Gott ist immer
Sheikh Hassan und ein Weg, der nie endet
July 12, 2021
Im Mythos dienen Götter, Dämonen und andere Wesen als Bilder für etwas, das man nicht anders greifbar machen kann. Im Mythos oder im Märchen gibt es verborgene Verknüpfungen: Man pflückt die falsche Frucht vom Baum oder man verärgert irgendein kleines Wesen im Wald, und das kann unvorhersehbare Folgen zeitigen. Auch in den Wissenschaften sind wir heute an einem Punkt angelangt, an dem wir die Kontrolle verlieren. Wir versuchen beim Klima gegenzuregulieren, wenn wir z. B. das CO2 aus der Atmosphäre nehmen wollen. Aber je mehr wir regulieren, merken wir, dass neue Probleme auftauchen. Es zeigen sich verborgene Verknüpfungen, die wir nicht kannten und oft auch noch nicht verstehen oder vorhersehen können. Das heißt, wir stoßen an Grenzen. Diese Situation könnte uns vielleicht dazu führen, dass wir die Mythologie wieder ernster nehmen. Damit meine ich das Gefühl oder die Erfahrung, dass die Welt nicht komplett verfügbar ist, sondern dass in ihr Kräfte walten, die man nicht verstehen kann, die man aber trotzdem respektieren muss.
Wir merken, dass wir an die Grenzen des Verstandes kommen. Die Physiker sagen, dass die Frage nach dem, was ›hinter‹ dem Urknall steht, nicht sinnvoll ist. Aber die Frage ist sinnvoll insofern, als dass es zutiefst menschlich ist, danach zu fragen. Bei einer solchen Frage können wir nur assoziativ arbeiten und überlegen, welche Verknüpfungen, welche Bilder, welche Symbole wir miteinander verbinden, damit sie vorläufig Sinn für uns ergeben. Dabei hat man nie Gewissheit, das ist ein unvollendeter Prozess.
Wir erkennen heute, dass unser Handeln an Grenzen stößt und dass sich immer mehr egoistische Interessen durchsetzen. Warum ändert sich nichts, z. B. in Umweltfragen? Weil es immer einzelne Interessen gibt, die über das Kollektivinteresse gestellt werden. Insofern brauchen wir eine Sichtweise, die uns als Kollektiv intelligenter macht. Nicht in dem Sinne, dass der Einzelne sich dem System unterordnet. Der individuelle Mensch ist bedeutsam, aber das Leben insgesamt darf nicht den Interessen Einzelner untergeordnet werden. Insofern ist eine Sichtweise wichtig, die uns die Verbundenheit der Lebensvorgänge miteinander deutlich macht. Sie kann mir zeigen, dass ich kein isoliertes Wesen bin und dass es keinen Sinn macht, nur an mich zu denken. Das sehen wir auch im Umgang mit dem Klimawandel. Wenn wir hier nicht so handeln, dass wir auch die globale Verbundenheit im Blick haben, schaffen wir z. B. in ärmeren Ländern eine Situation, die Menschen zur Migration bewegt. Wir können es uns also gar nicht leisten, isoliert zu leben. Daher ist die einzige Sichtweise, die uns heute überhaupt noch helfen kann, eine vernetzte, die durch ökologisches, aber eben auch mythologisches Denken gefördert werden kann.
Mythos ist eine Form von kollektiver Intelligenz. Wenn Symbole nur für mich bedeutsam sind, ist das natürlich auch in Ordnung. Ich kann eine persönliche Beziehung zu einem bestimmten Symbol haben, z. B. einer bestimmten Pflanze, die mir ein Freund geschenkt hat, die dadurch eine besondere Bedeutung für mich annimmt. Niemand anderes wird in dieser Pflanze das Symbol erkennen, das ich darin sehe. Aber sobald das Symbol mehr Menschen oder eine ganze Gesellschaft anspricht, kann man von einer mythischen Bildhaftigkeit sprechen. Denn unter Mythos verstehen wir traditionell etwas Kollektives. Man kann nicht einen Mythos erfinden oder den Leuten vorschreiben. Wenn es keine innere Verbindung dazu gibt, wird das Verhältnis immer künstlich bleiben. Der Mythos entsteht auf einem natürlichen Weg, im Grunde genommen wie eine Pflanze. Man kann es nicht machen.
Auch um unsere Beziehung zum Lebendigen zu erfassen, reicht es nicht aus, von Verbundenheit mit der Natur bloß zu sprechen. Es geht darum, diese Verbundenheit zu erleben. Sonst verbleiben wir in einem reinen Nützlichkeitsdenken: Wie viele Bäume können wir noch abholzen? Wie viele Wälder in Baggerseen verwandeln? Ich glaube, einen wirklichen Fortschritt wird es nur geben, wenn man dem Geistig-Seelischen in der Natur eine größere Bedeutung zumisst und ihr ein eigenes Recht zuspricht.
Die Natur wird häufig immer noch – genau wie der menschliche Körper – als eine Maschine angesehen. Dabei handelt es sich um komplexe Lebensvorgänge, die wir noch gar nicht verstanden haben und die wir wohl nie vollkommen verstehen können. Deshalb ist diese Sichtweise hinderlich, weil sie suggeriert, dass wir bloß neue Techniken erfinden müssen, um unsere Probleme zu lösen. Wenn wir aber neue Bilder einer Verbundenheit, einer Beseeltheit der Natur oder einer tieferen Dimension von Geistigem oder Seelischem in der Natur finden, ist das eine große Hilfe, um auch das eigene Handeln zu überdenken.
Das Interview, auf dem dieser Text beruht, führte Thomas Steininger.