Die Veränderungskraft sozialer Kunst
Wenn Kunst sich in die Gesellschaft einmischt, wird der Horizont des Vorstellbaren weiter. Ästhetische Impulse öffnen die Sinne und bringen Menschen in Kontakt mit ihrem noch nicht gelebten Potenzial. Projekte sozialer Kunst eröffnen neue gemeinschaftliche Bewusstseins- und Handlungsräume. Sie streben meist nicht nach konkreten Zielen. Sie laden Menschen ein, ihre Wirksamkeit neu zu entdecken und frei zu entfalten.
Soziale Kunst schafft neue Resonanzräume für die Fragen unserer Zeit. Ihr Atelier ist die Mitte der Gesellschaft, ihr Material das, was Menschen bewegt. Sie hat keine einsamen Schöpfer und sie schafft keine Werke für die Ewigkeit. Sie ist ein neuer Weg, sich politischen und kulturellen Herausforderungen mit künstlerischen Mitteln zu nähern. Die Freiheit des Künstlerischen deutet über die Begrenzungen gesellschaftlicher Systeme hinaus und bringt Menschen wieder mit ihrer eigenen Freiheit in Kontakt. Manche Projekte sozialer Kunst setzen auf Provokation im Politischen, andere entwickeln Programme zur Potenzialentfaltung. Wieder andere stellen bestehende Identitäten infrage und eröffnen gemeinschaftliche Prozesse, in denen Menschen miteinander wachsen können. Wo die Energie im Sozialen stagniert, bringen künstlerische Impulse sie wieder zum Fließen. Das Ästhetische deutet auf das, was nicht mehr trägt, und lässt Möglichkeiten erahnen, die noch nicht sind. In diesem Zwischenraum lädt soziale Kunst Menschen dazu ein, selbst wirksam zu werden.
Etwas bricht auf
Welche Kräfte Kunst im Sozialen entfalten kann, wurde mir erstmals während meiner Studienzeit in den 1990er-Jahren bewusst, als es in Rüsselsheim zu einem Eklat kam, der die Opel-Stadt über Wochen in Atem hielt. Als gezielte Provokation im öffentlichen Raum wurde sie hier zum Katalysator für eine Welle des Protests, wie sie der Ort noch nicht erlebt hatte. Die Kommune hatte eine Skulptur des Konzeptkünstlers Ottmar Hörl installieren lassen. Das »Familientreffen«, lebensgroße Piktogramme von Vater, Mutter, Sohn, Tochter und Hund, in Eintracht nebeneinander aufgereiht, sollte in der multikulturellen Stadt ein Zeichen setzen für das, was alle Nationen im Inneren verbindet, den familiären Zusammenhalt. Auf manche Bürgerinnen wirkte das, als wolle man ihnen eine ästhetische Beruhigungspille verabreichen. Der Alltag in der Stadt war nicht so glatt, wie die Skulptur es suggerierte. Und das war für viele spürbar. Eine Aktivistengruppe brachte diese Stimmung der Widersprüchlichkeit mit einem provokanten Gegenkunstwerk auf den Punkt: Vater schlägt Mutter, Mutter trinkt, Sohn zieht Tochter an den Haaren, Tochter tritt Hund. Es war eine Kritik an der Scheinheiligkeit der Stadtoberen, die Probleme im städtischen Zusammenleben lieber beschönigten, als sie anzugehen. Die neue und von vielen als deutlich treffender empfundene Hörl-Familie deutete kompromisslos darauf, dass unter der polierten Oberfläche etwas schwelte, was nicht länger zu ignorieren war. Kunst wurde zu einem Medium des Einspruchs. Sie gab den Anstoß, dass schließlich über Wochen in Kneipen und Cafés, in den Lokalzeitungen und im Stadtparlament über die tatsächlichen Probleme der Stadt diskutiert wurde.
ÄSTHETISCHE PROVOKATION BRINGT VERDRÄNGTES IN EINE ANSPRECHBARKEIT.
»Sozial engagierte Kunst ist auf dem Vormarsch und teilt Techniken und Intentionen mit Bereichen weit außerhalb der Kunst. Diese kulturellen Praktiken weisen auf neue Lebensweisen hin, die Partizipation betonen, Macht herausfordern und Disziplinen umfassen, die von Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit bis hin zu Theater und bildender Kunst reichen«, beschreibt der amerikanische Kurator Nato Thompson den sich ins Soziale ausbreitenden Wirkradius des Künstlerischen. Als ästhetische Provokation kann Kunst, so wie in Rüsselsheim, zu einem Katalysator werden. Dann bringt sie Verdrängtes in eine Ansprechbarkeit. Wo Politik mit Rationalisierungen arbeitet und gerne unveränderliche Sachzwänge bemüht, reicht der künstlerische Impuls tiefer. Er berührt auch Emotionales und Unbewusstes und bringt so feinere Wahrnehmungen zutage, die gerne ignoriert werden, wenn sie quer stehen zum offiziellen Narrativ. Hier kann Kunst etwas aufbrechen, in einzelnen Menschen wie auch in der Gesellschaft. Leicht bleibt es aber bei diesem Fingerzeig. Die Lebendigkeit, die sich einstellt, wenn Menschen sich gemeinsam darauf beziehen, was zwischen ihnen wirklich vorgeht, anstatt den Elefanten im Raum einfach zu ignorieren, verebbt oft wieder, sobald die akute Erregung abklingt. Kunst als ein Protest im Moment kann den Blick für akute Probleme schärfen, doch ist dieser Moment vorbei, bleibt oft alles beim Alten.
Gestaltungskräfte befreien
In der Arbeit mit »benachteiligten« Zielgruppen verfolgt soziale Kunst deshalb gezielt ein pädagogisches Anliegen und wird zur Vermittlerin praktischer Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, ihre Lebensumstände konkret zu verändern. Sie versucht, die menschliche Ausdrucksfähigkeit zu wecken, um gestalterische Teilhabe zu eröffnen und zu stärken. In Programmen zur Beschäftigungsförderung beispielsweise kann gemeinsames Theaterspielen bei jenen, die am Bildungssystem gescheitert sind, neues Selbstvertrauen wecken. »Ich habe hier gelernt, über meine Grenzen hinauszugehen«, beschreibt eine Teilnehmende des Theaterprojekts JobAct ihre Erfahrung. Kunst möchte hier nicht nur ein äußerer Impuls sein, sondern fördert einen Prozess des menschlichen Reifens. Auf einer Bühne eine Rolle auszufüllen, lässt Menschen innerlich wachsen und sich entfalten. Und die ästhetische, zweckfreie Praxis eröffnet einen Raum, in dem ihre menschliche Schönheit erblühen kann und von einem Publikum anerkannt wird. Diese Erfahrung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit stärkt soziale Kompetenzen und ebnet so vielen den Weg in den Arbeitsmarkt. »Menschen müssen zu Gestaltern ihres eigenen Lebens gemacht werden«, sagt Sandra Schürmann, Gründerin des Sozialunternehmens »Projektfabrik«, das in den letzten 15 Jahren 350 erfolgreiche JobAct-Theaterprojekte in Deutschland und Europa verwirklicht hat und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Ansätze wie diese reparieren an den Rändern des sozialen Organismus und kompensieren Schwachstellen und Ausschlussmechanismen von Schulen und der Arbeitswelt. Gleichzeitig sind sie aber auch progressive Impulsgeber. Längst ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass auch Unternehmen mit dem Theaterspiel experimentieren und sogar Führungskräfte auf der Bühne üben, in ihre Rolle hineinzuwachsen und zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Vielleicht sind dies zarte Indizien dafür, dass sich im Größeren etwas verändert und sich hier ein neuer Sinn des Mitwirkens und Teilhabens kultiviert. Wo Kreativität einmal entfacht ist, bleibt sie nicht an einem einzelnen Zweck hängen, sei es, um Karriere zu machen oder überhaupt einen Job zu finden. Menschen, die ihre Talente entdeckt haben, werden durch und durch kreativer und das drückt sich über kurz oder lang in all ihren Lebenskontexten aus, die sie so auf neue Weise mitgestalten können.
Verkrustungen aufbrechen
Manche Projekte sozialer Kunst wenden sich gezielt dem Bewusstsein zu, aus dem heraus sich Menschen in die Gesellschaft einbringen. Sie hinterfragen bestehende Identitäten und Weltbilder. Kreatives Erleben kann hier Selbstbilder in der Tiefe verändern und damit auch, wie Menschen sich auf ihre Umwelt beziehen. Heike Pourian hat mit »Standing with the Earth« eine »somatisch-künstlerisch-politische Praxis« ins Leben gerufen, die im Kontext der Klimakrise versucht, die sachliche, oft nutzenorientierte Beziehung zur Erde in eine sinnliche zu transformieren. Mit der Erde zu stehen, ist eine Einladung, gemeinsam auf öffentlichen Plätzen oder in der Natur den Boden, der uns trägt, wieder bewusst zu spüren und die Sinne zu öffnen für die Kostbarkeit des Lebendigen. »Menschen stehen und spüren: Wir sind nicht getrennt von diesem Planeten. In uns gibt es eine tiefe Sehnsucht danach, endlich wieder zu fühlen, dass wir nicht stumpf funktionierend unser Leben fristen müssen, sondern lebendig und verbunden sind. Der Weisheit zu lauschen, die allem Lebendigen innewohnt, kann uns helfen, weder in lähmende Verzweiflung noch in blinden Aktionismus zu verfallen«, erklärt Pourian. Das Stehen ist nicht allein eine körperliche Haltung, es verändert unmittelbar auch die innere Ausrichtung. Wo ein Kunstwerk in Staunen zu versetzen vermag, wird hier das Staunen selbst zur gemeinsam praktizierten Kunst. Sie ist wie ein Reinigungsritual, das den üblichen, oft destruktiven Weltbezug durchlässiger werden lässt und Verkrustungen aufbricht. Statt uns die Erde untertan zu machen, werden wir aufnahmebereit für das, was sie uns zeigen kann: »Offen, empfänglich und verbunden dazustehen bedeutet, Anspannung, Kontrolle und Dominanzverhalten loszulassen. Das ist so ziemlich das Gegenteil von unserer gewohnten und als normal empfundenen Haltung, die uns und den Planeten in die Krise gebracht hat, in der wir uns gegenwärtig befinden.« Sich ungeschützt und jenseits von Erwartungen der Schöpfung auszusetzen, lässt Menschen wieder empfänglich werden für das Mysterium, das ihr innewohnt. Die gewohnte Trennung zwischen Ich und Welt fällt ab. Soziale Kunst, die hier ansetzt, wirkt in die Mitte des gesellschaftlichen Innenraums. Sie verändert, wer wir sind, und manchmal erwächst daraus ein neues Selbstverständnis.
Neuanfänge begleiten
Die Frage nach der Identität stellt sich besonders für Menschen nach existenziellen Erschütterungen. Sie kann nicht einfach aus dem Alltag heraus beantwortet werden. Zuwanderer, die beispielsweise aus Syrien aufgrund der politischen Umstände seit einigen Jahren nach Deutschland kommen, müssen ihr Leben nach Erlebnissen von Krieg und Flucht neu organisieren. »Sie sind immer auf der Suche, etwas Nützliches zu tun, um ihren Lebensalltag wenigstens ein bisschen zu verbessern. Das führt dazu, dass man eigentlich nur noch funktioniert. Das, was wir mit der Kunst erarbeiten, sind eigentlich immer Entwürfe fürs Leben. Schöpferisch zu sein, hilft dabei, sich vom Nützlichen etwas zu entfernen und spielerisch zu werden«, so Rita Eckart. Die Kunsttherapeutin initiierte im Rahmen der Nothilfearbeit von stART international e. V. 2015, gleich zu Anfang der Zuwanderungswelle SIMPLY BLUE!, ein Sozialkunstprojekt für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung, um Menschen mit dem in Kontakt zu bringen, was in ihnen unzerstörbar ist, ihrem Wesenskern. »Sie haben eine schwierige Vergangenheit, eine Gegenwart, die fast unerträglich ist, und eine Zukunft, die sich noch nicht konturiert. Die Frage, wie ein Neuanfang möglich werden kann, muss man unter solchen Umständen völlig neu denken.« Eckart griff für ihr Projekt ein Motiv der orientalischen Kunst auf, die blau-weiße Kachel, die es in anderer Form auch sonst weltweit gibt und die so zum Bindeglied wurde zwischen Menschen mit den unterschiedlichsten Erfahrungshintergründen. Menschen nicht nur aus Syrien, sondern aus 59 weiteren Ländern malten unter ihrer Anleitung mit blauer Tinte und Tintenlöschstiften zentrierte Motive auf quadratische Formate ohne Schrift, ohne religiöse oder politische Symbole und machten die Erfahrung, wie heilsam es ist, in einer schöpferischen Gemeinschaft und doch bei sich zu sein. Durch die internationale Tätigkeit von stART international verbreitete sich das autorenrechtlich geschützte Projekt auf allen fünf Kontinenten. SIMPLY BLUE! lebt bis heute fort, indem Menschen weltweit um eine selbst gewählte Zeit meditativ-künstlerisch mit SIMPLY BLUE! arbeiten und auch unter schwierigsten Lebensbedingungen nicht nur ein Stück Selbstbestimmtheit erfahren, sondern auch eine sichtbare Spur von Schönheit und Harmonie legen. Die Kunst bildet eine Brücke zur eigenen inneren Lebendigkeit, die die Menschen individuell spielerisch erfahren.
DAS, WAS WIR MIT DER KUNST ERARBEITEN, SIND EIGENTLICH IMMER ENTWÜRFE FÜRS LEBEN.
Dadurch, dass die Bilder am Ort ihrer Entstehung ohne eine kritische Auswahl zu spontanen Installationen zusammengefügt werden, wird zugleich die menschliche Gemeinschaft, die sie hervorgebracht hat, in ihrer ganzen Diversität und Würde sichtbar. So auch 2019 in der Bundeskunsthalle, als SIMPLY BLUE! die Ausstellung »Von Mossul nach Palmyra – eine virtuelle Reise durch das Weltkulturerbe« begleitet hat. Während wenige Meter vom SIMPLY BLUE!-Raum entfernt Krieg und Zerstörung von unschätzbaren Kulturgütern thematisiert wurden, breitete sich in dem Raum, in dem neben SIMPLY BLUE!-Mandalas aus dem Nahen Osten Arbeiten der Ausstellungsbesuchenden standen, meditative Ruhe und Wärme aus. Wo rationales Denken die Dinge in einer gewissen Distanz hält und das Politische sie objektiviert, erreicht die Kunst unmittelbar. Rita Eckart hält sich mit Deutungen zurück. Für sie ist wesentlich, dass das Künstlerische für sich stehen und ohne Absichten einfach wirken kann: »Die Aussage von SIMPLY BLUE! ist, dass wir uns alle, ohne eine Auswahl zu treffen, nebeneinanderstellen können, und diese menschliche Gemeinschaft wird immer eine Schönheit haben. Durch die Bilder begegnen Menschen sich und in diesem Prozess entsteht etwas.« Wo die Kunst ganz Kunst sein darf, kann auch der Mensch ganz sein.
Soziale Kunst erwächst aus den Bedürfnissen unserer Kultur. Wo es im Gesellschaftlichen eng wird, deutet sie über den Horizont hinaus. Wo Ausschluss und Trennung herrschen, erinnert sie an die Möglichkeit zur Integration. Manchmal laut und manchmal sehr leise lässt sie anklingen, dass die Dinge anders sein können. Am wirksamsten wird soziale Kunst vielleicht gerade dort, wo sie nichts Bestimmtes zu bewirken versucht. Denn hier lässt sie dem Potenzial, das Menschen innewohnt, die Freiheit, sich ganz zu entfalten.