Wenn wir die Wirklichkeit nicht verstehen und sinnvoll erfassen können, werden wir die Herausforderungen, denen wir als Menschen gegenüberstehen, nicht meistern können. Allerdings war es noch nie so schwer wie heute herauszufinden, was in der Welt geschieht. Wir leben in einer immer komplexeren Umgebung, und die Institutionen, die uns früher beim Verstehen halfen, haben sich nicht schnell genug weiterentwickelt. Unsere Regierungen und Medieneinrichtungen, Denkfabriken und Religionen sind nicht dafür geschaffen, mit der sich exponentiell entwickelnden kulturellen Komplexität und der Flut von verschiedenen Perspektiven umzugehen, denen wir online begegnen.
Noch dazu leben wir in einer Zeit, in der die Idee von Wahrheit selbst infrage gestellt wird. Zahlreiche Narrative wetteifern um unsere Aufmerksamkeit, während die Marktkräfte unsere Institutionen verzerren und uns zwingen zu hinterfragen, welchen Informationen wir vertrauen können.
ES WAR NOCH NIE SO SCHWER WIE HEUTE HERAUSZUFINDEN, WAS IN DER WELT GESCHIEHT.
Es gibt einen oft benutzten Begriff, um die Art und Weise, wie wir uns der komplexen modernen Welt annähern können, zu beschreiben: Sense-Making, ein Wort, in dem Verstehen und Sinngeben zusammenfallen. Sinngebung ist aber mehr als reines Verstehen. Es ist ein Prozess, in dem wir ständig Informationen aufnehmen, interpretieren und deuten, um zu entscheiden, wie wir handeln sollen. Dieser Prozess ist flexibel, von den Umständen abhängig und kreativ. Eine gute Sinngebung brauchen wir auch, um durch die sich ständig verändernde Medienlandschaft voller Meinungen und Berichte zu navigieren, denen man nur nach sorgfältiger Prüfung trauen kann.
Es kann einen dazu verleiten zu denken, Sinngebung sei ein sehr moderner Begriff, der als Antwort auf die Welt des 21. Jahrhunderts aufgekommen ist. Er ist jedoch nur ein neues Wort für einen alten Prozess, den wir in spirituellen Traditionen überall auf der Welt finden. Ein Prozess, durch den wir die Täuschungen der Welt durchschauen und zu tieferer Weisheit finden.
Diese Weisheit deutet darauf hin, dass es eine tiefere, zugrunde liegende Wirklichkeit gibt, jenseits derjenigen, die wir mit unserer Sprache konstruieren können. Wir können sie in Gipfelerfahrungen erahnen, aber wir werden sie nie völlig verstehen. Sie ist ihrem Wesen nach ein Geheimnis.
Drei Kräfte in der westlichen Welt haben dazu geführt, diese Weisheit zu verdunkeln. Die erste ist der wissenschaftliche Reduktionismus, der die Welt erklären will, indem er sie in immer kleinere Teile zerlegt. Die zweite ist die Postmoderne, eine Weltsicht, die zunächst als Kunstkritik begann und dann die gesamte Geisteswissenschaft vereinnahmte. Sie hat zu dem Glauben geführt, dass unsere Identitäten sozial konstruiert sind und keinen tieferen Grund haben. Ebenso hat sie sich auf die Dynamik von Macht und Unterdrückung als den grundlegendsten Antrieb der menschlichen Erfahrung fokussiert, was im Gegenzug zu einer pathologischen Fixierung auf die Identitätspolitik geführt hat. Die dritte treibende Kraft ist die Marktwirtschaft, die der Welt transzendente Sinnhorizonte entzogen und durch Konsum ersetzt hat.
Das Ergebnis ist, dass sich viele Menschen in einer »Sinnkrise« befinden. Wir sind dem Nihilismus oder dem Narzissmus verfallen und haben dabei den Zugang zu den alten Weisheiten verloren, die uns daran erinnern, dass unsere Wahrnehmung unserer Realität nicht die Realität selbst ist. Vielmehr ist unsere Wahrnehmung wie ein zerbrochener Spiegel, der etwas Subtiles und Schönes reflektiert, das wir niemals ganz erfassen können.
Und wenn wir den vielen Krisen, denen wir gegenüberstehen – ökologisch, ökonomisch, psychologisch und institutionell – gewachsen sein wollen, dann müssen wir gleichzeitig Antworten auf die Sinnkrise finden. Das mag bedeuten, dahin zurückzugehen, wo Sinngebung eigentlich entsteht – im Forschen nach dem Wesen der Wirklichkeit und unserem Platz darin.
Das wird uns auf eine Reise in den Kern unseres Menschseins führen und zu der Frage, welche Geschichte wir mit unserem Leben erzählen wollen. Sie wird uns dazu auffordern, jede Fertigkeit, die wir als menschliche Spezies im Laufe unserer Geschichte entwickelt haben, zu nutzen. Sie wird uns einladen, gleichzeitig aus der Intuition, der Ästhetik, der Verkörperung, der Wissenschaft und der Vernunft zu schöpfen. Wenn wir es schaffen, diese Zugänge zum Wissen im Gleichgewicht zu halten, dann werden wir vielleicht genug Sinn und Erkenntnis eröffnen, um die Herausforderungen, die vor uns liegen, zu meistern.