Langsam wird es ungemütlich. Auf der Welt, meine ich. Naja, für viele war es schon länger ungemütlich, zumindest soweit ich zurückdenken kann. Da war immer dieses schlechte Gewissen – mir geht es so gut, während es so vielen anderen so schlecht geht. Jetzt bin ich schon über vier Jahrzehnte hier, alle reden immer davon, dass man da doch mal was machen müsste – die armen Menschen, die armen Tiere, der arme Planet – aber es scheint nicht wirklich besser zu werden. Und wenn ich ehrlich bin, so sehr mich das alles schmerzt und schon immer geschmerzt hat – mein Leben ist noch ziemlich gemütlich. Auch wenn ich mich unter den Menschen umhöre, mit denen ich Kontakt habe – so richtig ungemütlich scheint es bei den meisten auch noch nicht zu sein. Wenn ich mir die Probleme anhöre, mit denen sie sich befassen, die Entscheidungen, die sie zu treffen haben, dann fallen all diese – genau wie meine auch – in die Kategorie »First World Problems«.
Ich beobachte bei mir selbst und anderen unterschiedliche Strategien im Umgang mit dieser Situation. Die komfortabelste und einfachste Lösung besteht natürlich darin, den Rest der Welt einfach auszublenden. Bis wir ihn als exotische Kulisse für Instagram oder Inspiration für etwas mehr spirituellen Tiefgang im eigenen Leben benötigen. Dann können wir vor allem auch die Verantwortung ausblenden, die mit Privilegien eigentlich einhergeht.
Ein weiterer Umgang besteht in dem verzweifelten Versuch, dieser Verantwortung auch nur annähernd gerecht zu werden. Wir suchen Schuldige, reiben uns auf, schämen uns, engagieren uns politisch, optimieren unseren ökologischen Fußabdruck, kaufen nur noch bio und fairtrade – nur um festzustellen, dass wir damit lediglich in ein Premium-Marktsegment wechseln, das vor allem auf eine winzige, gut betuchte Elite abzielt. In Momenten großer Ehrlichkeit erkennen wir, dass nichts von dem, was wir als Einzelne tun können, auch nur eine annähernd adäquate Antwort auf den großen Schmerz der Welt ist. Genau wie nichts von dem die Tatsache ändert, dass wir in einen goldenen Käfig hineingeboren wurden und auch in diesem sterben werden.
»Jedes Herz, das seine Liebesfähigkeit entdeckt, macht die Welt ein bisschen wärmer.«
An diesem Punkt der Erkenntnis sind zwei weitere Entwicklungen möglich: Wir kapitulieren und ziehen uns in den Nebel des Vergessens zurück. Wir blenden das Leid der Welt erneut aus und konzentrieren uns auf unsere Problemchen. Oder wir erkennen an, dass es zwar weder in unserer Macht liegt, den goldenen Käfig aus der Welt zu schaffen, noch ihn zu verlassen, es jedoch sehr wohl einen Unterschied macht, wie wir uns aus diesem Käfig auf die Welt außerhalb beziehen. Indem wir den Mut finden, uns mit dem Herzen immer wieder dem Leid zuzuwenden – innerhalb und außerhalb des Käfigs –, steigen aus unserem Herzen Antworten auf, wie genau wir genau jetzt aus genau unserer Position dieses Leid lindern können. Und wir erkennen, dass jedes Leid, das gelindert wird, relevant ist. Vielleicht nicht im großen Ganzen. Aber sehr wohl in der Realität des einzelnen Wesens, dessen Leid nachlässt. Für dieses eine Wesen ist es in dem Moment das Leid seiner ganzen Welt. Genau wie jedes Herz, das seine Liebesfähigkeit im Angesicht des Leidens bewahrt oder gar entdeckt, die Welt ein bisschen wärmer macht – nicht zuletzt auch die eigene ganze Welt.
Wenn wir lernen, uns auf diese Weise der Welt zuzuwenden, dann reiben wir uns nicht mehr darin auf, uns für alles zuständig zu fühlen – ein Anspruch, an dem wir als Einzelne scheitern müssen. Stattdessen lernen wir, aus unserem Herzen zu erspüren, für was wir gerade zuständig sind und welcher Teil des großen Schmerzes wirklich von uns Linderung erfahren möchte und kann. Und wir erahnen, dass, wenn jedes Herz in dieser Art erwachen würde, der große Schmerz der Welt auf wundersame Weise doch Linderung erfahren könnte. Doch das ist nur eine Ahnung. Viel wichtiger ist, dass uns auf diesem Weg beides gelingt: mit der Realität des goldenen Käfigs Frieden zu schließen und mit der Realität außerhalb in Beziehung zu sein auf eine Art, die ehrlich, verbunden und heilsam ist.