Ein soziales Sehen lernen
Dirk Kruse arbeitet als Berater in Firmen und Organisationen und konzentriert sich dabei vor allem auf eine Klärung des Feldes zwischen den Menschen. Wir sprachen mit ihm darüber, wie die Erfahrung eines gemeinsamen Bewusstseins unser Leben in sozialen Räumen verändern kann.
evolve: Was sind in deiner Erfahrung die Voraussetzungen dafür, dass wir uns in Gruppensituationen bewusster begegnen können?
Dirk Kruse: Wichtig ist zunächst eine gesteigerte meditative Aufmerksamkeit, bei der man sich mit dem, was man wahrnimmt, verbindet. Im Falle einer bestimmten Gemeinschaft kann es zum Beispiel ein Thema sein, das bearbeitet werden muss. Dabei begibt man sich meditativ einfühlend und einswerdend in ein Thema hinein, hört aber auch mit größerer Tiefenschärfe zu, was die anderen sagen und woraus sie sprechen. Jeder kennt das Phänomen, dass man in einen Raum kommt, in dem Menschen etwas zusammen tun, und man spürt zum Beispiel, dass dort eine Spannung anwesend ist oder auch, dass sich gerade ein heiliger Moment ereignet. Dieses Phänomen der Wahrnehmung eines Raumes kann man eigentlich kaum ohne einen spirituellen Hintergrund beschreiben, denn es geschieht nur, wenn die Menschen in ihrer Aufmerksamkeit aus sich herausgehen. Es muss eine gesteigerte, innigere Form der Aufmerksamkeit sein. Dabei ziehen wir unsere lebendigen seelischen Anteile aus uns heraus, überbrücken unsere übliche Trennung und bilden ein gemeinsames Feld. Man könnte es auch als Gruppenbewusstsein bezeichnen, es ist nicht nur eine Energie oder Seelenstimmung, sondern es ist auch ein bestimmtes Bewusstsein. Für diese Erfahrung gibt es auch Zeugnisse in der spirituellen Literatur, wo es im Christentum z. B. als „Christus mitten unter uns“ bezeichnet wird. In der Qualität, wie es heute erfahren wird, sind es auch neue Phänomene, weil im Laufe der kulturellen Evolution unsere Empathiefähigkeit gewachsen ist.
e: Die Wahrnehmung solcher Bewusstseinsräume nutzt du auch in deiner Arbeit als Unternehmensberater. Wie kommt dieser Fokus auf das Wir dabei zur Anwendung?
DK: Das kommt zunächst sehr auf das Unternehmen an, mit dem ich arbeite. Vor Kurzem habe ich zum Beispiel mit dem Leistungskreis eines bio-dynamischen Landwirtschaftsbetriebes gearbeitet. Dort war die Bereitschaft sehr groß, solche Methoden anzuwenden. Grundlage dabei ist eine meditative Kommunikation, die mit Stille beginnt. Vor Beginn werden einige Fragen formuliert und die Teilnehmer werden in dieser Zeit der Stille gebeten, diesen Fragen meditativ nachzugehen. Wenn die Teilnehmer dann sprechen, liegt ein Hauptaugenmerk auf dem bewussten Zuhören. Es wird Zeit zwischen den Beiträgen gelassen, damit sie nachklingen können und jeder das Gesagte auf sich wirken und es mehr in der Tiefe erfassen kann. Dadurch werden nicht nur das Verständnis und die tiefere Anteilnahme gefördert, sondern es unterstützt auch die Bildung eines geistigen Raumes.
Viele der Probleme in unserer Gesellschaft kommen daher, dass wir das, was zwischen uns ist, nicht klar erleben.
In diesem Zusammenhang nutze ich auch Inspirationswanderungen, bei denen die Teilnehmer in die Natur gehen, um eine Inspiration für eine schwierige Frage zu bekommen. Durch das Alleinsein in der Natur wird die innere Arbeit und Existenzialität vertieft. Es kann sein, dass danach jemand aus dem Leitungsteam eine vorher vehement gehaltene Meinung aufgibt oder sich als Mensch zeigt und zum Beispiel ein Gedicht vorliest. Oft sehen die Menschen bei so einer Zeit in der Natur auch ihren Anteil an der Problematik viel klarer. Wenn sie dann aus diesem Erlebnis mit der Natur wieder in das Gespräch kommen, ist die Bildung eines geistigen Raumes stärker spürbar, die Vitalität des gemeinsamen Raumes ist intensiver und ein Gefühl von Ewigkeit, das man in der Natur erfahren kann, wird auch im Gespräch miteinander spürbar.
e: Was verändert sich in einer Gruppe von Menschen, wenn sich solch ein geistiger Raum bildet?
DK: Zunächst einmal treten die beteiligten Individuen stärker in Erscheinung. Man sieht nicht nur das Alltagsselbst der Menschen, sondern kann auch ein höheres Selbst des Einzelnen wahrnehmen, wie es sozusagen durch den Menschen hindurchscheint. Im gemeinsamen Raum kann man dann eine größere Weite erfahren und eine menschliche Wärme, weil man sich einander näher erfährt. Oft ist es auch so, dass man das entsprechende Thema besser sehen und durchdringen kann. Und es kann auch sein, dass man ein tieferes Muster des Geschehens erkennt, tiefere Zusammenhänge und Koinzidenzen, die zu dieser momentanen Situation geführt haben und darin wirken.
Wenn man längere Zeit mit einem Gruppenbewusstsein arbeitet, kommt von den Beteiligten oft die Reaktion, dass sie nicht dachten, dass man so tief in die Organisation und jeden einzelnen Beteiligten blicken kann. Aus diesem Erkennen kann ein Flow entstehen und eine ganz neue Form der Zusammenarbeit. Durch solche Erfahrungen verändert sich aber auch die Verbindung zum sozialen Ganzen. Wir lernen, ganz neu mit sozialen Organismen zu leben, sie werden wesentlich, zeigen ihren Geist und sind nicht nur eine äußerliche Struktur.
e: Wie verändert sich dadurch unser Bezug auf das Soziale?
DK: Viele der Probleme in Unternehmen, aber eigentlich auch in unserer Gesellschaft und zwischen Nationen, kommen meines Erachtens daher, dass wir das, was zwischen uns ist, nicht klar erleben. Hier können wir unsere Wahrnehmung sozialer Räume vertiefen und schärfen. Gehen Sie zum Beispiel einmal in eine Bank, einen großen Lebensmitteldiscounter, ein Kinderkrankenhaus, auf eine Tankstelle oder in eine Großraumdisco. Dann spüren Sie vielleicht eine zarte Fürsorge im Krankenhaus oder die Direktheit und Energetik auf der Tankstelle. Diese Art zu beobachten macht bekannte Orte plastisch, schafft Tiefgang und Differenzierungen. Sie hinterlässt Eindrücke des Geistes, der hier wirkt. Orte, die wir bisher als Nutzräume erlebten, bekommen etwas Intimes, Bedeutsames und Beseeltes.
Dieses lebendige Sehen ist aber umso mehr bei sozialen Gruppen oder Organismen möglich, denn es sind Lebewesen, deren geistige Dimension wir wertschätzen und entwickeln können und die dadurch gewissermaßen einen spirituellen Weg gehen können. Dann sind es nicht nur lernende Organisationen, sondern sie können sich auch geistig entwickeln. Und wie wir uns als Einzelne eingebettet erfahren können in eine leibliche, seelische und geistige Evolution, so können auch Organisationen oder Gruppen in solch einer Einbettung lebendig werden, in der sich auch die Zukunftsmöglichkeiten oder Intentionen dieses bestimmten geistigen Raumes zeigen. Wir sollten in Zukunft wahrnehmen können, welchem Geist wir dienen!