
VH: Ich glaube, das ist im Grunde etwas Ähnliches wie heute Fridays for Future. Wobei Fridays for Future sehr viel spezieller ist und das, was die Träger dieses Impulses wollen, ist für jedermann unmittelbar wahrzunehmen. Das Beuys’sche Gedankengebilde zur Umgestaltung der Gesellschaft ist komplexer und schwieriger zu erfassen. Aber wenn Beuys sprach, ging von ihm sozusagen das Feuer des Propheten aus. Bei seiner Lehmbruck-Rede sagt er ja auch, dass er die Flamme aufnahm und weiterzugeben versuchte – die Begeisterung für die Gestaltung und Umgestaltung des sozialen Organismus. Das haben die Leute gespürt und dieses Feuer ist nicht erloschen. Es ist als Funke in viele Seelen übergegangen und wirkt weiter. Man muss sich daran erinnern, dass Beuys damals diese Gedanken in einer Zeit entwickelte, in der die marxistische Linke mit faschistoiden Methoden versuchte, der Gesellschaft eine sozialistische Diktatur überzustülpen. Beuys wollte keine Ideologie, keine Macht, sondern er wollte, dass jeder einzelne Mensch sich mit anderen in Freiheit zu neuen gesellschaftlichen Formen verbinden könnte. Das hat damals vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen und tut es noch heute.
Liebe ausstrahlen
e: Beuys – ein Sozialreformer?
VH: Das greift zu kurz. Er hat eben keine Sozialreform formuliert. Er hat jeweils im Gespräch dieses oder jenes hervorgehoben und entwickelt. Er schrieb kein Buch über die Umgestaltung des sozialen Organismus. Er setzte sich als Person, als Lebenskünstler ein und hinterließ Zeichen – in Form von Objekten und Zeichnungen.
e: Sie haben Beuys ja persönlich gekannt. Was hat Sie beeindruckt?
VH: Ein Eindruck war das Feuer, das in ihm brannte. Und dieses Feuer sprang über auf den, mit dem er sprach. Ich habe in meinem Leben keinen Menschen kennengelernt, der auf seine Weise mehr Liebe ausstrahlte. Mit jedem, der zu ihm kam, war er bereit zu sprechen. Es gab keine Frage, die Beuys nicht voll aufnahm und so weiterführte, dass der Fragende mehr erfuhr, als er selbst fragen konnte. Es war eine Fähigkeit, Empathie zu entwickeln und in dieser Empathie etwas herüberzuleiten, in den anderen hineinzuerkraften, das diesen aus dem Gespräch mit dem Gefühl weggehen ließ: Der Beuys ist mein Freund. Abgesehen davon, dass er jeden duzte, weil er jeden Einzelnen wirklich als Individuum ansprechen wollte.
Wachstum hervorbringen
e: Was waren die Kräfte, die Beuys antrieben? Was waren die Kräfte, die ihn zu dem machten, der er war?
VH: Beuys erzählte, dass ihm als Kind immer wieder in einer Art Vision eine Gestalt begegnete, die ihm sagte: »Ich habe es versucht auf meine Weise, versuche du es nur auf deine Weise« – so beschrieb er es in einem Brief. Er fühlte, er wusste, dass er einen »Auftrag« habe. Dieser Auftrag bezog sich auf die Verwirklichung der Idee der sozialen Dreigliederung. Das wurde ihm in der Mitte seiner Zwanzigerjahre bewusst und nun galt es, eine Form zu finden, um auf seine Weise diesen Auftrag zu verwirklichen.
DIE GESTALT DER GESELLSCHAFT IST NICHT ETWAS GEGEBENES.
Er entdeckte zunächst, dass alles Lebendige in der Welt dreigliedrig gestaltet ist – von der Pflanze mit Wurzel, Blattmetamorphose und Blüte über den Menschen mit Denken, Fühlen und Wollen bis zur göttlichen Trinität. Erst in den 60er-Jahren begann er für den Impuls der sozialen Dreigliederung zu wirken. Er wollte aber nicht parteipolitisch aktiv werden, ja, er wehrte sich gegen die »Parteiendiktatur«, gegen politische Machtstrukturen. Seine Form wurde die Aktion, die Zuspruch und Widerspruch hervorrief, und damit das Gespräch von Mensch zu Mensch eröffnete. Beuys‘ Möglichkeit war, durch das Wort auf die Menschen zu wirken und das Reden durch Zeichen zu begleiten. Er glaubte an die Gestaltung und Umgestaltung der Zukunft – ein Scheitern sei nicht möglich, sagte er zu Georg Jappe.
e: Wo steht der Beuys’sche Impuls heute, in einer Zeit, die für ihn Zukunft war? Ist sein Impuls noch in seiner anfänglichen Entwicklung oder ist er schon in seinen reifen Jahren und so weit, von etwas Neuem abgelöst zu werden?
VH: Sein Impuls bleibt immer an der Wachstumsspitze, bleibt immer im Moment des »evolve«. Der Impuls ist eine Idee und kein äußeres Werk. Aber so, wie die Pflanze am noch gestaltlosen Vegetationspunkt fortwährend etwas aus sich heraus gliedert, was Gestalt annimmt, so muss diese Idee sich wie ein Samenkorn im Laufe der Zeit mehr und mehr entfalten und durchsetzen – im Bewusstsein dessen, dass sie immer gewaltige Gegenkräfte haben wird. Wo das in persönlicher Freiheit gelingt, kann der Same, den Beuys ausgestreut hat, wachsen. Aber gerade das setzt die Kraft frei, mit anderen zusammen in künstlerischem Sozialprozess eine menschenwürdige Zukunft zu gestalten. – Der Baum wächst und wird Früchte tragen, der Stein kann sich nicht verändern. Die Möglichkeiten keimkräftig denken, in einen sozialen Bewegungsimpuls überführen und immer neue Gesellschaftsformen entwickeln – das war sein Erweiterter Kunstbegriff.