Es geht also um Poesie. Aber nicht um das, was man landläufig vielleicht mit Reimen oder den so genannten Poesiealben verbindet, mit denen man uns als Kinder traktierte, sondern um die Frage, was die Poesie von anderen Formen, mit denen wir uns in der Welt orientieren, unterscheidet. Was ist der Kern der Poesie und in welchem Maße könnte eine poetische Haltung in der Lage sein, etwas von der Schwere zu nehmen, mit der wir die Erde seit Langem belasten?
Es geht also um Erleichterung und Leichtigkeit nicht im Sinne von Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit oder Wegschauen, sondern im Gegenteil darum, wie wir durch den poetischen Blick auf uns selbst und darauf, wie wir handeln und mit der Erde umgehen, diese auch entlasten könnten.
Die poetische Wahrnehmung ist im Grunde genommen eine sehr genügsame Wahrnehmung. Sie gibt sich erst einmal ganz zufrieden mit dem, was ihr zur Verfügung steht, ja, man könnte sogar sagen, sie schöpft ihren ganzen inneren Reichtum aus der einfachen Tatsache, dass etwas ist. Nicht von ungefähr spricht der Dichter Federico Garcia Lorca vom Ursprung des poetischen Bildes aus dem Erleben der Kindheit. Denn im Zustand der Kindheit erfahren und erleben wir die Dinge noch viel intensiver und rätselhafter als mit dem schon an sie gewöhnten und gleichsam durch die Erfahrung verbrauchten Blick.
Wenn wir aber versuchen, dieses noch frische, unverbrauchte Erleben des Kindes wieder wach zu rufen, können so einfache Dinge wie ein Gespräch, das Schälen eines Apfels oder die Betrachtung eines Vogels im Flug zu einem echten Erlebnis werden. Unsere Wahrnehmung geht, um es einmal so zu formulieren, nicht in die Breite, sondern in die Tiefe, und senkt sich, wie ein Echolot, in das Mysterium des Daseins in all seinen Äußerungsformen hinein.
Ich glaube, man kann jetzt sehr gut verstehen, warum man die poetische Wahrnehmung als eine sehr nachhaltige Form menschlichen Verhaltens bezeichnen kann. Sie verbraucht nicht, sondern ernährt sich aus dem Erleben. Sie benutzt nicht, sondern bezieht ihre Genugtuung allein daraus, dass etwas ist und dass wir als Menschen die Fähigkeit haben, uns in dieses Etwas hineinzuversetzen, es in uns wach zu rufen und gleichsam in uns auferstehen zu lassen.
DIE POETISCHE WAHRNEHMUNG IST EINE SEHR GENÜGSAME WAHRNEHMUNG.
So gesehen macht uns die Poesie zu sehr genügsamen Wesen, die einen Teil ihrer Zufriedenheit daraus beziehen, dass sie wissen, dass sie ein Wahrnehmungsorgan sind, mit dem sie die Welt als Schöpfung erleben und erfahren und geistig in sich entfalten können.
Insofern kann uns aber diese poetische Vertiefung der menschlichen Wahrnehmung auch in das Zentrum der Nachhaltigkeitsdebatte führen, denn hier geht es um die Frage nach einem nachhaltigeren Umgang des Menschen mit seinen natürlichen und sozialen Ressourcen. Der derzeit nicht nachhaltige Umgang mit ihnen ist ja gerade durch ein Kosten-Nutzen-Schema geprägt, das alle Dinge nach ihrem Verbrauchswert taxiert und das sich wie ein unsichtbares Raster durch unsere Beziehungen zieht. Dieser rationale und rationalisierte Zugriff lässt aber die Tiefenschichten und Tiefendimensionen, von denen ich eben sprach und die uns innerlich wirklich berühren und eigentlich erst zu Menschen machen, verkümmern.
Der zugerichtete Blick lässt vergessen, dass jenseits des Kosten-Nutzen-Schemas, jenseits des merkantilen Blicks und jenseits der allmächtigen Sachzwänge auch noch ein Herz schlägt, das sich auf eine innigere Weise mit dem Dasein und dem Daseienden verbinden möchte. Er lässt vergessen, dass es eine Existenzweise gibt, die nicht auf der Erde lasten möchte, sondern die selbstgenügsam sich rein mit dem zufrieden gibt, was ist. So ein liebevolles Verhältnis zur Welt sollten wir zunächst in uns entdecken, damit die Freude wieder zurückkehren kann. Denn ich wage die steile These, dass die ungeheure Raserei, mit der wir uns in Höchstgeschwindigkeiten durch Raum und Zeit bewegen, im Kern nichts anderes ist als der zum Scheitern verurteilte Versuch, einer inneren Leere zu entkommen, die aus der systematischen Entankerung und Entwurzelung resultiert, mit der wir uns seit Generationen vom Seienden hinwegbewegen. Die Zunahme des Luftverkehrs auf der physischen und die Hinwendung zur virtuellen Realität auf der geistigen Seite sind nur die beiden Seiten einer Medaille. Wir versuchen der Leere zu entrinnen.
So gesehen plädiere ich auf allen Feldern und besonders auf dem Feld der frühkindlichen Erziehung für eine Renaissance der Poesie. Sie wird uns mit Sicherheit nicht allein aus unserer selbstverschuldeten Misere führen, in die wir uns – aus welchen Gründen auch immer – begeben haben. Aber sie kann Wichtiges leisten und vor allem lehrt sie uns das eine: dass es ein großes Geschenk ist, dass wir mit all unseren Sinnen das Hiersein erleben und erfahren dürfen.