Wie wir lernen, uns bewusst zu entwickeln
Bildung wird oft als Allheilmittel für jedes Problem gesehen. Wir denken, die Bildung wird das Problem engstirniger Populisten lösen, wird benachteiligten Menschen helfen, eine gute Arbeit zu finden und sogar eine Revolution in der Gesellschaft auslösen. Aber echtes Lernen – Lernen, das zu Transformation führt – erfordert mehr als das, was wir in der Schule lernen können; es ist ein tief reichender und herausfordernder Prozess. Könnte der wichtigste Aspekt dieses Lernprozesses die Entwicklung unserer Fähigkeit sein, mit den Menschen in eine tiefe Beziehung zu kommen, die anders sind als wir?
Die Menschen haben eine große Ähnlichkeit mit heranwachsenden Schimpansen. Der poetische Kosmologe und evolutionäre Ökologe Brian Swimme sagt, wir verhalten uns tatsächlich eher wie heranwachsende als wie erwachsene Schimpansen. Das scheint als Erklärung für einen guten Teil des menschlichen Verhaltens zu taugen, aber es ist nicht so lustig, wie es klingt. Wenn ein Baum in der Savanne vom Blitz getroffen wird, fliehen die erwachsenen Schimpansen voller Schrecken. Die heranwachsenden Schimpansen dagegen sind neugierig und fasziniert und laufen zum brennenden Baum. Auch wir sind neugierige Primaten. Swimme bemerkt, das könnte einer der bezeichnendsten Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Primaten-Cousins sein: Unsere pelzigen Urahnen suchen sich ihre ökologische Nische und verfallen dann in Gewohnheit undRoutine. Bei den Menschen hingegen bleibt das Fenster für die Neugier – und für Lernen und Innovation – ein Leben lang offen hin zum Horizont des Möglichen.
Angesichts der Tatsache, dass die Lernfähigkeit uns als Menschen definiert, mutet es jedoch seltsam an, dass unser Verständnis davon, wie wir lernen und wachsen, ziemlich unterentwickelt ist. Das ganze Forschungsgebiet der kindlichen Entwicklung ist weniger als hundert Jahre alt. Es ist kaum zu glauben: Kinder wurden, abgesehen von einigen wenigen romantischen Ausnahmen, im 19. Jahrhundert und davor weitgehend als defizitäre Erwachsene betrachtet und oft genug für ihre Dummheit und Unbeholfenheit bestraft. Noch überraschender: Die Idee, dass auch Erwachsene sich entwickeln, ist noch neuer. Die Entwicklung im Erwachsenenalter wird tatsächlich erst seit den 1960ern erforscht. Entwicklung im Erwachsenenalter bedeutet, nicht einfach zu erforschen, wie Erwachsene lernen. Vielmehr stellt sich die Frage: Können Erwachsene ihre geistige Grundhaltung so grundlegend transformieren wie Kinder, deren Denkweise sich während des Aufwachsens wiederholt grundlegend wandelt? Kann sich die Art, wie wir Erwachsenen die Welt, uns selbst und einander verstehen, tatsächlich transformieren?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in dieser zunehmend fragmentierten und polarisierten Gesellschaft, erscheint eine Entwicklung der Menschen dringend notwendig. Tagtäglich stoßen wir in den Nachrichten, auf Facebook oder anderen sozialen Medien, in der Familie und am Arbeitsplatz auf andere Erwachsene, deren Denkweise und deren Ansichten über die gegenwärtigen Ereignisse, das gute Leben, das Wesen des Menschen und so weiter sich fundamental, ja oft erschreckend, von den unseren unterscheidet. Dabei geht es nicht, wie man denken könnte, nur um unterschiedliche Meinungen. Die Unterschiede wurzeln oftmals in der Struktur und den Fähigkeiten unseres Verstandes und unseres Herzens.
¬Unsere pluralistische, offene Gesellschaft steht auf dem Prüfstand.¬
Zwar ist es leicht zu sagen und davon auch fest überzeugt zu sein, dass es an den Extremisten oder den Populisten oder den Flüchtlingen sei, dazuzulernen und sich zu entwickeln, doch höchstwahrscheinlich werden sie dazu nicht so leicht in der Lage sein. Wer hingegen privilegiert ist und über genügend Bewusstheit verfügt, um Unterschiedlichkeit wertzuschätzen und ein ausreichendes Verständnis seiner selbst aufzubringen, Menschen wie Sie und ich, ist gefragt, diesen nächsten Schritt zu gehen. Wir müssen Beziehungsexperten werden, die über sehr reale Unterschiede hinweg Verbundenheit herstellen können. Das wird nicht einfach. Aber unsere offene Gesellschaft steht in Flammen, und wir müssen geradewegs in das Feuer der Transformation hineinlaufen, um sie zu retten.
Entwicklung als Gewinn … und als Verlust
Bei meinen Untersuchungen zur Entwicklung von Mädchen ereignete sich etwas sehr Seltsames, als ich die Transkripte meiner Gespräche mit elf- bis fünfzehnjährigen Mädchen las. Während ich las, wurde ich ohnmächtig, ich verlor das Bewusstsein. Zuerst dachte ich, ich sei einfach nur müde. Aber ungeachtet der Tageszeit und unabhängig davon, wie wach ich mich fühlte, mir wurde schwarz vor den Augen. Neugierig geworden, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Phänomen und begann, gemeinsam mit meinen Kolleginnen, eine Geschichte der Entwicklung zusammenzufügen, die auch die Geschichte eines Verlustes ist. Wenn ein Mädchen die Welt der Kindheit verlässt, in der es so gut wie inkognito unterwegs war, findet es sich ab der Pubertät in einer Welt wieder, wo es angeschaut, geprüft und zum Objekt gemacht wird. Als ich die O- Töne las, wie sie über die Schwelle zum Frau-Sein stolpern und sich vielfach gegen diesen Wandel wehren, wurde etwas in mir berührt, das ich lange Zeit vergessen hatte. Ich kannte das – die Kosten des Frau-Werdens –, aber ich wollte nichts davon wissen.
Für die Mädchen ist es nicht nur eine rein körperliche Transformation: Sie entwickeln gewaltige geistige Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, Welten zu erschaffen, Bewusstheit und Selbstverantwortung zu erwerben. Andererseits schafft gerade dieser Geist – die Errungenschaft unserer westlichen Zivilisation und gleichzeitig die Grundlage der Individuation – eine Spaltung, die sie abtrennt von ihren unmittelbaren Reaktionen und von ihrer Lebendigkeit. Während dieses Übergangs empfinden die Erwachsenen die Mädchen oft als irritierend, vor allem die Mütter, denen sie unverfrorene Fragen stellen: Warum gibst du Papa gegenüber immer nach? Warum redest du am Telefon mit so einer falschen Stimme? Warum lächelst du, wenn du wütend bist? Mit etwa fünfzehn Jahren verschwinden diese Fragen allerdings bei den meisten Mädchen der Mittelschicht wieder. Sie sehen durch die Augen der gesellschaftlichen Erwartungen – und bewerten nun eher sich selbst, statt die anderen infrage zu stellen.
Wir entdeckten, dass die Entwicklung in der Psyche der Mädchen eine Spaltung schafft, die zum Kern der weiblichen Identität wird. (Jungen durchlaufen, auf einer früheren Altersstufe, einen ähnlichen Prozess, an dessen Ende Männlichkeit, wie wir sie kennen, steht.) Wir Erwachsenen erinnern uns nicht mehr an das, was wir verloren haben. Die Spaltung prägt unser Selbstgefühl und wie ich bei mir selbst gesehen habe, leistet die Psyche erheblichen Widerstand gegen alle Versuche, sie aufzulösen. Das Selbst, das wir als Erwachsene sind, ist das Ergebnis von Veränderungen in der Struktur des Geistes, der großen oder kleinen Traumata, die die Psyche dazu gebracht haben, zu begraben, was zu schmerzhaft, zu verwirrend oder zu gefährlich war, um sich dessen bewusst zu sein. So formt sich das Fenster, durch das wir die Welt erfassen. Man kann die Form des Fensters nicht verändern, es nicht vergrößern, ohne das ganze Haus zu erschüttern.
Bedrohliche Unterschiede
»Der Unterschied zwischen euch Progressiven und uns traditionell orientierten Leuten«, schreibt ein Landpfarrer in einem Artikel über den Aufstieg des Populismus, »ist der, dass ihr glaubt, der Mensch sei fundamental gut, während wir wissen, dass die Menschen böse sind – deswegen müssen sie Gott gehorchen.« Die Aussage dieses Pfarrers ist interessant, aber sie geht nicht weit genug. Traditionalisten und »Progressive« – so bezeichnet er die postmoderne, pluralistische Haltung – haben nicht nur einen unterschiedlichen Blick auf das Wesen des Menschen, wir haben eine andere Welt- erfahrung, weil unser Selbst anders strukturiert ist.
Traditionell religiöse Menschen sind der Überzeugung, die Kräfte in unserem Inneren, wie Lust, Habgier, Neid oder Unersättlichkeit, seien gefährlich. Das wissen sie, weil sie die Versuchung selbst erleben und befürchten, ihr eigener Wille könnte nicht stark genug sein, gegen deren Macht anzukämpfen. Nur durch die Angst vor Gottes Gericht und die Sehnsucht nach Gottes Gnade haben sie die Stärke und den Mut, den geraden Weg zu gehen.
Auf einen postmodernen Menschen können solch traditionell Orientierte leicht faschistisch, engstirnig, rassistisch, sexistisch und ganz allgemein repressiv wirken. Was der postmoderne Geist allerdings nicht versteht, ist die Tatsache, dass ein traditionell orientierter Mensch die Welt oft nicht durch den Filter reflektierender Selbstwahrnehmung betrachtet, so wie wir selbst. Seine Vorbehalte wurzeln nicht zwangsläufig in Feindschaft. Er gibt aus tiefster Liebe zu seinen Nächsten einfach alles, um diese zu beschützen. Ohne die Wahrnehmung der eigenen Psyche kann dabei die Impulskontrolle verloren gehen. Doch erleben Traditionalisten daraus resultierende Konfrontationen vor allem als Dienst an der eigenen Gemeinschaft, die ihnen so viel näher ist als jene, die sie mit ihrem Verhalten verletzen.
¬ Das übermäßig individuierte Ich ist zu sehr von sich selbst eingenommen. ¬
Es ist freilich auf keiner Entwicklungsstufe einfach, die eigenen Impulse unter Kontrolle zu halten. Traditionell orientierte Menschen brauchen den strafenden und den gnädigen Gott, um sich einer äußeren Unterstützung für ihre moralische und soziale Standhaftigkeit zu versichern. Weil das traditionsorientierte Ich nicht in der Lage ist, die Komplexität einander widerstreitender Motive zusammenzuhalten, sind manche dieser Menschen schmerzhaft tief gespalten – fromm in der Öffentlichkeit, triebhaft im Privatleben. Aber sie sind als Erste zur Stelle, wenn es darum geht, die Gemeinschaft zusammenzuhalten und für ihre Sicherheit einzustehen. Und sie scheuen sich dabei auch nicht vor harter Arbeit und den undankbaren Tätigkeiten, die kaum Anerkennung erfahren. Wir postmodern orientierten Menschen haben die innere Struktur und die Stärke, unsere eigenen Grundsätze selbst festzulegen, mit den Grenzen zu spielen und die Psyche auszuloten. Aber häufig scheitern auch wir: Das übermäßig individuierte Ich ist zu sehr von sich selbst eingenommen und fühlt sich nichts und niemandem verpflichtet außer dem eigenen Willen und der eigenen Lust. Traditionelle brauchen Grenzen, um sich zu entwickeln, und Postmoderne müssen Grenzen überschreiten, um sich zu entwickeln, und so erleben sie einander instinktiv als Bedrohung. Das postmoderne Ich verfügt allerdings letztlich über eine größere Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur inneren Arbeit und das heißt, dass bei uns die größere Verantwortung liegt, über unsere automatischen Reaktionen hinauszuwachsen.
Durst nach Verbundenheit
Wenn ich mich mit Freunden unterhalte, die enge Beziehungen zu Flüchtlingen haben, bekomme ich mit, wie viel Gewinn sie für sich aus dieser Arbeit ziehen, selbst wenn die Dinge sich oft nur frustrierend langsam entwickeln. Da sind die Männer, die depressiv oder gewalttätig werden, wenn sie keine Arbeit finden, mit der sie ihre Familie unterstützen könnten. Die Frauen, die eine Scheidung wollen, aber nicht wissen, dass sie dann Geld verdienen müssten, um ihre Kinder zu ernähren. Hinter all dieser kulturellen Verwirrung ereignet sich jedoch etwas anderes: tiefe zwischenmenschliche Verbundenheit.
Viele gebildete, typischerweise postmoderne Deutsche fühlen sich zutiefst berührt von der Wärme, Offenheit und Verletzlichkeit dieser Menschen, die so viel riskiert haben, um hiersein zu können. Nachdem das Netz ihrer Beziehungen ihnen wie der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, sehnen sich diese Zuflucht Suchenden nach menschlicher Verbundenheit.
Uns geht es zu unserem großen Erstaunen ebenso. Die Errungenschaften der Individuation und der kognitiven Entwicklung haben dem Westen Innovationskraft und Macht beschert. Aber wir haben uns von einem Teil unserer selbst abgeschnitten und dabei unsere tiefere Verwurzelung verloren. Nicht dass wir das beabsichtigt hätten, es ist der Preis für die besten Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Meistens merken wir kaum, dass uns etwas fehlt, bis wir in der schonungslosen, ungefilterten Begegnung mit Menschen, denen praktisch nichts geblieben ist, von dem Reichtum berührt werden, der ihnen noch zugänglich ist.
Der Prozess der Integration all jener, die hier Schutz suchen, um den sich Deutschland bemüht, läuft vielleicht nicht ganz so, wie wir uns das vorstellen. Manche, die noch jung sind, gehen zur Schule, lernen und integrieren sich, wie wir uns das erhoffen. Aber auch jene, die nicht die Fähigkeit besitzen, sich so zu integrieren, haben viel zu geben. Durch den Kontakt mit ihnen können wir uns integrieren, indem wir uns wieder mit Aspekten des Menschseins verbinden, die wir fast verloren haben – indem wir lernen, Wurzeln zu schlagen, Gemeinschaft zu schaffen und ein offenes Herz anzubieten. Das können wir ihnen dann zurückgeben.
Unermessliche Entwicklung
Entwicklung zu verstehen, ist gefährlich. Es kann leicht zu Arroganz und Missbrauch führen. Es gibt viele bekannte Theorien der Entwicklungsstufen – manche kombinieren die kulturelle Evolution mit der Entwicklung des Menschen –, die die unterschiedlichen Strukturen und Fähigkeiten des menschlichen Selbst kodifizieren, benennen und teilweise sogar mit einem Farbcode versehen. In Kreisen, die von solchen Modellen fasziniert sind, werden diese allzu oft eingesetzt, um Rangordnungen aufzustellen, zu bewerten und zu vergleichen. Der jeweilige Punktestand wird zum Ausweis persönlicher Leistung oder Überlegenheit. Aber wir sind sehr viel mehr als das, was diese Modelle messen können. Das Potenzial unseres Herzens, Trennungen zu überbrücken, die der Verstand geschaffen hat, kommt darin überhaupt nicht vor. Dabei wäre das dringend nötig.
¬Jegliche Entwicklung entfaltet sich durch den Prozess von Differenzierung und Integration.¬
Unsere pluralistische, offene Gesellschaft steht auf dem Prüfstand. Und mit ihr auch wir selbst. Ohne entwicklungsorientierte Perspektive neigen wir dazu, jene, die anders sind als wir, als falsch informiert, dumm oder schlichtweg böse zu betrachten. Die Spannungen zwischen uns und ihnen sind oft auf die unterschiedlichen Ich-Strukturen zurückzuführen, durch die wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Wir, die wir schon so viel innerlich an uns gearbeitet haben, müssen lernen, uns bewusst weiterzuentwickeln, sodass wir mehr von uns selbst und unserem scheinbaren Gegenteil in der Umarmung menschlicher Beziehung halten können.
Jegliche Entwicklung entfaltet sich durch den Prozess von Differenzierung und Integration. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Integration das entscheidende Moment. Die innere Arbeit, das zu integrieren, wovon wir uns abgeschnitten haben, und die äußere Arbeit, die »anderen« in eine gute Beziehung zu integrieren, sind beide zutiefst herausfordernd – und können Angst machen. Sie verlangen uns ab, in uns selbst ans Eingemachte zu gehen. Lasst uns diese Herausforderung annehmen und in Dialog und Beziehung zusammenkommen, um eine ganze Menschheit erblühen zu lassen.
Die Kostbarkeit dieses Moments und dessen, was wir sind, liegt darin, dass wir dazu fähig sind; unsere Schwestern und Brüder, die sich von uns getrennt fühlen, sind es dagegen größtenteils nicht. Eine offene Gesellschaft muss von Verbundenheit getragen werden. Wir können es uns nicht leisten, länger zu warten. Der Wald steht in Flammen. Laufen wir darauf zu.